Die Forderung nach einer besseren sozialen Mischung wurde nach den Krawallen und Angriffen einiger Jugendlicher in der Silvesternacht wieder lauter. Denn viele der jungen Straftäter:innen würden in Großwohnsiedlungen in den Randbezirken leben – in denen könne durch die Zusammensetzung der Bewohner:innenschaft Integration nicht gelingen. Wir haben uns die Idee der sozialen Mischung genauer angeschaut.
Nach den Krawallen und Angriffen einzelner Jugendlicher und junger Erwachsener in der Silvesternacht richtete sich der Blick von Medien und Politik schnell auf die Großwohnsiedlungen in den Berliner Randbezirken. Hier leben viele der jungen Menschen, so hieß es. Forderungen nach einer besseren sozialen Mischung wurden laut. Durch die überwiegend ärmere und migrantisch geprägte Bewohnerschaft könne Integration nicht gelingen, so die Annahme.
Ein Blick auf die Ausgangslage
Befunde aus dem Monitoring Soziale Stadtentwicklung1 und eine Studie2 des Vereins Kompetenzzentrum Großsiedlungen zeigen: Der angespannte Berliner Wohnungsmarkt sowie die teils massiven Gentrifizierungsprozesse der vergangenen Jahre haben viele Haushalte mit niedrigen Einkommen in die Großwohnsiedlungen der Randbezirke verdrängt. Die vermeintlich gute soziale Mischung in einigen Innenstadtteilen hat dadurch übrigens erheblich gelitten, aber das nur am Rande. Zuwandernde Menschen mit geringem Einkommen oder im Bezug von Transferleistungen haben nahezu keine Chance mehr, eine bezahlbare Wohnung in diesen Lagen zu finden. Viele sind daher wohl einfach froh, endlich eine leistbare Wohnung beziehen zu können – und sei sie in den Großwohnsiedlungen.
Wohnraumvergabe an Menschen mit geringen Einkommen
Ein erheblicher Teil der Großsiedlungsbestände stammt aus den 1960er bis 1980er Jahren und gehört zum Teil (wieder) den landeseigenen Wohnungsunternehmen. Diese stehen laut Kooperationsvereinbarung mit dem Land Berlin in der Pflicht, 63 Prozent ihrer Neuvermietungen an einkommensschwächere Haushalte abzugeben. Auf dem angespannten Berliner Wohnungsmarkt ist das ein wichtiger Faktor, denn die amtierende regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey konnte im Rahmen des Berliner Bündnisses für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen die privaten Wohnungsunternehmen bedauerlicherweise nicht in die Pflicht nehmen. Für Bündnispartner aus der privaten Wohnungswirtschaft gibt es lediglich die Selbstverpflichtung, 30 Prozent der Wohnungen bei Wiedervermietungen an WBS-berechtigte Haushalte zu vergeben. Wer die Einhaltung dieser Quote bei den privaten Wohnungsunternehmen überprüfen soll und nach welchen Kriterien die Unternehmen WBS-berechtigte Haushalte in die Vermietung nehmen, ist zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt. Ebenso offen ist, was genau die Integration über das Wohnen in Siedlungen und Kiezen meint und wer sie wie umsetzen soll.
Was ist eine gute soziale Mischung?
Arm und Reich, Alt und Jung, Familien und Singles, die in Nachbarschaften harmonisch zusammenleben, Alteingesessene und Zugezogene, darunter auch Menschen aus dem Ausland – das ist vermutlich das Idealbild, das viele im Kopf haben, wenn man sie nach einer guten sozialen Mischung fragt. Die Wunschvorstellung dahinter stammt von dem preußischen Stadtplaner James Hobrecht: Sowohl Menschen mit geringen Einkommen als auch Zugewanderte profitieren von den sozialen Netzwerken der „besser gestellten“ Nachbar:innen. Das stärke den Kiez und seine Angebote ebenso wie den gesellschaftlichen Zusammenhalt – eine gelungene Integration.
Doch entspricht diese Annahme überhaupt der Realität? Und kommt sie nicht etwas anmaßend daher? Denn Integration beschreibt einen länger währenden Prozess des Zusammenwachsens. Integration gelingt nur mit Bemühungen aus beiden Richtungen. Und kann sie überhaupt über das Wohnen funktionieren? Oder geht es nicht auch darum, Teilhabechancen für alle gleichermaßen zu bieten?
Exkurs zu Armut, Gewalt und Herkunft: „Ich bin doch integriert!“
„Wenn man das so sagen kann: Ich bin integriert. Wir arbeiten. Was ganz normale Bürger machen, das machen wir auch“, sagt Suad B. dem WDR Monitor. Er lebt seit 53 Jahren in Deutschland und ist von den Debatten um die Silvesterkrawalle genervt.
Die Gespräche um die Ursachen der Angriffe stellen oft unverhohlen eine Verbindung zwischen Gewalt und Herkunft her. Das ist gefährlich – und falsch. Laut dem Pädagogen und Gewaltforscher Professor Menno Baumann haben die Gruppendynamiken, die zu Gewalteskalationen führen, nichts mit der Herkunft zu tun. Vielmehr sei es eine Frage der Chancen und Perspektiven. Im Interview mit T-Online stellte Baumann kürzlich klar: „Jugendliche mit Migrationshintergrund und speziell arabische Jugendliche sind in Deutschland zurzeit die mit den schlechtesten Chancen. Sie erleben die größte Ausgrenzung in sozialen Brennpunkten.“ Tatsächlich zeigen statistische Erhebungen, dass von Armut betroffene Familien in Großstädten oft in überbelegten Wohnungen leben. Ein eigenes Zimmer für den Rückzug und die persönliche Entfaltung ist da selten.
Viele der Jugendlichen haben zudem die Erfahrung gemacht, dass staatliche Institutionen wie die Polizei sie anders behandeln und direkt in eine Schublade stecken. Je stärker das Gefühl wächst, in dieser Schublade gefangen zu sein, desto größer ist die Gefahr, dass es in kritischen Situationen und auch gegenüber Einsatzkräften zu Gewalt kommt. Perspektivlosigkeit durch stetig wachsende soziale Ungleichheiten ist daher ein großes Problem unserer Gesellschaft, nicht die Herkunft von Menschen.
Integration beginnt mit der Bereitstellung von angemessenem Wohnraum
Doch immer wieder problematisieren Politik und Medien das Wohnen von armen Menschen in bestimmten Stadtteilen. Argumentationsgrundlage ist oft das Baugesetzbuch, in dem es heißt, dass die „Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bevölkerungsstrukturen“ das Ziel von städtebaulichen Maßnahmen sein soll.
Wenn wir über Integration im Zusammenhang mit Wohnen sprechen, denken viele an ein gutes Zuhause und ein lebendiges Umfeld. Sowohl der UN-Sozialpakt als auch die EU-Charta der Menschenrechte definieren das Recht auf Wohnen. Hier geht es um menschenwürdiges Wohnen mit Standards für Gesundheit, Sicherheit und die Versorgung mit Wasser und Energie.
Integration beim Wohnen beginnt also mit einer grundlegenden staatlichen Aufgabe: der Bereitstellung von angemessenem Wohnraum in ausreichendem Maße. Darüber hinaus muss die Politik diskriminierungsfreien Zugang zu Wohnraum schaffen, der auch soziale Angebote wie gute Schulen und Kitas, Kleingewerbe für die Dinge des täglichen Bedarfs und Räume für Begegnung, Freizeitaktivitäten und Austausch beinhaltet. Erst auf dieser Grundlage können Bewohner:innen überhaupt ein Gefühl des Zu-Hause-Seins entwickeln und sich mit ihrer Nachbarschaft identifizieren. Aber braucht es für stabile Nachbarschaften nicht noch mehr?
Teilhabe und Mitbestimmung hängen nicht von der sozialen Mischung ab
In stadtpolitischen Debatten muss die Forderung nach einer sozialen Mischung oft als schnelle Lösung sozialer Probleme in Kiezen herhalten – ohne einen Nachweis über die Wirksamkeit. Die Annahme, dass benachteiligte oder ärmere Menschen positive Vorbilder im nachbarschaftlichen Zusammenleben bräuchten, ist nicht nur anmaßend, sondern auch falsch. Aktuelle Studie belegen, dass sich an den Problemen und Benachteiligungen durch Mischung allein nichts ändert. Sie zeigen: Teilhabe und Mitbestimmung hängen eben nicht von der Zusammensetzung der Bewohner:innen eines Viertels ab, sondern vielmehr vom Zusammenspiel der persönlichen Verhältnisse und der daraus resultierenden individuellen Chancen auf gute Bildung, Teilhabe am Arbeitsmarkt, vielfältige Freizeitaktivitäten, Mobilität und gute Wohnverhältnisse.
Hinzu kommt: Durch ein nachbarschaftliches Nebeneinander entsteht noch kein Miteinander – auch das haben wissenschaftliche Untersuchungen vielfach gezeigt. Selbst wenn wir uns mehr Gemeinschaftssinn in einigen Siedlungen wünschen, gehen wir nicht mit all unseren Nachbar:innen automatisch soziale Beziehungen ein.
Deutlich sichtbar ist ein Zuwachs an sozialem Zusammenhalt allerdings dann, wenn eine Nachbarschaft sich gemeinsam organisiert, wenn Menschen für ihren Kiez aktiv werden. Wenn ich meinen Kiez mitgestalten kann und meine Wohnung nicht durch Mietsteigerungen bedroht ist, wächst ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Preisgünstige Wohnungen überall in der Stadt
In der Praxis bezieht die Stadtentwicklungspolitik die soziale Mischung auf einzelne Quartiere, statt den Ansatz zu verfolgen, überall in der Stadt Wohnraum zu schaffen, den sich Menschen mit geringem Einkommen leisten können. Stattdessen führen Verdrängungsprozesse dazu, dass insbesondere einzelne Großwohnsiedlungen einen besonders starken Zuzug von Menschen mit niedrigen Einkommen und/oder jenen mit Zuwanderungsgeschichte verzeichnen. Oft sind es genau die Menschen, die Besserverdienenden andernorts weichen mussten. Daraus abzuleiten, ihr persönlicher Hintergrund sei ausschlaggebend für die Probleme in den Großwohnsiedlungen, ist fatal.
Genauso wenig zielführend ist in diesem Zusammenhang der Vorstoß des Kompetenzzentrums Großsiedlungen. Als Antwort auf bestehende Integrationsprobleme fordert der Verein eine Herabsetzung der Wiedervermietungsquote an die untersten Einkommensgruppen. Der Vorschlag erscheint mit Blick auf die reale Wohnungsmarktsituation absurd: Wo sollen die Menschen wohnen, die in die Großsiedlungen kamen, weil sie aus den Innenstadtlagen bereits verdrängt worden sind oder keine andere Wohnung finden?
Infrastruktur ist ein wichtiger Schlüssel für ein neues Miteinander
Dennoch können sich Siedlungen verändern und ein Mehr an nachbarschaftlichem Miteinander fördern. Um die Probleme in den Großwohnsiedlungen anzugehen, sollte die Stadtentwicklungspolitik auf Instrumente setzen, die die Ausgangslage vor Ort für alle im Blick haben und ein Fundament für ein neues Miteinander schaffen. Infrastruktur ist hier das Stichwort: Gründliche Instandsetzungen der Wohnungen und Gebäude, gut ausgestattete Schulen und Kitas, öffentliche Anbindung, eine Vielfalt an lokalen Geschäften, zugängliche und kostenlose Freizeitaktivitäten und Begegnungsräume in den Siedlungen sind Schlüsselfaktoren, die zu einem Mehr an nachbarschaftlichem Miteinander beitragen können.
Eine infrastrukturelle Aufwertung würde auch den Blick auf die Großwohnsiedlungen ändern – sowohl von außen als auch von innen. Denn viel mehr als fehlende Integration sind es Stigmatisierung und soziale Ungleichheiten, die ein gutes Miteinander erschweren.
Ein Beitrag von Franziska Schulte und Vera Colditz
2 http://www.gross-siedlungen.de/de/172_Studie_Berliner_Grosssiedlungen_am_Scheideweg.htm
16.02.2023