Die Stadt kauft das Fernwärmenetz von Vattenfall zurück – und entwickelt bereits neue Standorte für die CO2-arme Wärmeerzeugung. Aber wie ist es in Berlin um die nötige Infrastruktur bestellt? Und vermag der Senat, Verbraucher:innen vor Preisexplosionen zu schützen? Ein Überblick über Chancen und Herausforderungen.
Energiedreieck Ruhleben in Spandau
„Auf dem Markt gab es so etwas noch nicht“, „Vorbildcharakter für das ganze Land“ und „Jetzt geht es richtig los mit der Wärmewende“ – in den höchsten Töne lobten Politik- und Energiewirtschaftsvertreter:innen das „Energiedreieck“ in Spandau bei der Grundsteinlegung Mitte März. Auf dem Gelände des Kohle- und Gaskraftwerks Reuter West errichtet die bald landeseigene Berliner Fernwärme-Sparte von Vattenfall für 200 Millionen Euro eine Großwärmepumpe. Diese nutzt Strom und Wärme aus einer Müllverbrennungsanlage der BSR, um warmes Wasser aus einem Klärwerk der Berliner Wasserbetriebe auf die benötigte Lieferungstemperatur für Haushalte zu erhitzen. Obwohl die Müllverbrennung zunächst nicht besonders CO2-arm erscheint, ist laut BSR der Müll weder vermeidbar noch anders verwertbar. Als Brennstoff sichert er das ganze Jahr über die Grundlastfähigkeit – die Wärmeerzeugung ist also nicht vom Wetter abhängig und somit nicht auf Gaskraftwerke als Reserve für den Winter angewiesen.
Weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten
„Damit dekarbonisieren wir auf einen Schlag 80.000 Haushalte“, sagt Vattenfall-Wärme-Chef Christian Feuerherd über die Leistung der neuen Wärmepumpe. Er spricht einen der größten Vorteile dieser Art der Wärmeversorgung an: Zentrale Entscheidungen über die Wärmegewinnung an einem Standort bestimmen die Energiequelle für die Wärme tausender Haushalte. Dadurch entfällt die Notwendigkeit, für jedes einzelne Haus Investitionen zu tätigen, um den Wärmesektor klimafreundlicher zu gestalten. Heizen, Klimatisieren und Warmwassernutzung sind laut Senat immerhin für fast die Hälfte der CO2-Emissionen in Berlin verantwortlich.
Zentrale Versorgung
Die Funktionsweise von Fernwärme bietet vielseitige Möglichkeiten: Zentrale Heizkraftwerke erhitzen Wasser und erzeugen meist auch Strom. Dazu nutzen sie oft noch fossile Energieträger wie Gas und Kohle, aber auch zunehmend nachhaltige Methoden wie Geo- und Solarthermie oder Abwärme aus Industrieprozessen und Rechenzentren. Wärmegedämmte, meist unterirdische Leitungen transportieren das erhitzte Wasser in die Gebäude und Wohnungen der Endverbrauchenden. Üblicherweise überträgt ein sogenannter Wärmetauscher die thermische Energie des Fernwärme-Kreislaufs auf den lokalen Heizwasserkreislauf im Haus, wobei Großabnehmer teilweise direkt an den Kreislauf angeschlossen sind. Um Wärmeverluste zu minimieren, sollten Erzeuger und Abnehmer nicht zu weit voneinander entfernt sein. Es ist zudem effizienter, ganze Quartiere gemeinsam an das Netz anzuschließen.
Das größte Fernwärmenetz Europas
Die Idee, ohnehin entstehende Abwärme zu nutzen oder mit zentralen Heizkraftwerken ganze Viertel mit Wärme zu versorgen, ist keineswegs neu: Schon vor hundert Jahren entstanden in Deutschland die ersten europäischen Fernwärmenetze. Heute verfügt Berlin mit einer Länge von 2.000 Kilometern über das größte Fernwärmenetz Westeuropas. Zwölf große Heizkraftwerke und über 1.000 dezentrale Blockheizkraftwerke erzeugen Strom und Wärme und versorgen nach Angaben von Vattenfall rund 1,4 Millionen Wohneinheiten mit Fernwärme.
In der DDR-Zeit erlebte diese Technologie einen besonderen Aufschwung, allerdings weniger aus Weitsicht hinsichtlich einer Dekarbonisierung als vielmehr aufgrund von Ressourcenknappheit: Gas war wenig verfügbar, und als Energieträger diente meist Braunkohle. Die konnte jedoch nur in größeren Kraftwerken verfeuert werden, was die Nutzung von Fernwärme begünstigte. Laut Daten der Deutschen Energie-Agentur (dena) sind in ganz Ostdeutschland heute 32 Prozent der Haushalte an das Fernwärmenetz angeschlossen, im Westen dagegen nur zehn Prozent. Dadurch sind die ehemaligen DDR-Bundesländer besser auf die Wärmewende und die Vorgaben des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) gewappnet.
Kein übertragbares Schema für Dekarbonisierung
Für eine erfolgreiche Wärmewende ist es notwendig, die Wärmeerzeugung in den Kraftwerken zu dekarbonisieren. Nach Angaben der Senatsverwaltung für Verkehr, Umwelt und Klimaschutz wird Wärme in Berlin noch zu über 90 Prozent durch fossile Energieträger wie Erdgas, Kohle oder Öl produziert. Doch nicht an jedem Standort sind die Bedingungen für die Umstellung auf erneuerbare und CO2-neutrale Wärmequellen gleich. Die Möglichkeiten hängen vor allem von den verfügbaren Wärmequellen, der durch sie erreichbaren Wassertemperatur sowie dem energetischen Zustand der zu versorgenden Häuser ab:
Verbrennung
Das Kraftwerk Reuter West erhitzt zwischen 13 und 27 Grad Celsius warmes Wasser mittels Strom aus der benachbarten Müllverbrennungsanlage auf 95 Grad. Mit dieser Temperatur wird es in das Fernwärmenetz eingespeist. Den größten Anteil der Wärmeerzeugung in Berlin machen sogenannte Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK-Kraftwerke) aus, die durch die Verbrennung von Erdgas oder Kohle gleichzeitig Wärme und Strom erzeugen. Diese Kraftwerke können bis zu 90 Prozent der Energie aus den Brennstoffen nutzen, allerdings resultiert daraus auch ein hoher CO2-Ausstoß.
Geothermie
Alle 100 Meter, die man sich dem Erdkern nähert, steigt die Temperatur um drei Grad an. Mit tiefer Geothermie wird bis zu 100 Grad heißes Grundwasser aus mehreren Kilometern tiefliegenden Gesteinsschichten an die Oberfläche gepumpt und kaltes Wasser wieder nach unten geleitet. Das erste deutsche Erdwärmekraftwerk im Megawattbereich entstand 1984 in der DDR und liefert heute noch Wärme. Im Westen musste die Technologie mit billigem Gas konkurrieren. Jetzt zeigt sich das Potenzial der klimafreundlichen Wärme aus der Tiefe: Eine im vergangenen Jahr fertiggestellte, über zwei Kilometer tiefe Bohrung versorgt in Potsdam mehrere tausend Haushalte mit Wärme. Das grundlastgeeignete und nahezu emissionsfreie Verfahren eignet sich jedoch nur an Standorten mit der richtigen Beschaffenheit des Untergrunds und seiner Gesteinsschichten. Um die Potenziale zu erfassen, will der Berliner Senat in den kommenden Jahren den Untergrund per 3D-Seismik erfassen und in Kooperation mit kommunalen und privaten Energieversorgungsunternehmen bis 2028 insgesamt zwölf Bohrungen realisieren.
Abwärme
Abwärme gewinnt zunehmend an Bedeutung als CO2-neutrale Möglichkeit der Wärmegewinnung, beispielsweise aus Industrieanlagen, U-Bahn-Schächten oder Rechenzentren. Letztere sind von wachsender Bedeutung, da Rechenzentren rund ein Viertel ihres Strombedarfs für die mechanische Kühlung der Server aufwenden. Der Digitalverband Bitkom errechnete jüngst, dass die Abwärme aus deutschen Rechenzentren theoretisch bis zu 350.000 Wohnungen versorgen könnte. Erfolgt die Wärmeabnahme in unmittelbarer Umgebung, ist keine Wärmepumpe mit zusätzlichem Stromverbrauch notwendig. Anders bei der Einspeisung ins reguläre Wärmenetz: Hierbei sind die mit Abwärme aus Rechenzentren erreichbaren Wassertemperaturen meist zu niedrig.
Vierte Generation der Fernwärme
Effizienter könnte die Server-Wärme in sogenannte Niedertemperaturnetze eingespeist werden, die zur „Vierten Generation“ der Fernwärme gehören. Diese Netze verwenden Temperaturen von deutlich unter 100 Grad sowohl zum Heizen als auch zum Kühlen. Niedertemperaturnetze sind jedoch nicht für Gebäude geeignet, die energetisch in schlechtem Zustand sind oder nicht über die erforderlichen Heizsysteme verfügen. Um auch mit etwa 60 Grad warmem Wasser heizen zu können, muss eine gute Dämmung, sowie eine großflächige Boden-, Wand- oder Deckenheizung installiert sein. Auch die Nutzung oberflächennaher Geothermie bis zu einer Tiefe von 400 Metern, welche meist bei Ein- oder Zweifamilienhäusern zum Einsatz kommt, erfordert solche Heizsysteme.
Politische Kontrolle
Der Kauf des Fernwärmenetzes von Vattenfall zum Preis von 1,6 Millarden Euro verschafft dem Senat neue Gestaltungsmöglichkeiten, verpflichtet die Stadt jedoch auch, ihre Verantwortung gegenüber den Abnehmer:innen ernst zu nehmen. Denn die Fernwärme hat eine zentrale Besonderheit: Ist eine Wohnung an das Netz angeschlossen, können Mieter:innen nicht einfach den Anbieter wechseln. Die Anbieter haben ein Monopol bei der Versorgung des entsprechenden Hauses. Im Unterschied zu Gas oder Strom besteht für Fernwärmeanbieter keine Pflicht, über Preisänderungen zu informieren – Verbraucher:innen erfahren also erst durch die Abrechnung von veränderten Kosten.
Insbesondere in den vergangenen Jahren haben die Preisexplosionen viele Menschen schockiert, als sie die Nachforderungen mit Heizkostenabrechnungen erhalten haben. Angesichts der zunehmenden Anbindung von Gebäuden an das Fernwärmenetz sehen Verbraucherzentralen und Mietervereine die Notwendigkeit, den Verbraucherschutz zu stärken. Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen schützen Bezieher:innen von Fernwärme nicht ausreichend vor plötzlichen Preisentwicklungen – und die Verbraucher:innen haben keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Immerhin hat die Bundesregierung angekündigt, die Fernwärme-Verordnung (AVB Fernwärme V) noch in diesem Jahr reformieren zu wollen.
Mit der Übernahme des Fernwärmenetzes von Vattenfall gewinnt die öffentliche Hand in Berlin wieder Entscheidungshoheit über den Fernwärmemarkt. Ob der Senat die Verbraucher:innen am Ende wirklich vor weiteren bösen Überraschungen bewahren wird und kann, denn immerhin muss er schätzungsweise weitere 1,6 Milliarden in die Erneuerung der Netze investieren. Die Antwort auf diese Frage hängt nicht nur vom Bundesgesetzgeber, sondern auch von weiteren Faktoren ab. Dabei spielen Unabhängigkeit von politischen Mehrheiten bzw. Legislaturperioden, Partizipation beispielsweise eines zivilgesellschaftlichen Fernwärme-Rates und die Entscheidung für eine gemeinwirtschaftlich wirkende Geschäftsform eine Rolle.
Ein Beitrag von Moritz Lang
19.04.2024