Für die meisten Menschen ist der Aufenthalt in einem Hotel nur Mittel zum Zweck. Es ist der Ort, an dem man sich nach einer anstrengenden Sightseeing-Tour ausruht oder für den abendlichen Besuch im Restaurant frisch macht. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, seine eigenen vier Wände auf Dauer gegen ein möbliertes Hotelzimmer einzutauschen. Wir haben drei Menschen getroffen, die sich ganz bewusst für diese Alternative entschieden haben. Die Vorteile liegen ja auch auf der Hand, sie reichen vom reservierten Garagenstellplatz bis zum ordentlich gefalteten Bademantel auf dem Hotelbett. Ein Luxus allerdings, der nicht mit jedem Geldbeutel erschwinglich ist.
Erst kürzlich hat Manfred Bracht seinen Mietvertrag um weitere drei Jahre verlängert. Der 56-jährige Diplom-Ingenieur bewohnt seit 1996 eine 70 Quadratmeter große Suite im Vier-Sterne-Hotel „Maritim“ in Magdeburg. Der Geschäftsmann aus dem Westfälischen schreibt seit einigen Jahren eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte. Sein Werk in der Nähe von Magdeburg, in dem er mittlerweile über 200 Mitarbeiter beschäftigt, produziert Dachkeramiken und Ziegel für Wohn- und Industriegebäude. „In der Anfangszeit“, erinnert sich Manfred Bracht, „mussten wir fast rund um die Uhr arbeiten. Da blieb kaum noch Zeit, sich den alltäglichen Dingen, wie Einkaufen oder Staubsaugen, zu widmen.“
Neben dem Reinigungsservice ist für ihn einer der wichtigsten Aspekte die Anonymität, die ein modernes Hotel mit über 500 Zimmern garantiert. Der Parkplatz in der Tiefgarage ist 365 Tage im Jahr reserviert. Von dort muss er nur noch in den Aufzug steigen, seine Etage wählen, die ausschließlich mit der passenden Magnetkarte erreichbar ist, und schon ist er in seinen „eigenen“ vier Wänden angekommen. Für die „normalen“ Gäste will er Hotelgast sein wie jeder andere auch. Allerdings ist ihm durchaus bewusst, dass er seine Geschäftspartner in einer sehr honorigen und repräsentativen Atmosphäre, wie er es formuliert, empfängt.
Die dreizehn Suiten des Maritim sind jedenfalls auf die Bedürfnisse von Geschäftsleuten und Managern ausgerichtet. Moderne Telekommunikation, getrennter Arbeits- und Wohnbereich, Gästetoilette. Den „Longstays“, also Dauermietern wie Manfred Bracht, wird darüber hinaus noch eine eigene Telefonnummer und Voice Mail zur Verfügung gestellt, die freie Benutzung des Spa-Bereichs angeboten sowie ein reichhaltiges Frühstücksbuffet versprochen. Und noch eine weitere Besonderheit wird den Dauermietern gestattet. „So lange sie keine groben baulichen Veränderungen an ihren Zimmern vornehmen“, erklärt Henrik Müller-Huck, der Direktor des Hotels, „dürfen die Gäste ihre Suiten umgestalten, mit eigenen Gegenständen versehen, den Zimmern einen persönlichen Touch verleihen.“ Manfred Bracht ist Hausstauballergiker und ließ deshalb den Teppich im Schlafzimmer durch einen Laminatboden ersetzen. Die Bilder im Wohnbereich tauschte er kurzerhand gegen eigene Kunstwerke aus, Christo’sche Originalgrafiken der Reichstagsverhüllung. Da Manfred Bracht fast seit Eröffnung des Hotels dabei ist, genießt er einen Sonderrabatt auf die monatliche Miete, über die er sich jedoch ausschweigt.
Wer sich den Luxus einer Suite im Hotel Maritim leisten will, kann das derzeit ab 2550 Euro im Monat tun. Die Dauermietverträge werden für jeweils ein Jahr abgeschlossen, wobei die Hotelführung zu Verhandlungen durchaus bereit ist.
Trend aus den 20ern
Anett Gregorius führt seit ein paar Jahren die Agentur „Boarding House Consulting“. Sie vermittelt Hotelzimmer und Apartments an „Longstays“. „Unsere typische Klientel setzt sich aus Projektmanagern und Künstlern aus dem In- und Ausland zusammen, die für ein paar Monate nach Berlin kommen, um hier zu arbeiten oder etwas aufzubauen“, erklärt Gregorius. Der Trend, statt einer klassischen Wohnung ein Zimmer in einem „Bording House“ oder Hotel anzumieten, stammt, wie nicht anders zu erwarten, aus den Vereinigten Staaten – eine Tradition, die aus den 20er Jahren kommt und in der Zeit der wirtschaftlichen Depression vor dem Zweiten Weltkrieg fast verschwunden schien.
In den frühen 60er Jahren beflügelte die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt wieder den Aufschwung dieser ungewöhnlichen „Wohnform“ – zuerst in klassischen Hotels und Pensionen, allen voran im berühmten New Yorker „Chelsea Hotel“ in der 23. Straße im Westen Manhattans. Dort haben sich lange Zeit amerikanische Musiker, Schriftsteller und internationale Größen – wie der Verpackungskünstler Christo oder der Regisseur Milos Forman – die begehrten Apartments gegenseitig vor der Nase weggemietet. Jetzt erlebt der legendäre Lebensstil eine Renaissance, und das Chelsea Hotel beheimatet auch heute einige „Longstays“. „Home Sweet Hotel“ ist der jüngste Trend in New York City. Immer mehr Wohlhabende wollen mit allem, was auch nur im Entferntesten Haushalt heißt, nichts zu tun haben – und mieten sich Apartments in Hotels. Nach dem Vorbild des Chelsea Hotels kamen so genannte „Boarding Houses“ hinzu, die sich auf die Bedürfnisse dieser Menschen eingestellt und spezialisiert haben.
Hotel im Hotel
Im Berliner Fünf-Sterne-Hotel „Interconti“ stehen den „Longstays“ sogar zwei eigene Etagen zur Verfügung. Der so genannte „Club Intercontinental“ wurde extra auf die bereits bestehende Bausubstanz gesetzt und ist nur über einen besonderen Magnetschlüssel zu erreichen. „Der Bereich ist wie ein kleines Hotel im Hotel“, sagt Christian Siejock, Front Operations Manager im Interconti. Es gibt einen eigenen Frühstücks- und Businessbereich. Wenn man den Aufzug verlässt, wird man erneut von einer Rezeption empfangen, die alle Daten und Sonderwünsche der VIPs und Dauergäste auf dieser Etage gespeichert hat. Egal, ob es sich um das reiche amerikanische Ehepaar handelt, das einmal im Jahr, während der Hurricane-Saison, für mehrere Monate im Clubbereich absteigt oder um den Schauspieler Jackie Chan, der zwar in „80 Tagen um die Welt reist“, dafür aber über vier Monate in Babelsberg drehen musste. „Der Sicherheitsaspekt, das Gefühl, unter sich zu sein, und die Möglichkeit des Personals, auf Sonderwünsche flexibel und prompt reagieren zu können, sprechen für den Club“, erklärt Christian Siejock.
Szenenwechsel. Dan Mosher ist seit Juni dieses Jahres Dauergast im „Net Hotel Heinrich Heine“ in Kreuzberg. Der 31-jährige Kalifornier aus San Francisco ist im Auftrag eines amerikanischen IT- und Telekommunikationsunternehmens nach Deutschland gesandt worden, um eine Kooperation mit einer Berliner Firma in die Wege zu leiten. Sein Vertrag ist auf sechs Monate befristet, sechs lange Monate, in denen Dan Mosher aus seinem schwarzen Trolli leben wird. Sein 55 Quadratmeter großes Apartment ist im Kolonialstil gestaltet, der Schlafbereich durch eine verglaste Schiebetür abgetrennt. Eingepasst in eine Ecke wartet eine offene Küchenzeile, die er aber noch nie ernsthaft für sich in Anspruch genommen hat, wie er gesteht. Pro Monat kostet der Aufenthalt im Hotel 1700 Euro, inklusive Frühstück und der täglichen Reinigung seines Apartments. „Es ist einfach leichter und angenehmer, in einem Hotel zu wohnen. Man verbringt weniger Zeit mit der Organisation des Alltags in einer fremden Stadt.“ Im Apartment weisen nur sehr wenige persönliche Gegenstände auf sein Leben an der amerikanischen Westküste hin. Ein Laptop, ein paar US-Magazine und Zeitungen, der CNN-Sprecher im Fernsehapparat und ein Mountainbike, das er mit nach Berlin geschafft hat. Dan Mosher ist Frühaufsteher und Workaholic. Jemand, der um sieben Uhr zum Joggen geht, anschließend duscht, zur Arbeit radelt und sein Hotelzimmer im Grunde genommen nur zum Schlafen aufsucht.
Genau wie Manfred Bracht ist Dan Mosher daran gewöhnt, oft zu reisen, oft von Familie und Freunden getrennt zu sein, einen beträchtlichen Teil seines Lebens in einem Hotel zu verbringen. „Inzwischen beginnt die Wohnsituation aber an mir zu zehren“, gibt er zu.
Seit 17 Jahren in der Nummer 1
Der Berliner Rocco wohnt seit 17 Jahren im Zimmer mit der Nummer 1 der Charlottenburger „Pension Kettler“. Die 280 Quadratmeter große, ehemalige Beamtenwohnung in der Bleibtreustraße ist eine typische West-Berliner Pension im ersten Stock eines imposanten Gründerzeithauses. Schon beim Betreten des Flurs erliegt man dem Charme des scheinbar wahllosen Potpourris aus Kunst und Kitsch, das die Besitzerin Isolde Josipovici im Laufe der Jahrzehnte um sich herum versammelt hat. Rocco bewohnt eins von nur sechs Zimmern, das Frau Josipovici, die den Berlinern auch als „Brunnenfee“ bekannt ist, vermietet. Ihren spektakulärsten Coup landete die „Fee“ vor einigen Jahren am Ernst-Reuter-Platz. Auf Grund ihrer Initiative sprudelte der heruntergekommene Brunnen wieder, die ausrangierten Kacheln ließ sie von Künstlern bemalen, und teilweise stellt sie sie noch heute in ihrer Pension aus. „Die Pension ist halt ihr Leben“, sagt Rocco über seine Vermieterin, und sie antwortet lapidar: „Der Rocco gehört inzwischen zum Inventar!“ Beide sitzen in der kleinen Küche, rauchen und lachen. Zurzeit ist er mal wieder der einzige Bewohner, aber auch wenn alle Zimmer der Pension belegt sind, lässt sie es sich nicht nehmen, ihren Gästen das Frühstück eigenhändig zuzubereiten und jedem Einzelnen ans Bett zu stellen.
Josipovicis Liebe zum Detail setzt sich in den Zimmern fort. Die Themen sind sehr unterschiedlich, reichen von Königin Luise bis Toulouse-Lautrec. Obwohl sie stets versucht, den Gründerzeitcharme ihres Etablissements aufrecht zu erhalten, hat sie für Rocco eine Ausnahme gemacht. Seine 20 Quadratmeter werden von einem modernen, fünftürigen Kleiderschrank beherrscht. „Den hat er sich gewünscht“, sagt Isolde, „damit er alle seine Klamotten darin unterbringen kann.“
Das Wohnen in einem einzelnen Zimmer – mit improvisierter Waschgelegenheit und der Toilette auf dem Gang – will gekonnt organisiert sein. Fast jeder Quadratmeter in Roccos Zimmer ist genutzt. Auf einem Sideboard stehen eine Unmenge Wasch- und Pflegeartikel, der Schreibtisch ist voll mit Unterlagen, der Schrank bis ins letzte Eckchen verplant. Dennoch liebt er seine Wohnung und vor allem die Atmosphäre in der kleinen Pension. „Alle meine Bekannten sind neidisch auf mich“, erzählt er. „Und noch etwas ist mir wichtig“, fährt er fort: „Fast wöchentlich lerne ich neue Menschen kennen, und viele davon sind sehr interessant.“ Der ehemalige Galerist vom Kurfürstendamm passt in die Pension, passt zu seiner Vermieterin, und nur so konnte diese ungewöhnliche Wohngemeinschaft 17 Jahre lang existieren – „ohne dass wir uns jemals ernsthaft gestritten hätten“, wie beide versichern. Manchmal würde er gerne ein bisschen mehr mit anpacken, aber da ist Isolde Josipovici eigen. „Weder an den Weihnachtsbaum noch an das Eisbein mit Sauerkraut zu Silvester hat sie mich rangelassen“, scherzt Rocco und zieht sich ins Zimmer Nummer 1 zurück.
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MieterMagazin 1+2/05
Honorige und repräsentative Umgebung: Manfred Bracht im Magdeburger „Maritim“
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„Der typische Kunde ist Projektmanager oder Künstler“: Anett Gregorius, Inhaberin des Berliner „Boarding House“
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Der Trendsetter: Manhattans „Chelsea Hotel“
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Berlins „Interconti“ hält für Dauergäste zwei Etagen bereit: Lounge in der Fünf-Sterne-Herberge
Foto: Hotel Intercontinental
Laptop, Fahrrad, CNN: Dan Mosher im „Net Hotel Heinrich Heine“
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Der Charme der Gründerzeit: die „Pension Kettler“ in der Charlottenburger Bleibtreustraße
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Wohnen auf 20 Quadratmetern: Dauergast Rocco im „Kettler“
Foto: Christian Muhrbeck
04.02.2019