In Pankow laufen die Sozialbindungen für geförderte Wohnungen in den Sanierungsgebieten der 1990er Jahre aus. Es geht um rund 3.600 Wohneinheiten im Bezirk. In der Lychener Straße 50 endete die Mietpreisbindung zum 31. Januar 2023. Jetzt sorgt sich die Hausgemeinschaft um Mietsprünge und Eigenbedarfskündigungen. Um ihr Zuhause zu sichern, werden die Mieter:innen aktiv. Ein Hausbesuch.
Es ist der erste Sonntagnachmittag im Februar, nach vielen grauen Tagen scheint endlich wieder die Sonne. Darüber freuen sich auch die Mieter:innen der Lychener Straße 50, die um 15 Uhr zum „W/Mut-Austausch“ vor ihrem Haus einladen. Von jetzt an wollen sie an jedem ersten Sonntag im Monat betroffene Mieter:innen zusammenbringen, deren Mietwohnungen aus den sogenannten Sozialbindungen fallen und gemeinsam aktiv werden. Als ich vor dem Haus ankomme, tischen einige Bewohner:innen gerade belegte Brötchen und frisch gebrühten Tee auf – denn es ist ein sonniger, aber eisiger Tag. Ihr Treffen soll trotzdem zumindest ein bisschen den Charme eines gemeinsamen Picknicks haben. Vor dem Tisch mit den Brötchen steht ein großer Karton, auf den ein paar der Hausbewohner:innen liebevoll das Haus mit Spruchtransparenten gemalt haben, dazu Infos zur Geschichte. Am realen Haus in der Lychener Straße hängen keine Transparente von den Balkonen. Unterstützung erhalten die Mieter:innen schon seit einiger Zeit von den aktiven Nachbar:innen des Kieztreffens Pankow. Sie waren es auch, die erstmals auf die tausenden Wohnungen mit auslaufenden Bindungen im Bezirk aufmerksam machten, alle betroffenen Häuser recherchierten und in einer Karte markierten. „Das sind alles Häuser hier in Pankow, die seit 2017 aus den Sozialbindungen gefallen sind oder in diesem und den nächsten Jahren noch fallen werden“, erklärt mir Carola. Sie ist eine der Bewohner:innen der Lychener Straße 50 und hat mich zu dem Treffen eingeladen. Auch ein Fernsehteam vom RBB ist vor Ort.
Mieterschutz ade: Viele Sozialbindungen laufen aus
Sanierungsgebiete sind Stadtbereiche, die Mängel im Bereich der Wohn- und Arbeitsstätten und der Funktionsfähigkeit gemäß § 136 Baugesetzbuch aufweisen. Nach der Wiedervereinigung beschloss der Senat das erste Gesamtberliner Stadterneuerungsprogramm. Schwerpunkt waren die Gründerzeitquartiere im Ostteil der Stadt in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die 9. bis 11. Rechtsverordnungen wiesen insgesamt 22 Sanierungsgebiete aus.
Für die Sanierung der vielen baufälligen Altbauten vergab das Land Berlin in den 1990er Jahren über die Investitionsbank Berlin (IBB) zinsgünstige Darlehen und Zuschüsse. Grundlage waren Förderverträge zwischen den Eigentümer:innen und der IBB. Die Verträge enthielten für den Zeitraum der Sozialbindung Regelungen zum Schutz der Mieter:innen, zum Beispiel den Schutz vor Eigenbedarfskündigungen. Diese Sozialbindungen galten je nach Förderumfang für 20 bis 30 Jahre.
Das Ende des Mieterpreisschutzes für 3.600 Haushalte
In Pankow laufen zurzeit die Sozialbindungen aus. Betroffen sind rund 3.600 Haushalte, allein in diesem Jahr um die 2.000. Die Frist für die Lychener Straße 50 ist am 31. Januar 2023 verstrichen. Für die Mieter:innen bringt das in vielen Fällen sofortige Mietsprünge mit sich. Der Grund dafür liegt in der Ausgestaltung des Mieter:innenschutzes im Rahmen der Förderverträge: Während der Laufzeit zahlen die Mieter:innen nur die festgesetzte Sozialmiete. Mietsteigerungen gab es dennoch, denn die Eigentümer:innen orientieren sich meist regulär am Mietspiegel. Während der Förderung übernahm die IBB die Differenz. Mit Ablauf der Bindungszeit entfällt diese Unterstützung von heute auf morgen. Dabei ist es völlig egal, ob die Mieter:innen nach wie vor WBS-berechtigt sind oder nicht.
„Ich habe während der Bindungszeit 5,15 Euro pro Quadratmeter kalt bezahlt“, sagt Carola. „Jetzt sind es 7,49 Euro und damit insgesamt knapp 36 Prozent mehr. Der ständig steigende Mietspiegel ist ein Problem. Viele von uns rechnen sich aus, wie lange sie noch mithalten können, wenn jetzt alle drei Jahre eine Steigerung von 15 Prozent nach Mietspiegel erfolgen darf. Unsere Löhne wachsen nicht mit.“ Bei kleineren Wohnungen mit moderner Ausstattung ergibt sich für Nachbar:innen sogar eine Erhöhung von rund 40 Prozent. Was fehlt, sind Anschlussförderungen.
Die Wände der Wohnung fühlen sich plötzlich gläsern an
Doch die Mietsteigerungen sind für Carola und ihre Hausgemeinschaft nicht das einzige Problem. Durch den Auslauf der Bindung sind sie ab sofort nicht mehr vor Eigenbedarfskündigungen geschützt. In dem Haus leben zwischen 70 und 80 Personen in rund 30 Miet- und vier bis fünf Eigentumswohnungen. Einige von ihnen wurden bereits aus anderen Kiezen verdrängt und bekamen über die Belegungsrechte des Bezirks hier eine neue Wohnung. Jetzt leiden sie erneut unter dem Verdrängungsdruck. „Wir gehen davon aus, dass in unserem Haus alle Wohnungen bereits zum Zeitpunkt der Sanierungen umgewandelt und als Eigentumswohnungen verkauft wurden“, sagt Carola. „Wir haben dadurch alle unterschiedliche Vermieter:innen.“
Der Eigentümer ihrer Wohnung kündigte schon vorab Besichtigungen von Makler:innen und potenziellen Käufer:innen an. „Die Wände der Wohnung fühlen sich plötzlich gläsern an, wenn fremde Leute hereinkommen dürfen und du dich damit konfrontiert siehst, dass mit der Wohnung gerade spekuliert wird“, fügt sie hinzu.
Handlungsspielräume durch Vernetzung schaffen
Doch Carola schöpfte Kraft aus dem zunehmenden Kontakt mit ihren Nachbar:innen. Durch die anstehenden Besichtigungen suchte sie vermehrt das Gespräch und klopfte an Türen. „Als herauskam, dass wir alle mehr oder weniger das Gleiche durchmachen, haben wir begonnen, uns zu vernetzen. Es ist ein unheimlicher Mehrwert, Informationen auszutauschen und sich gegenseitig den Rücken zu stärken. Daher organisieren wir heute auch diese Veranstaltung.“ Carolas Hoffnung ist, die Mieter:innen anderer betroffener Häuser zu erreichen und gemeinsam laut zu werden.
Unterstützt vom Kieztreffen Pankow zeigte Carola auch bei den Besichtigungsterminen von Makler:innen in ihrer Wohnung Flagge. Gemeinsam mit anderen versammelte sie sich bei den Begehungen in der Wohnung und signalisierte, dass sie eine Mieterin ist, die ihre Rechte kennt und für die sie einsteht. Seitdem hat Carola nichts mehr von ihrem Vermieter gehört.
Oft ist Mieter:innen gar nicht klar, dass Eigenbedarf drohen könnte
Ein Problem sieht die Hausgemeinschaft auch darin, dass viele Mieter:innen viel zu spät Hilfe suchen, weil ihnen die Gefahr einer Eigenbedarfskündigung gar nicht bewusst ist. Das wird sogar unmittelbar bei dem Treffen erkennbar, als ein Passant mit seinem Fahrrad hält und sich erkundigt, warum wir hier stehen. Mit Carola spricht er über den Berliner Wohnungsmarkt und berichtet, dass auch er in einer bereits umgewandelten Wohnung wohnt. Dass er auch in einem Milieuschutzgebiet nach 12 Jahren eine Eigenbedarfskündigung erhalten kann, war ihm bis zu diesem Moment nicht bewusst. „Aber kann man denn nichts machen?“, fragt er und schiebt hinterher, dass sein Eigentümer wohl kaum selbst dort einziehen werde.
Eigenbedarf vorzugeben ist ein Problem in Berlin – und für Mieter:innen nur schwer nachzuweisen. Die Fristen für den Eigenbedarf sind zudem oft unterschiedlich. „Es ist deshalb total wichtig, frühzeitig mit einem Grundbuchauszug die Frage zu klären, ob die Wohnung schon umgewandelt ist“, empfiehlt Carola. Betroffene müssen jedoch oft ohne Garantie auf Erfolg vor Gericht ziehen. „Mieter:innen sollten sich unbedingt rechtzeitig um einen Rechtsschutz kümmern, um in einem möglichen Fall mehr Spielraum zu haben“, rät Carola dem Passanten. Dieser erwidert, dass er bereits im Mieterverein ist, tauscht dann aber auch noch die E-Mail-Adresse mit dem Kieztreffen Pankow aus, um in den Verteiler aufgenommen zu werden, denn: „Vernetzung kann nie schaden.“
Das Ziel ist, Bewegung in die Politik und in die Nachbarschaft zu bringen
Der Hausgemeinschaft in der Lychener Straße ist bewusst, dass sie rechtlich nicht gegen das Auslaufen der Bindungen vorgehen kann. Doch Lösungen schweben ihnen vor, wie Rekommunalisierung, die Durchsetzung dauerhafter Sozialbindungen oder eine Kostenmiete. „Wir können außerdem auf die Folgen aufmerksam machen und zeigen, dass wir für unser Zuhause einstehen. Der Zusammenhalt mindert sicherlich auch den Wert der Immobilie, denn engagierte Mieter:innen haben eben immer eine abschreckende Wirkung“, sagt Carola.
Carola engagiert sich beim Kieztreffen Pankow. „Das Kieztreffen bietet eine offene Hausgemeinschaftsberatung, die uns sehr geholfen hat“, sagt sie. Den Mieter:innen der Lychener Straße 50 schwebt nun vor, gemeinsam mit Nachbar:innen der anderen betroffenen Häuser eine Strategie zu entwickeln, um sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Carola weiß, dass der Start oft schwer ist. Daher hat sie mit anderen Aktiven als Starthilfe eine einfache Anleitung zur Bildung einer Hausgemeinschaft verfasst. „Eine solche staatlich geförderte Verdrängung ist ein Skandal. Dagegen wollen wir uns wehren und eine solidarische Nachbarschaft aufbauen, die bei jeder Eigenbedarfskündigung zusammenkommt und Verdrängung verhindert. Es geht um den ganzen Kiez und die ganze Nachbarschaft. Wir wollen bleiben und wir wollen, dass alle bleiben können, ob Sozialbindung oder nicht. Alle, die das auch wollen und sich sorgen, wie lange sie hier noch wohnen können, sollten sich uns anschließen. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir ernst genommen werden und unser Zuhause wieder sicher wird!“
Vera Colditz hat den W/Mut-Austausch der Mieter:innengruppe Lychener Straße 50 besucht.
Wohnen Sie selbst in einem Haus in Pankow mit auslaufenden Sozialbindungen?
Dann freut sich die Mieter:innengruppe Lychener Straße 50 sehr, wenn Sie sich am ersten Sonntag im Monat dem W/Mut-Austausch vor der Haustür anschließen oder zur monatlichen Zusammenkunft des Kieztreffen Pankow am letzten Donnerstag im Monat kommen. Das nächste Kieztreffen findet am Donnerstag, dem 23. Februar 2023 um 18 Uhr im Platzhaus des Teutoburger Platzes (nah am Spielplatz) statt.
Mehr Infos finden Sie auf der Homepage der Mieter:innengemeinschaft.
16.02.2023