Der Bezirk Neukölln will für zwei Wohnhäuser einen neuen Versuch zur Anwendung des Vorkaufsrechts machen. Dafür braucht es Finanzierungszusagen und rechtliche Rückendeckung des Senats sowie einen gemeinwohlorientierten Käufer. Die Mieter:innen eines der betroffenen Häuser, der „Weichsel52“, machen deshalb mobil. Wir haben eine ihrer Kundgebungen besucht.
„Wir werden hier sein und wir werden laut sein, bis wir eine verbindliche Zusage dafür haben, dass unser Haus an ein gemeinwohlorientiertes Unternehmen überführt wird“, sagt eine Mieterin in ein Mikrofon, als ich gerade an der „Weichsel52“ ankomme. Der Grund für ihre Entschlossenheit: Das Haus in der Weichselstraße 52 in Nord-Neukölln soll an die Hamburger Holding Hansereal verkauft werden, ein verbindlicher Vorvertrag liegt bereits vor. Das Geschäftsmodell der Hansereal ist offenkundig: spekulative Immobilienverwertung, liegt das Haus doch an einem “Knotenpunkt struktureller Aufwertung“. Die Sorge vor dem Verlust ihrer noch bezahlbaren Wohnungen treibt die Mieter:innen an, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen und an den Senat zu appellieren. Ihr Ziel ist es, dass der Bezirk mithilfe des Vorkaufsrechts ihr Zuhause dauerhaft sichern kann. Dafür braucht es Finanzierungszusagen seitens des Senats und einen gemeinwohlorientierten Drittkäufer, der bereit ist, in den Kaufvertrag einzusteigen.
Hoffnung auf einen Präzedenzfall
Lange Zeit war das Vorkaufsrecht eines der wenigen Instrumente für Bezirke und Gemeinden, um Mieter:innen in Milieuschutzgebieten vor Verdrängung zu schützen. Am 9. November 2021 höhlte das Bundesverwaltungsgericht dieses wirksame Instrument aus. Mit seinem Urteil beschränkt es die Ausübung des Vorkaufsrechts seitdem auf Immobilien, die erhebliche Mängel und/oder städtebauliche Missstände aufweisen. Das ist bei dem Haus in der Weichselstraße 52 der Fall: Es ist stark sanierungsbedürftig und gehört zu den Berliner Gebäuden mit den schlechtesten Energieeffizienzklassen. Deshalb will der Bezirk Neukölln einen neuen Anlauf wagen und könnte einen wichtigen Präzedenzfall schaffen.
Für die Mieter:innen ist die „Weichsel52“ ein Ort des gelebten Zusammenhalts. Knapp 60 Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und Lebenssituationen wohnen hier zusammen, zum Teil seit vielen Jahren. „In unserer Hausgemeinschaft leben Familien, Paare, WGs und Einzelpersonen, darunter Rentner:innen, Menschen mit Behinderungen, Selbstständige, Studierende, Erwerbslose und Erwerbstätige, Personen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen, queere Menschen, Alleinerziehende und Kinder“, sagt eine Mieterin auf der Versammlung. Die meisten von ihnen verfügen nur über kleine Einkommen, viele können sich die Miete für ihre Wohnung derzeit noch leisten.
Starker Zusammenhalt, doch die Angst vor dem Verlust des Zuhauses bleibt
An diesem Nachmittag wird das Haus zur Bühne: Der kollektiv betriebene Soli-Bioladen im Vorderhaus ist mit einem Transparent versehen, auf dem „Vorkauf jetzt!“ steht. An jedem Balkon hängt ein Plakat mit Botschaften wie „Buy bye, Investor, welcome Gemeinwohl“. Aus einem Fenster im ersten Stockwerk halten Bewohner:innen Reden oder verlesen Solidaritätsbekundungen von Mieter:innen aus dem Prenzlauer Berg, es ertönt ein kleines Geigenkonzert. Vor dem Haus herrscht ein herzliches nachbarschaftliches Miteinander, das auch jenseits von Kundgebungen den Alltag im Kiez prägt: An einem Tisch für Siebdruck-Aktionen druckt ein junger Mann gerade das Maskottchen des Hauses – das Weichselhörnchen – auf eine Tasche, links vom Haus spielt ein Mieter Klavier. Auf weiteren Tischen stehen selbstgebackener Kuchen und frischer Kaffee auf Spendenbasis für die Nachbar:innen bereit. Daneben liegt eine Petition an die Senatoren für Finanzen, Stefan Evers (CDU), und für Stadtentwicklung und Wohnen, Christian Gaebler (SPD).
„Es ist natürlich immer toll zu sehen, wie schwere Zeiten Nachbarschaften zusammenbringen und Neues entsteht. Das tröstet aber nicht über die alles überschattende Angst hinweg, die uns Betroffene dabei 24/7 begleitet“, sagt eine Mieterin frustriert. Eine Sprecherin der Hausgemeinschaft fügt hinzu: „Es ist eine enorme Zumutung, dass wir als Mieter:innen die Vorkaufsrechtsausübung des Bezirks erkämpfen müssen.” Denn auch vor dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom November 2021 waren Bezirke und Senat selten eigenständig tätig, wenn es um die Ausübung des Vorkaufsrecht ging. Für Hausgemeinschaften ist der Kampf enorm kräftezehrend, viele haben gar nicht die Kapazitäten, den notwendigen Druck auf die Behörden auszuüben. Dazu kommt, dass auch der Bezirk die Marktpreise bedienen muss.
Die Zeit drängt
Trotz der Unsicherheiten lassen sich die Mieter:innen nicht entmutigen. Seit Juni setzen sie sich aktiv dafür ein, ihre Gemeinschaft langfristig zu retten. Denn es herrscht große Skepsis, dass die Hansereal das sanierungsbedürftige Haus mieterfreundlich und sozialverträglich sanieren und bewirtschaften würde. Hoffnung macht den Bewohner:innen, dass auch der Bezirk den Vorkauf will und sich dafür einsetzt, das totgeglaubte Instrument endlich wieder zum Wohle der Gemeinschaft nutzen zu können. Dafür braucht es rechtliche Rückendeckung und die finanzielle Unterstützung durch den Senat, denn auch wenn die Kaufsumme des Wohnhauses unter den in Berlin üblichen liegt, muss auch ein gemeinwohlorientierter Käufer die anstehende Instandsetzung und sozialverträgliche Sanierung einpreisen. Die Kosten dafür lassen sich nur schwer beziffern. Bezirksbürgermeister Jochen Biedermann (Grüne) macht sich für die Mieter:innen stark. Er hat den Senat aufgefordert, einen entsprechenden Landeszuschuss aus dem neuen Sondervermögen Klimaschutz, Resilienz und Transformation bereitzustellen. Damit wäre auch die Zielrichtung für die Investition klar: sozialverträgliche energetische Sanierung, denn Klimaschutz muss dem Milieuschutz keineswegs entgegenstehen. Die Zeit drängt: Die Frist zur Ausübung des Vorkaufsrechts endet am 25. September 2023.
Forderungen für die Stärkung des Vorkaufsrecht
Am 15. September kommt eine erlösende Nachricht: Bausenator Christian Gaebler erklärt, die Senatsverwaltung für Wohnen habe alle Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Bezirk für das Gebäude in der Weichselstraße 52 das Vorkaufsrecht aussprechen könne. Sollte der potenzielle Käufer keine Abwendungserklärung zum Schutz der Mieter unterschreiben und sich damit auf die Einhaltung sozialer Standards verpflichten, werde der Senat einen Erwerb über ein landeseigenes Wohnungsbauunternehmen finanzieren. Zugleich richtete Gaebler einen Appell an die Bundesregierung, das Vorkaufsrecht für Kommunen wieder zu vereinfachen und den entsprechenden Gesetzesentwurf endlich zu beschließen.
Der Fall der Mieter:innen in der Weichselstraße 52 verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig die Reparatur und Stärkung des gemeindlichen Vorkaufsrechts ist. Es ist ein Desaster, dass die Bundesregierung bislang untätig geblieben ist, obwohl sie das Vorhaben im Koalitionsvertrag verankert hat. Mieter:innenschutz wird zur Verhandlungsmasse zwischen den Koalitionären – das ist perfide. Aber auch die Berliner Landesregierung ist dringend gefordert, die Weichen für mehr Mieter:innen- und Klimaschutz zu stellen: mit einer stärkeren Verhandlungsmacht der Bezirke gegenüber Vermieter:innen, einer besseren Zusammenarbeit zwischen Land und Bezirken und einer Wohnungspolitik, die Förderungen beim Wohnungsbau immer auch an Forderungen knüpft. Die Hausgemeinschaft der „Weichsel52“ wird ihre Kraft unterdessen für mehr Mitsprache bei der anstehenden Sanierung einsetzen.
Ein Text von Vera Colditz
20.09.2023