Als selbstverständliche Institution wahrgenommen zu werden, bringt große Verantwortung mit sich. Seit 135 Jahren gibt der Berliner Mieterverein Mieter:innen eine Stimme und politisches Gewicht. Selten waren Zusammenhalt, Unterstützung und Beratung so wichtig wie heute. Was wir leisten (können) und was nicht.
Zu Beginn eine persönliche Anekdote. Von 2016 bis 2018 war ich Sprecherin einer Mieter:inneninitiative. Rund 150 Mietparteien der Mieter:innengemeinschaft, in der ich noch heute wohne, schlossen sich damals zusammen und nahmen den Kampf für eine sozial gerechte Modernisierung der Siedlung auf. Die angekündigten Mietsteigerungen schnürten vielen Nachbar:innen schon im Vorfeld die Luft ab. Zusammen konnten wir viel erreichen. Dabei ging es nicht nur um den gemeinsamen Protest, zentral war auch die Nachbarschaftshilfe. Meine Nachbarin Frau Lohmann, seit 1930 wohnhaft in der Siedlung und heute 90 Jahre alt, versorgte uns regelmäßig mit Rechtsinformationen ihrer Mietrechtsanwältin – eine der Jurist:innen im Berliner Mieterverein. Viel später fragte ich Frau Lohmann, wie lange sie eigentlich schon Mitglied im Mieterverein sei. Sie antwortete, dass sie selbstverständlich mit ihrem Eintritt ins Berufsleben und dem Einzug in ihre erste eigene Wohnung Mitglied im Mieterverein geworden sei. Ihre Eltern hätten ihr stets gesagt: „Im Mieterverein ist man einfach.“
Seit 2017 arbeite ich hauptamtlich für den BMV. Der Überzeugung von Frau Lohmann bin ich seitdem immer wieder begegnet – allerdings stets von Senior:innen. In letzter Zeit hören wir sie endlich auch wieder von jüngeren Mieter:innen. Sie wünschen sich, dass der Mieterverein der Berliner Mietenbewegung ein Dach gibt und zumindest teilweise gewerkschaftliche Funktionen übernimmt, so wie zu seinen Gründungszeiten.
Ein gemeinsames Ziel
Vor 135 Jahren haben sich Berliner Mieter:innen im ersten „Verein für Wohnungsmiether in Groß Berlin“ zusammengeschlossen, um sich in Wohnungsnotlagen und Wohnungskrisen gegenseitig zu helfen und gemeinsam mieten- und wohnungspolitisch ein Gewicht zu haben. Seitdem ist unser Verein auf mehr als 190.000 Mitglieder gewachsen.
Gleich geblieben ist unser Selbstverständnis: Wir sind Teil der Mietenbewegung. Demokratie und Mitbestimmung liegen dem Vereinswesen zugrunde. Diese Prinzipien verpflichten uns, unsere Satzung, das Leitbild und unsere Arbeitsstrukturen immer wieder neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Werten anzupassen.
Hilfe zur Selbsthilfe ist unser zentraler Ansatz im Verein. Zugleich ist es unser Ziel, ein Schwergewicht in der Mietenpolitik zu sein und zu bleiben. Das schaffen wir nur gemeinsam. Wir haben viel Expertise, Organisationsvermögen und einiges an politischem Gewicht. Die verändernde Kraft kommt jedoch von uns allen. „Wir“, das sind alle Mitglieder unseres Vereins, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Alter, ihrer politischen Einstellung. Wir verfolgen dasselbe Ziel: menschenwürdiges und bezahlbares Wohnen. Dabei sind wir solidarisch: Wir unterstützen die anderen Mietenden auf Basis von moderaten Mitgliedsbeiträgen, die jede:r mitträgt, wie er oder sie kann. Als politische Interessenvertretung streiten wir für alle Mieter:innen – in Berlin und bundesweit.
Veränderungen und Herausforderungen
In den vergangenen 15 Jahren ist die Anzahl der Mitgliedshaushalte stark gestiegen. Das ist auch eine Folge der sich stetig verschärfenden Lage am Berliner Wohnungsmarkt und der rasanten Mietsteigerungen. Viel zu oft überfordern Vermietende ihre Mieter:innen und sind ausschließlich auf ihre Rendite bedacht. Das führt zu erheblicher Verunsicherung und einem erhöhten Beratungsbedarf, der bisweilen auch unsere Mitarbeitenden an ihre Belastungsgrenzen bringt.
Die Digitalisierung hat uns neue Möglichkeiten der Vernetzung geschaffen und für kurze Wege gesorgt. So können wir Informations- und Kontaktnetze noch enger knüpfen, Hintergründe liefern, Ratsuchende mit Hilfsangeboten verbinden. Zugleich beschleunigt die Digitalisierung die Kommunikation und erhöht die Erwartung, möglichst sofort Antworten zu erhalten – das ist in der Praxis nicht immer möglich. Wir grenzen uns ab von Rechtsberatung zum Schnelltarif und legen das Augenmerk auf die solide Beratung für unsere Vereinsmitglieder.
Rund 100 hauptamtliche Mitarbeiter:innen, 80 Vertragsanwält:innen und zahlreiche ehrenamtliche Kolleg:innen setzen sich tagtäglich dafür ein, Berliner Mieter:innen zu beraten, sie zu begleiten und ihnen Instrumente an die Hand zu geben, um sich gegen unberechtigte Forderungen ihrer Vermieter:innen zu wehren – informiert, kritisch, selbstbewusst. Dafür bieten wir eine breite Palette an Möglichkeiten, die über die individuelle Rechtsberatung sowie den Schriftverkehr mit Vermietenden hinausgehen. Unsere politische Öffentlichkeitsarbeit unterstützt Initiativen, Hausgemeinschaften sowie einzelne Betroffene und schafft Reichweite für wichtige wohnungspolitische Forderungen. In diesem Feld wollen wir verstärkt auch wieder unsere Diskussionsforen anbieten, die wir in Pandemiezeiten zum Teil aussetzen mussten.
Es geht um viel: Die Ermächtigung der Berliner Mieter:innen, sich selbst und gegenseitig zu helfen und sich in den Nachbarschaften und Kiezen zu organisieren. Gerade jetzt müssen wir mit allen Berliner Mieter:innen wieder auf die Straße – Berliner Mieter:innen vereint!
Eine Position von Franziska Schulte
20.09.2023