Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen erarbeitet derzeit hinter verschlossenen Türen die „Charta Molkenmarkt“. Der Masterplan für die Bebauung des zentralen Areals ist offenbar kurz vor der Fertigstellung. Wie viele der Ergebnisse aus dem öffentlichen Wettbewerbsverfahren darin noch Berücksichtigung finden, ist fraglich.
Das Areal zwischen Rotem Rathaus, Nikolaiviertel und altem Stadthaus umfasst den ältesten Stadtplatz Berlins. Heute ist es vor allem bekannt als mehrspurige Verkehrsschneise durch die Mitte der Stadt. In Zukunft soll das Gebiet zu einem gemischten, nachhaltigen und bezahlbaren Quartier werden – eine große Chance, um innovative Ansätze für die Zukunft der Städte in einem zentralen Areal zu erproben. Ein städtebaulicher Wettbewerb hatte zwei Siegerentwürfe hervorgebracht, die die Architektenteams unter Beteiligung engagierter Bürger:innen im anschließendem öffentlichen Werkstattverfahren weiter verfeinert haben. Doch Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt hat das Heft des Handelns anschließend in die eigene Senatsverwaltung gezogen. Dort arbeitet man seit Monaten hinter verschlossenen Türen an der „Charta Molkenmarkt“.
Offenbar steht der Masterplan für die weitere Entwicklung des Molkenmarktes jetzt kurz vor der Finalisierung, wie die Antwort der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen auf eine schriftliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Katalin Gennburg zeigt. Die Charta Molkenmarkt ist demnach „derzeit in der inhaltlichen Finalisierung und verwaltungsinternen Abstimmung zur Vorbereitung der Beschlussfassung durch den Senat“. Noch im dritten Quartal will die Senatsverwaltung sie dem Abgeordnetenhaus vorlegen.
Die Brisanz: Die konkreten Entwürfe der beiden Architektenteams, die aus dem städtebaulichen Wettbewerb als Sieger hervorgegangen sind, spielen bei der Entwicklung des Masterplans offenbar keine tragende Rolle mehr. Auch die bisher sehr klar gefasste Begrenzung der Bauherrschaft auf landeseigene Unternehmen könnte die Senatsverwaltung aufweichen.
Ein Rückblick zur Einordnung der aktuellen Entwicklung
Vom Bebauungsplan zum Wettbewerb: Die Leitlinien
Die Planungen für eine Umgestaltung der historischen Mitte Berlins laufen bereits seit rund 25 Jahren; seit 2016 gibt es einen Bebauungsplan. Für den sich anschließenden städtebaulichen Wettbewerb entwickelte die Senatsverwaltung gemeinsam mit Bürger:innen acht Leitlinien. Diese sehen unter anderem vor, dass auf dem Areal innovativer, bezahlbarer Wohnraum sowie flexible Räume für Kultur entstehen sollen. Eine klimagerechte Gestaltung gehört ebenso zu den Grundpfeilern wie die Bauherrschaft durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften.
Städtebaulicher Wettbewerb und Werkstattverfahren
In städtebaulichen Wettbewerbsverfahren kürte eine Fachjury im November 2021 zwei Architektenteams mit unterschiedlichen Ansätzen zum Sieger:
- Der Entwurf von OS Arkitekter (Kopenhagen) und Czyborra Klingbeil Architekturwerkstatt (Berlin) überzeugte vor allem durch die flexible Nutzung der Grundrisse, die Bezahlbarkeit und die nachhaltige und klimafreundliche Bauweise.
- Der Entwurf von Bernd Albers Gesellschaft von Architekten (Berlin) mit Silvia Malcovati und Vogt Landschaftsarchitekten (Zürich) setzt mit einer kleinteiligen Bebauung einen stärkeren Fokus auf die historische Anlehnung.
Anschließend folgte ein öffentliches Werkstattverfahren, in dem beide Teams ihre Entwürfe unter Bürger:innenbeteiligung weiter überarbeiteten mit dem Ziel, dass eine Preisjury einen der beiden Entwürfe als Grundlage für die weitere Planung und Bebauung auswählt. Das war zumindest die Annahme der Beteiligten.
Jurysitzung ohne Entscheidung
Bei der abschließenden Jurysitzung im September 2022 mit Pressekonferenz gab es zum allgemeinen Erstaunen – und zur Verärgerung – der Beteiligten keine Entscheidung für einen der beiden Entwürfe. Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt verkündete, dass eine finale Entscheidung für einen Entwurf auch gar nicht vorgesehen sei. Stattdessen werde die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen auf Basis der Juryempfehlungen eine „Charta Molkenmarkt“ entwickeln, die die Grundlage für die folgenden Architekturwettbewerbe für den Hochbau und die freiräumliche Gestaltung sein soll. Die Erkenntnisse aus den bisherigen Verfahren und die Empfehlungen der Preisjury sollen darin einfließen. Mit diesem Vorgehen überrumpelte Kahlfeldt die Jurymitglieder und warf eigene Aussagen über Bord: Auf einem Zwischenkolloquium hatte die Senatsbaudirektorin noch erklärt, in der letzten Sitzung werde die Jury ein Konzept auswählen.
Trotz großer Kritik kein neues Verfahren
Die Empörung über das unübliche Vorgehen war auch in Fachkreisen groß. Die Präsidentin der Architektenkammer Berlin, Theresa Keilhacker, startete gemeinsam mit dem Bauhistoriker Matthias Grünzig einen Aufruf mit der Forderung, das Verfahren ordnungsgemäß abzuschließen und einen Entwurf zum Sieger zu küren. Mehr als 160 Einzelpersonen und Organisationen schlossen sich dem Aufruf an, auch der BMV gehört zu den Unterzeichnenden, ebenso die stadtentwicklungspolitischen Sprecher:innen der Fraktionen von Grünen und Linken im Abgeordnetenhaus.
Die Unterzeichnenden favorisierten den Entwurf von OS Arkitekter mit Czyborra Klingbeil Architekturwerkstatt, da dieser den Leitlinien voll entsprach und bezahlbaren Wohnraum für alle Einkommensgruppen verspricht. Auch das Team der Architekturbüros Bernd Albers mit Silvia Malcovati und Vogt Landschaftsarchitekten hatte seinem Entwurf im Werkstattverfahren eine stärkere soziale und ökologische Ausrichtung gegeben.
Eine neue Jurysitzung und finale Abstimmung gab es indes nicht. Hinzu kommt, dass sich die Juryvorsitzende im Nachgang von den durch die Senatsverwaltung veröffentlichten Empfehlungen distanzierte. Der Grund: Die Senatsverwaltung hatte den Text ohne Absprache mit der Redaktionsgruppe der Jury gekürzt. Laut Recherchen des Tagesspiegels fehlt unter anderem das Kapitel zum weiteren Prozess. Die Juryempfehlungen sahen demnach die Gründung eines Beirats aus Vertreter:innen der Planungsteams, der involvierten Senatsverwaltungen, des Bezirks Mitte und der Wohnungsbaugesellschaften vor, die auf dem Areal bauen sollen.
Status quo: Charta Molkenmarkt mit Masterplan – ohne öffentliche Beteiligung
Einen solchen Beirat gibt es bisher nicht. Aus der Antwort der Senatsverwaltung auf die aktuelle Anfrage von Katalin Gennburg geht hervor, dass ein solches Gremium geplant ist. Die Ausarbeitung des – mittlerweile fast fertigen – Masterplans erfolgte allerdings bisher ohne öffentliche Begleitung weiterer Partner:innen. Und auch ohne die konkrete Einbindung der beiden ursprünglichen Planungsteams aus dem Wettbewerbsverfahren. Hierzu heißt es lediglich: „Die von den beiden genannten Büros verfassten städtebaulichen Entwürfe bilden die konzeptionelle Grundlage für die Charta Molkenmarkt mit Masterplan.“
Auch die bisher als Bauherrinnen vorgesehenen landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften WBM und Degewo sind demnach nicht weiter in den konkreten Masterplan-Prozess involviert.
Zudem könnte auch die Vorgabe aufweichen, nach der ausschließlich landeseigene Unternehmen am Molkenmarkt bauen werden: Die schwarz-rote Regierung hatte im Koalitionsvertrag beschlossen, dass auch andere gemeinwohlorientierte Bauherr:innen am Molkenmarkt bauen dürfen. Hier könnten Genossenschaften und Stiftungen zum Zuge kommen. Die Ausweitung auf weitere Bauträger:innen hätte allerdings zur Folge, dass die einzelnen Parzellen kleiner ausfallen – was wiederum Auswirkungen auf die Baukosten hätte und der Leitlinie zuwiderläuft, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Die Senatsverwaltung will den finalisierten Masterplan noch im dritten Quartal 2023 dem Senat zur Beschlussfassung vorlegen. Das Parlament bleibt in diesem Fall in der Zuschauerposition ohne Entscheidungsmacht.
17.08.2023