9,2 Millionen Menschen leben bundesweit beengt. Familien in Städten mit angespannten Wohnungsmärkten sind besonders betroffen. Zu Besuch in Treptow bei Pia, Halil und ihren beiden Kindern – auf 60 Quadratmetern.
„Es ist wirklich eng hier“, seufzt Pia* und versucht dabei, Platz am Esstisch im Wohnzimmer zu schaffen. Sie schiebt Hausaufgabenhefte beiseite, das Werkzeug für die Reparatur einer Kommode und ihren Laptop. Pia, ihr Lebensgefährte Halil* und die beiden Kinder leben als Patchwork-Familie in einer 2,5-Zimmer-Wohnung in Berlin-Treptow. Wir haben uns dort getroffen, um über ihre Wohnsituation zu sprechen, die sie selbst als „katastrophal“ beschreiben.
Platznot als Alltagsherausforderung
Überbelegung ist kein abstrakter Begriff für die Familie, sondern eine akkurate Zustandsbeschreibung. In der knapp 60 Quadratmeter großen Wohnung ist wenig Raum für vier Menschen und ihre unterschiedlichen Bedürfnisse. „Privatsphäre kannst du so gut wie vergessen“, sagt Halil. Er beschreibt sich als geselligen Familienmensch, der Trubel durchaus mag – auf zweieinhalb Zimmern gebe es aber auch keine andere Option. „Die Kinder teilen sich nicht nur untereinander ein Zimmer, sondern zapfen auch unsere Raumreserven an.“ Max*, der ältere Sohn, nickt zustimmend. „Manchmal fühlt es sich an, als ob die Wände näher rücken würden“, sagt er.
Die Situation der Familie ist kein Einzelfall. Steigende Mieten und das begrenzte Wohnraumangebot in Berlin machen es vielen Familien schwer, wenn sie wachsen, auch angemessenen Wohnraum zu finden. Diese Erkenntnis hat auch der Berliner Beirat für Familienfragen öffentlich gemacht. Er befragte im vergangenen Jahr Eltern in den Bezirken Neukölln, Kreuzberg und Moabit nach ihren Sorgen. Am häufigsten wurde beengtes Wohnen genannt.
Die Familie jongliert ständig mit dem Platzangebot. Wenn Pias Arbeit im Homeoffice mit den Spielgewohnheiten der Kinder und Halils ersehnten Ruhezeiten gar nicht mehr vereinbar ist, schickt sie die Kinder manchmal zu den Nachbar:innen, um sich wenigstens vorübergehend mehr Raum zu verschaffen. Wenn die Nachbar:innen keine Zeit haben, hat Pia ein Problem. „Ich saß schon einmal für ein wichtiges Meeting anderthalb Stunden im Badezimmer auf der Toilette – die in dieser Zeit niemand nutzen konnte“, sagt sie achselzuckend.
Die Wohnung war nicht immer zu eng. Vor sieben Jahren sind Pia und Sohn Max hier zunächst zu zweit eingezogen. Pia hat sich damals in Treptow mit unmittelbarer Nähe zu einem Park durchaus wohl gefühlt. Ein Jahr später lernte sie Halil kennen und wurde zwei Jahre darauf erneut schwanger. „Mit der Schwangerschaft war klar, dass wir zusammenwohnen wollen, aber es ist bislang unmöglich, etwas zu finden, das wir uns leisten können – obwohl wir ein durchschnittliches Einkommen haben“, sagt Pia sichtlich frustriert. Aus der Übergangs- wurde eine Dauerlösung.
Halil wohnte zuvor in einem Einzimmer-Apartment, ein Tausch der beiden Wohnungen gegen eine größere war aber nicht möglich, weil sein Vermieter nicht zustimmte. Zunächst behielten sie beide Wohnungen, um wenigstens etwas mehr Raum zu haben. Nach mehreren Mieterhöhungen und entnervt vom umständlichen Pendeln durch die Stadt entschieden sie schließlich, Halils Wohnung zu kündigen.
Ein Leben mit ständigen Übergangslösungen
Laut dem Statistischen Bundesamt lebten im Jahr 2022 bundesweit rund 9,2 Millionen Menschen in Wohnungen, die als überbelegt gelten, 2021 waren es noch 600.000 weniger. Die Daten für die Statistik stammen aus der Mikrozensus-Unterstichprobe „Einkommen und Lebensbedingungen“ (EU-SILC), die Überbelegung nicht nach der Quadratmetergröße, sondern nach Zimmern bemisst. Beispielsweise gilt für Kinder unter 12 Jahren und für Kinder des gleichen Geschlechts bis zum Alter von 17 Jahren ein gemeinsamer Raum ausreichend. Sobald ein Kind das 18. Lebensjahr erreicht, sei jedoch ein eigenes Zimmer erforderlich. Konkrete Zahlen für Berlin existieren nicht. Sagen lässt sich aber zumindest, dass 49 Prozent der Berliner Mieter:innenhaushalte mit vier Personen in maximal drei Zimmern leben.
Pia und ihre Familie beschreiben ein Leben mit ständigen Übergangslösungen. Meistens sind es die Eltern, die ihre Privatsphäre zugunsten der Privatsphäre ihrer Kinder opfern, indem sie beispielsweise im Wohnzimmer schlafen, um den Kindern eigene Zimmer zu ermöglichen. Besonders Alleinerziehende und Familien, die noch weitere Kinder bekommen, leben immer häufiger in überbelegten Wohnungen. Im Jahr 2022 stellten Alleinerziehende 28 Prozent der in Überbelegung wohnenden Menschen dar, genauso hoch ist der Anteil bei Personen mit ausländischem Pass. Weitere 24 Prozent machen Menschen aus, die als armutsgefährdet gelten.
Von der Politik ignoriert?
Für Pia und Halil ist klar, dass die Politik Maßnahmen ergreifen sollte. „Es muss mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden“, sagt Halil nüchtern. „Und es sollte einfacher sein, die Wohnung zu wechseln, wenn man etwas Passenderes findet. Bislang fühlen wir uns mit unserem Problem ignoriert.“ Pia sagt, es brauche Anlaufstellen für die betroffenen Menschen, die Zustimmungspflicht zum Vorschlag von Nachmieter:innen sowie eine Organisierungsstelle bei allen Wohnungsanbietenden.
Als BMV haben wir zudem in unserem Newsletter bereits das Recht auf Wohnungstausch diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Möglichkeit zum unkomplizierten und finanziell möglichen Wohnungstausch nicht automatisch zu einer ausgeglichenen Verteilung von Wohnraum führt. Ein gesetzlich verankertes Recht auf Tausch unter Beibehaltung der Vertragsbedingungen kann Familien, die in Überbelegung leben, aber durchaus unterstützen und ihnen den Zugang zu einer angemessenen Wohnung ermöglichen.
„Aufgeben ist für uns aber auch keine Option“, sagt Pia. „Wir hoffen auf das Wunder. Bis das eintritt setzen wir auf eine Kehrtwende in der Politik, die den Wert von angemessenem Wohnraum für alle ihrer Bürger:innen endlich anerkennt.“ Der BMV hatte sich zum Thema Recht auf Wohnungstausch bereits in einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages geäußert. Derzeit lässt sich allerdings feststellen, dass trotz der anhaltenden Wohnungskrise ein politischer Wille für die Lösung der zahlreichen Probleme in den Wohnungsmärkten nicht erkennbar ist. Das muss sich dringend ändern!
* Namen geändert
Ein Beitrag von Vera Colditz
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22.05.2024