Wohnungsmangel herrscht vielerorts vor. Dabei stehen in deutschen Städten tausende Wohnungen leer, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht vermietet oder für eine Zwischennutzung verfügbar gemacht werden. Eine Initiative macht diesen Missstand sichtbar.
Ein Bild, das vielen aus den vergangenen zwei Jahren nur allzu bekannt ist: bunte Kacheln auf schwarzem Bildschirm. Im Videocall lächeln uns die Gesichter von Sarah, Kathrin, Coni, Christina, Sebastian und Benjamin entgegen und heißen uns freundlich willkommen. Wir sind eingeladen, an einem ihrer 14-tägig stattfindenden Arbeitstreffen für den Leerstandsmelder teilzunehmen – ein Hausbesuch der etwas anderen Art.
Die Gruppe Freiwilliger, die hier zusammenkommt, agiert bundesweit und ist mit zahlreichen Aktiven in vielen Groß- und Mittelstädten vernetzt. Mit ihren langjährigen Erfahrungen helfen sie beim Aufbau der Strukturen für weitere Leerstandsmelder. Ihr Online-Portal unter Leerstandsmelder.de ist ein niedrigschwelliges Angebot, um Wohnungsleerstand bundesweit zu erfassen und für jeden sichtbar zu machen. Die Crowdsourcing-Lösung lebt davon, dass viele Aktive sich beteiligen und selbstständig Leerstand eintragen. In unserem Call sind Aktive aus Berlin, Hamburg und Dresden dabei.
Alles begann in Hamburg
Ihren Anfang nahm die Initiative in Hamburg. Im Kampf um das historische Gängeviertel im Stadtkern der Hansestadt wollte die Initiative „Komm in die Gänge“ auf den Leerstand hinweisen, der das Viertel prägte. Ein privater Investor hatte im Zuge der Privatisierung einen Großteil der denkmalgeschützten Häuser erworben. Die Bewohner:innen und ansässigen Künstler:innen besetzten die leer stehenden Räume und brachten den Skandal um den Leerstand erstmals mit einer Crowdsourcing-Lösung im Internet ins öffentliche Bewusstsein. „Leerstand ist Stillstand, denn es ging und geht nicht nur um den Erhalt von bezahlbarem Wohnraum, sondern auch um die Nutzung von Zwischenräumen für die unterschiedlichen Bedarfe der Stadtgesellschaft“, erklärt uns Sarah beim virtuellen Treffen am Mittwochabend. „Es handelt sich schlicht um Verschwendung von Ressourcen, von Räumen, die in vielen Städten dringend gebraucht werden.“ Für Mieter:innen ist Leerstand zudem ein Warnsignal: „Obacht, hier ist etwas in Planung”, fügt Coni hinzu, die auch im Berliner Netzwerk #200Häuser aktiv ist.
In Hamburg herrschte bereits in der ersten Dekade der 2000er-Jahre Wohnraummangel – anders als in Berlin, wo das prognostizierte Bevölkerungswachstum und damit die Knappheit verzögert eintraten. Als sich Wohnraumknappheit und Mietenwahnsinn schließlich auch in der Hauptstadt abzeichneten, war der Hamburger Initiative unter dem Trägerverein Gängeviertel e.V. schnell klar, dass das Crowdsourcing zum Thema Leerstand ausgeweitet werden sollte. Über die bundesweite „Recht auf Stadt“-Bewegung konnten sie Aktive finden, die ihre Idee der Dokumentation von Leerstand in weitere Städte brachten.
Ein vielfältiges Team aus Ehrenamtlichen
Vor etwa drei Jahren beschlossen die Aktiven aus Hamburg, die Initiative in neue Hände zu legen. Zunächst übernahmen die beiden Berliner Leerstands-Aktivistinnen Christina und Kathrin als Zweierteam. Sie brachten neuen Schwung in das Projekt – und verhalfen ihm so insgesamt wieder zu mehr Bedeutung. Heute kümmert sich ein vielfältiges Team aus Ehrenamtler:innen um all die Aufgaben, die regelmäßig rund um den Leerstandsmelder anfallen: von Datenbankpflege, über Kuration und Programmierung bis hin zum Datenschutz. Gemeinsam mit anderen Mieter:innen, Kulturschaffenden, Stadtgeograph:innen und Softwarespezialist:innen will die Gruppe Verbesserungen vorantreiben und auch städteübergreifend agieren. Etwa 8.000 mehr oder weniger aktive User verzeichnet die Seite Leerstandsmelder.de. „Bis heute gibt es etwa 30 weitere Gruppen, die in ihrer Region einen Leerstandsmelder etabliert haben“, erklärt Benjamin aus Hamburg.
Die Wohnungspolitik begegnet dem Leerstand nicht
„Der Leerstandsmelder ist für mich als Mieterin ein konstruktives Tool, um Missstände im Wohnungsmarkt aufzudecken. Wir müssen erfassen, wie groß das Problem in Berlin tatsächlich ist“, sagt Kathrin. Sie sieht sich als Mietaktivistin und hat in der Leerstandsinitiative eine Möglichkeit gefunden, sich zu engagieren. Die Berliner Wohnraumkrise bewegt viele, Leerstand ist dabei einer der Missstände, den die meisten Berliner:innen nicht nachvollziehen können: Tausende Wohnungen fehlen, die Politik hält das Mantra „Bauen, bauen, bauen“ hoch, und zugleich stehen viele Wohnungen leer. Weil es für viele Eigentümer:innen lukrativer ist, auf Neubau zu setzen. Weil umfassende Modernisierungen zu hohen Neuvermietungsmieten führen sollen. Weil Fristen für Umwandlungen in Milieuschutzgebieten und anschließendem Verkauf der Einzelwohnungen abgewartet werden.
Die Gründe sind vielfältig, das Ziel ist stets dasselbe: Höhere Gewinne und Renditen. Eigentümer:innen umgehen damit in Berlin beispielsweise das Zweckentfremdungsverbot-Gesetz. Bezirkspolitik und -verwaltung sind oft machtlos, die notwendigen Rechtsverfahren zur Anwendung der Zweckentfremdungsverbotsverordnung sind langwierig und risikobehaftet. Die Leerstandsmelder-Gruppe ist sich einig: „Es fehlt der politische Wille.“ In Deutschland lohne es sich, Wohnungen unvermietet zu lassen. Ein Blick auf zwei Nachbarländer zeigt, dass es auch anders geht: In Frankreich zum Beispiel wird Leerstand besteuert, in den Niederlanden durften leerstehende Häuser bis zum Jahr 2010 sogar legal besetzt werden.
Um politisch etwas bewegen zu können, wünscht sich die Kerngruppe der Initiative Verstärkung – und noch mehr Aufmerksamkeit für die Möglichkeit, die ihre Internetseite bietet: Leerstand datenschutzkonform und jenseits von Google und Co. zu erfassen und für alle sichtbar zu machen. Dafür planen sie auch ein Fundraising. „Programmieren geht nicht mal einfach so nebenbei, das ist ein Vollzeitjob“, stellt Sebastian, der Softwareexperte im Team, fest. Die Gruppe will ihn daher fest anstellen, damit die Internetseite und ein separates Statistiktool vorankommen. Denn eins ist ihnen klar: Hamburg und Berlin sind keine Einzelfälle. Die Entwicklungen in den Metropolen sind auch für kleinere Städte ein Blick in die Zukunft – und auf die wohnungspolitischen Probleme von morgen.
In Ihrer Nachbarschaft gibt es Wohnungen, die seit mehr als drei Monaten leer stehen? Helfen Sie mit und registrieren Sie den Leerstand über das Online-Portal!
https://www.leerstandsmelder.de/
Sie wollen aktiv in der Gruppe mitarbeiten? Melden Sie sich bei berlin@leerstandsmelder.de
19.05.2022