In einer Zeit großer sozialer Herausforderungen und globaler Veränderungen rückt der Begriff der Solidarität wieder stärker in den Fokus. Er wird zu einem Leitfaden für kollektives Handeln und soziales Engagement. Ist die zunehmende Aufmerksamkeit darauf ein ermutigendes Signal?
Solidarität ist die gemeinsame Grundlage für den Kampf gegen Ungerechtigkeiten – auch in unserer täglichen Arbeit für die Mietenbewegung. Wir verstehen und erleben Solidarität als gemeinsames, unterstützendes Handeln von Menschen, die im Bereich Wohnen ähnliche, am Gemeinwohl orientierte Werte und Ziele haben, auch wenn ihre persönlichen Hintergründe unterschiedlich sind. Die Bündelung dieser individuellen Kräfte ist die Voraussetzung dafür, die gemeinsamen Interessen effektiver zu vertreten und so konkrete, positive Veränderungen überhaupt erst möglich zu machen.
Solidarität zeigt sich in vielfältigen Formen: von symbolischer Unterstützung bis hin zu konkreten Aktionen in den Kiezen. Solidarität kann bedeuten, die Probleme von Mieter:innen für möglichst viele Menschen sichtbar zu machen, um eine tiefere Verbindung zu schaffen. Genauso zeigt sie sich aber auch in gemeinsamen Protestaktionen von Hausgemeinschaften oder in Form von emotionaler Unterstützung durch die „solidarische Prozessbegleitung“.
Die Gefahren inflationär gebrauchter Begriffe
Doch wer legt eigentlich fest, ob eine Handlung solidarisch ist? Die Soziologin und Migrationsforscherin Sandra Kostner warnt angesichts des inflationären Gebrauchs vor einer missbräuchlichen Verwendung des Begriffs. Dieser könne – wenn auch ungewollt – schnell Schuldgefühle auslösen: Wenn in allen Lebensbereichen Solidarität gefordert werde, übe das Druck aus, sich solidarisch zeigen zu müssen. Abweichende Meinungen würden dann schnell als „unsolidarisch“ abgestempelt. Doch wenn Menschen mit anderen Meinungen sofort ausgeschlossen werden, ist laut Kostner die Gefahr groß, dass Solidarität als Werkzeug der Gleichmacherei benutzt werde, anstatt als Mittel zur Förderung von Vielfalt und Inklusion.
Solidarisches Handeln kann nicht von oben angeordnet werden
Zugleich darf Solidarität nicht zur leeren Hülle werden. Sie muss sich in konkreten Handlungen ausdrücken und eine echte Bereitschaft zur Veränderung einschließen. Deshalb kann Solidarität auch nicht „von oben“ – also etwa durch (staatliche) Anordnung – erzwungen werden. Sie entsteht nur aus zwischenmenschlichen Beziehungen im alltäglichen Zusammenleben. Die jüngste Studie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt der gemeinnützigen Organisation More in Common zeichnet diesbezüglich ein düsteres Bild: 79 Prozent der 2.016 Befragten stimmten der Aussage zu, dass sich in Deutschland „jeder nur um sich selbst kümmert“.
Dabei existieren bundesweit zahlreiche gesellschaftliche Institutionen und informelle Zusammenschlüsse, in denen sich Millionen von Menschen regelmäßig engagieren. Laut Statista waren im Jahr 2023 rund 16 Millionen Ehrenamtliche in Deutschland aktiv, hinzu kommt eine große Dunkelziffer von Menschen, die sich immer wieder in informellen, lockeren Strukturen oder Initiativen für ihre Mitmenschen einsetzen. Sie sind eine der bedeutendsten Stützen für unser soziales Zusammenleben und zeichnen ein ganz anderes Bild, das in den oft negativ geprägten Debatten nur allzu schnell untergeht.
Räume für Solidarität in Berlin
In den Straßen unserer Stadt finden viele kurzfristige, informelle Zusammenschlüsse statt, die nichts anderes sind als inklusive und „von unten“ gelebte Solidarität. Positive Veränderungen geschehen, wenn sich unterschiedlichste Menschen zusammentun, um gemeinsam für eine solidarische, am Miteinander orientierte Zukunft zu kämpfen. Das zeigt das gemeinsame Forschungsprojekt „Spaces of Solidarity“ der drei Berliner Universitäten (Freie Universität, Humboldt-Universität zu Berlin und Technische Universität) und der Charité, das uns den Anstoß zur Auseinandersetzung mit dem Thema gab. Von Oktober 2023 bis Ende Januar 2024 präsentierten die Initiator:innen die Ergebnisse im Deutschen Architektur Zentrum (DAZ).
Zentrales Element des Projekts war der mobile „Kiosk der Solidarität“, der im Sommer 2023 mit verschiedenen Initiativen aus den Bereichen Wohnen, Gesundheit und Arbeit unter wissenschaftlicher Begleitung durch Berlins Straßen zog. Er war Plattform für Begegnungen, Diskussionen und sozialen Austausch. An der Habersaathstraße 40-48 beispielsweise machte er Passant:innen neugierig, die so mit den Hausbewohner:innen ins Gespräch kamen und mehr über deren Kampf gegen den drohenden Abriss erfuhren. Die beteiligten Initiativen zeigen mit ihren Geschichten, dass Solidarität gerade in Zeiten von Unsicherheit, Konflikten und fragwürdigen politischen Strömungen besonders wichtig ist – und dass Aktivismus etwas bewirken kann. Das Projekt Kumi13 ist ein Beispiel, das Mut macht: Die engagierten Mieter:innen haben erfolgreich verhindert, dass ihr Haus als Spekulationsobjekt endet und sich als Genossenschaft selbst zu Eigentümer:innen gemacht.
Let’s talk!
Mit Blick auf das „große Ganze“ gibt es zurzeit viele Gründe, um pessimistisch in die Zukunft zu schauen. Aber vielleicht geben uns die Menschen vor der eigenen Wohnungstür tagtäglich noch viel bessere Argumente dafür, optimistisch zu sein. Deshalb: Gehen Sie mit Ihren Mitmenschen, Freund:innen und Familien in den Dialog! Lassen Sie uns diskutieren, wie wir gemeinsam positive, konstruktive und wertschätzende Impulse für die Welt setzen können und bestärken wir uns gegenseitig darin, dass es sich lohnt, auch so zu handeln!
25.01.2024