Nächstes Kapitel im jahrelangen Rechtsstreit um den Gebäudekomplex in der Habersaathstraße 40–48: Der Bezirk Mitte und der Eigentümer stehen offenbar vor dem Abschluss eines Abriss-Kompromisses. Die Mieter:innen wurden nicht einbezogen.
Der Streit reicht vier Jahre zurück: Im Sommer 2018 beantragte der Eigentümer der Habersaathstraße 40–48 in Mitte den Abriss des 1984 errichteten Gebäudes mit seinen 106 Wohnungen. Seit mehr als zwei Jahren klagt er vor dem Verwaltungsgericht gegen die Versagung der Abrissgenehmigung, da der Bezirk eine umstrittene Mietobergrenze von 7,92 Euro für den Ersatzneubau verfügte. Fast ebenso lange ist ein Kompromiss im Gespräch, der den Rechtsstreit beenden soll. Die wenigen verbliebenen Mieter:innen wurden hierbei nicht einbezogen, ja vor Gericht nicht einmal angehört. Erst vor einigen Wochen erhielten sie Post vom Bezirksamt. Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) teilte ihnen mit, es zeichne sich folgender Kompromiss ab: Der Eigentümer Arcadia Estates darf das Gebäude abreißen und auf dem gleichen Grundstück neuen Wohnraum bauen. Den Mieter:innen werden zwei Angebote unterbreitet: Wer mag, kann nach Fertigstellung in eine neue und gleichartige Wohnung ziehen, zahlt für zehn Jahre dieselbe Miete wie zuvor und muss in dieser Zeit nur mit Mieterhöhungen in Höhe des Inflationsausgleichs rechnen. Alternative: Die Mieter:innen suchen sich eine andere Bleibe und erhalten eine Abfindung von 1.000 Euro je Quadratmeter.
Ein Luxusneubau soll entstehen
Der Bezirk argumentiert in seinem Infoschreiben, durch den Neubau entstünde „wesentlich mehr“ Wohnraum als bisher vorhanden ist. Fraglich ist, ob das zutrifft. Der Kompromiss sieht vor, 30 Prozent der Wohnungen zu einem Preis von 6,50 bis 8,50 Euro je Quadratmeter zu vermieten. Der Bezirk soll ein „Vorschlagsrecht“ für die Auswahl der Mieter:innen erhalten. Die Nachbarschaftsinitiative Habersaathstraße reagiert empört und fordert: „Der Bezirk muss dauerhaft Wohnraum zu bezahlbaren Mieten sicherstellen.“ Wir kritisieren den geplanten Deal ebenfalls scharf, denn die übrigen 70 Prozent der Wohnungen wären offenbar frei vermietbar. „Vor Beginn der jahrelangen Entmietungsstrategie zahlten die Mieter:innen eine Grundmiete, die teils unter 6,50 Euro lag. Daher müsste der Bezirk viel härter verhandeln und dem Investor abverlangen, dass zwei Drittel der Wohnungen mietpreisgebunden werden“, fordert unser stellvertretender BMV-Geschäftsführer Sebastian Bartels, der die Mieter:innen seit Beginn des Rechtsstreits begleitet. Zudem ist die Mietgrenze von 8,50 Euro angelehnt an die seit 2014 geltenden Berliner Förderbestimmungen und begünstigt nicht die kleinen, sondern mittlere Einkommensgruppen. Auch die vorgesehene Abfindung dürfte sich als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein erweisen: Bezahlbarer Wohnraum ist kaum zu finden; zudem wäre die Summe angesichts der kleinen Wohnungsgrundrisse alles andere als ein goldener Handschlag.
Ökologischer Offenbarungseid
Aber der Abriss wäre auch ein ökologischer Offenbarungseid. 2006 hatte der Berliner Senat den Plattenbau für zwei Millionen Euro an einen privaten Investor verkauft, der das Wohnhaus 2008 mit Wärmedämmung, neuen Fenstern und einer Photovoltaikanlage ausstattete. 2017 erwarb der aktuelle Eigentümer Arcadia Estates die Immobilie für mindestens 20 Millionen Euro – und vernachlässigt die Instandhaltung seitdem zunehmend. Mittlerweile kümmert sich die Hausgemeinschaft in Eigenregie um viele notwendige Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten. Unterstützung erhält sie von der Bezirksverordnetenversammlung Mitte, die das Bezirksamt im Januar aufforderte, sich für eine nachhaltige Sanierung und brandschutztechnische Ertüchtigung einzusetzen.
Warten auf die Räumungsklage
Arcadia Estates hatte den Mieter:innen im Sommer 2018 eine sogenannte Verwertungskündigung zugestellt. Die Begründung: Die notwendige Instandsetzung sei durch die Mieteinnahmen nicht angemessen finanzierbar. Dieser Grund trägt aus unserer Sicht nicht. Wir raten den Betroffenen, sich vor dem Amtsgericht gegen etwaige Räumungsklagen in der Zukunft zu verteidigen. Trotz guter Chancen wäre der Ausgang ungewiss. Durch eine gerichtliche Klärung könnte zumindest Zeit gewonnen und der Abriss weiter aufgeschoben werden.
Kein Raum für Obdachlose?
Ein Zeitgewinn – das könnte auch den rund 50 Menschen zugutekommen, die im Dezember vergangenen Jahres in das fast leere Haus eingezogen sind. Der Bezirk kündigte damals an, die Obdachlosen könnten zumindest bis zum möglichen Abriss in dem Objekt bleiben. Mietrechtlichen Schutz genießen sie nicht. Und so werden sie schon jetzt zum Spielball des Eigentümerinteresses. Die Hausverwaltung teilte der Mieterinitiative Ende April mit: „Wir wollen uns (…) für Ihren Einsatz bei der Obdachlosen-Winterhilfe bedanken und bitten Sie, alle Vorkehrungen für den zeitnahen Auszug zu treffen.“ Weiter heißt es: „Die geänderten Umstände in Europa“ würden es „gebieten“, stattdessen ein Angebot für Geflüchtete aus der Ukraine zu schaffen. Die Aktiven der Initiative „Leerstand Hab-ich-saath“ halten die vermeintliche Großzügigkeit für vorgeschoben und vermuten, dass sich mit den Geflüchteten schlicht mehr Geld verdienen lässt.
Unser Fazit: Solange Investor:innen mit Abrissanträgen solchen Druck auf die Bezirke ausüben können, werden die Betroffenen nur Randfiguren bleiben. Da den Vermieter:innen umstrittene Formulierungen im Zweckentfremdungsgesetz in die Hände spielen, muss das Gesetz dringend geschärft werden. Ein Abriss von Wohnraum darf nur noch ausnahmsweise genehmigt werden, beispielsweise bei technisch bedingter Baufälligkeit. Im Fall der Habersaathstraße wäre das sehr weit hergeholt.
19.05.2022