Die Finanzmärkte befeuern die Wohnungskrise in Deutschland. Das zeigt eine aktuelle Studie von Finanzwende Recherche, die die Geschäftspraktiken finanzialisierter Wohnungsunternehmen und ihre Auswirkungen auf den Mietmarkt analysiert.
Finanzwende Recherche ist eine gemeinnützige Tochtergesellschaft der Bürger:inneninitiative Finanzwende. Ihr Ziel ist die Aufklärung und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Finanzmarkt. Im November 2023 veröffentlichte das Recherche-Team die Studie „Rendite mit der Miete. Wie die Finanzmärkte die Wohnungskrise in Deutschland befeuern.“ Jorim Gerrard, Immobilienexperte bei Finanzwende Recherche, hat unsere Fragen beantwortet.
Herr Gerrard, zu Beginn eine Begriffsklärung: Was genau bedeutet „Finanzialisierung des Wohnens“?
Die „Finanzialisierung des Wohnens“ bezeichnet die Entwicklung, Wohnungen zunehmend als Finanzanlagen zu betrachten, bei denen allein der Gewinn im Vordergrund steht. Die Erfüllung der Wohnbedürfnisse der Menschen ist zweitrangig. Unsere Analyse zeigt, dass die Finanzialisierung den deutschen Wohnungsmarkt instabiler gemacht hat. Unter dem Fokus auf kurzfristige Profite leiden nämlich nicht nur die Mieter:innen, sondern auch die Krisenfestigkeit des gesamten Wohnungsmarktes.
Können Sie die Entwicklung in Deutschland kurz skizzieren?
In Deutschland waren früher große Teile des Wohnungsmarktes nicht vom Auf und Ab der
Finanzmärkte betroffen. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war beispielsweise die Wohngemeinnützigkeit ein Erfolg: Wohnungsunternehmen erhielten Steuerbefreiungen und Förderungen, wenn sie ihre Gewinnausschüttungen begrenzten und Überschüsse beispielsweise in den Neubau reinvestierten. Doch in den späten 1980er Jahren begann die Finanzialisierung auch in Deutschland: Wirksame Regelungen wie die Wohngemeinnützigkeit wurden abgeschafft, der deutsche Wohnungsmarkt öffnete sich immer weiter für die Logik der hohen Rendite. In den 1990er Jahren verkauften dann sowohl private als auch gemeinnützige Unternehmen und staatliche Institutionen massiv ihre Wohnungen. Die heutige Situation ist also keineswegs vom Himmel gefallen.
Welche Rolle spielt die Finanzkrise 2008/09?
Sie ist ein weiterer bedeutender Punkt in der jüngeren Entwicklung. Statt nach der Immobilienkrise zurückzugehen, beschleunigte sich die Finanzialisierung sogar. Wir sehen hier einen regelrechten Boom: Seit der Finanzkrise ist das Gesamtvolumen der Kapitalanlagen in Wohnimmobilien in Europa um mehr als 700 Prozent auf über 60 Milliarden Euro gestiegen. Das heißt, Mietwohnen ist zu einer Anlageklasse für professionelle Investoren wie Versicherungsunternehmen, Pensionsfonds oder Vermögensverwalter:innen geworden, die vorher nicht in diese Bereiche investiert hatten. Anhaltend niedrige Zinsen haben diese regelrechte Flucht ins Betongold begünstigt.
Welche Städte oder Regionen sind heute besonders von den Folgen der Finanzialisierung betroffen?
In Deutschland sind insbesondere die Großstädte betroffen. Zwar haben sie ganz unterschiedliche Wohnungsmarktumstände, aber die Finanzialisierung ist fast überall eine relevante
Entwicklung. Eine Untersuchung der Europäischen Zentralbank (EZB) zeigt zudem, dass die Finanzialisierung teilweise einen signifikanten Einfluss auf die Preisentwicklung der Wohnungsmärkte außerhalb der Großstädte hat. Das heißt, professionelle Finanzanleger:innen treiben die Preise auf dem Wohnungsmarkt in manchen Regionen Deutschlands in die Höhe. Das trägt letztendlich zu teureren Mieten und höheren Preisen für Bauland bei.
Wie hoch ist der Anteil finanzialisierter Wohnungsunternehmen am deutschen Wohnungsmarkt und in Berlin? Wer sind die größten Akteure?
Leider ist der deutsche Immobilienmarkt weiterhin sehr intransparent, deshalb ist das gesamte Ausmaß der Finanzialisierung nur schwer quantifizierbar. Zwischen 2011 und 2018 fand in vielen deutschen Städten aber mindestens eine Verdoppelung, teilweise sogar eine Verdreifachung des finanzialisierten Wohnungsbestandes statt. Da Wohnungen vermehrt noch im Besitz von Einzelpersonen oder kleineren Privatvermieter:innen sind, gibt es derzeit keine Stadt, in der Finanzmarktakteure im Mietwohnungsmarkt einen Anteil von über 20 Prozent haben. Meist sind es zwischen fünf und zehn Prozent der Mietwohnungen. Das klingt nicht nach viel, klar ist aber: Der Anteil ist stark gewachsen und die durch den Betongold-Boom rasant gestiegenen Preise treffen den gesamten Markt. Für die besonders betroffenen Städte sind steigende Mieten, weitere Wohnungsknappheit und eine starke Machtkonzentration der finanzialisierten Unternehmen die Folge. Die größten Akteure sind dabei börsennotierte Wohnungsunternehmen wie Vonovia oder LEG.
Welche Auswirkungen hat die Finanzialisierung auf die Mieter:innen?
Die Finanzialisierung führt dazu, dass zum Beispiel börsennotierte Wohnungsunternehmen sich weniger am Wohl der Mieter:innen und mehr am kurzfristigen Wert für ihre Aktionär:innen orientieren, nach dem Motto „Maximale Gewinnsteigerung durch maximale Miete“. Damit gehen dann bestimmte Strategien für die gekauften Wohnungen einher. Statt notwendiger Instandhaltung setzen die untersuchten Unternehmen beispielsweise häufig eher auf teure Modernisierungen, die sie auf die Miete umlegen können.
Lässt sich die Entwicklung in Zahlen ausdrücken?
Für die Jahre vor der Zinswende im Jahr 2022 können wir das ganz konkret beziffern: Rund 41 Prozent der gezahlten Miete flossen noch 2021 direkt in die Taschen der Aktionär:innen – und dieses Geld fehlt jetzt in der aktuellen Krise. Die Wohnungsunternehmen kämpfen mit Schulden und dringend benötigter Neubau rückt in weite Ferne. Das ist aber keine Überraschung, da der Bau bezahlbaren Wohnraums – entgegen der öffentlichen Selbstdarstellung – nie der Fokus dieser Geschäftsmodelle war. Der Fokus lag immer auf den Aktionär:innen.
Welche Maßnahmen sollte die Politik ergreifen, um die negativen Auswirkungen der Finanzialisierung auf den Wohnungsmarkt einzudämmen?
Die negativen Entwicklungen lassen sich mit gezielter Regulierung eindämmen. Unsere Studie diskutiert unterschiedliche Maßnahmen, die typische Geschäftsmodelle von Finanzakteuren ausbremsen könnten, Wohnraum als Anlageklasse weniger attraktiv machen und mehr Transparenz und Standards schaffen würden. Bei Finanzwende fokussieren wir uns insbesondere auf die Finanzmarktakteure. In diesem Bereich beispielsweise ist es zentral, die Regeln zu ändern, die es großen Finanzanleger:innen bisher ermöglichen – ja: sie fast dazu motivieren –, den Wohnungen Wert zu entziehen. Aktuell setzen steuerliche Sonderregelungen Anreize dafür, dass viel Geld in den Handel mit Wohnungen fließt. Dieses Geld sorgt aber nicht für mehr bezahlbaren Mietraum, sondern für höhere Preise. Es ist also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Deswegen gilt es tatsächlich, die Attraktivität von „Wohnraum als Anlageklasse“ zu verringern – also etwa Steuerprivilegien und Subventionen abzuschaffen, die Immobilienbesitz begünstigen. Das würde den Kauf von Wohnraum als reine Finanzanlage für viele Akteure deutlich uninteressanter machen.
Das allein reicht, um wieder mehr neuen Wohnraum zu schaffen?
Wir schlagen noch weitere Maßnahmen vor. Zusätzlich zu den Regeln brauchen wir mehr Transparenz auf dem Immobilienmarkt – etwa durch ein Transparenzregister, das den Namen auch verdient. Nicht zuletzt könnte die Einführung einer sozialen Taxonomie auf EU-Ebene dabei helfen, Investitionen gezielt in Projekte mit sozialem Mehrwert zu lenken und finanzialisierten Wohnungsunternehmen einen Anreiz zu geben, mehr günstige und qualitativ hochwertige Wohnungen anzubieten.
Jorim Gerrard ist Ökonom mit den Schwerpunkten monetäre Makroökonomie
und Finanzwirtschaft. Bei Finanzwende arbeitet er als Referent zu den Themen
Immobilien, Finanzmarktstabilität und Finanzialisierung.
Die komplette Studie „Rendite mit der Miete“ finden Sie bei Finanzwende Recherche als PDF zum Download.
25.01.2024