Werbung lügt. Auch bei Wohnungsangeboten wird die Wahrheit über Lage und Qualität einer Wohnung mit großen Interpretationsspielräumen versehen. Häufig wird von der Bezirksfusion kreativer Gebrauch gemacht, zuweilen benötigt man für den annoncierten „Grünblick“ einen Feldstecher, und manchmal lassen Makler ihrer Fantasie völlig freien Lauf.
In den Immobilienteilen der Tageszeitungen werden die Wohnungsangebote der Gewohnheit folgend nach den alten Bezirken geordnet. Doch die Bezirksfusion eröffnete Vermietern ganz neue Perspektiven. Wedding und Tiergarten gehörten plötzlich zu Mitte. Die Image-Unterschiede könnten kaum größer sein: Wedding und Tiergarten als traditionelle Arbeiterviertel auf dem absteigenden Ast, (Alt-)Mitte dagegen als Wohnort der aufstrebenden Erfolgreichen. Schon bald nach der Bezirksfusion wurden Wohnungen aus dem Afrikanischen Viertel im Wedding mit dem Slogan „Die Neue Mitte!“ angepriesen. Viele Wohnungsangebote wanderten gleich ganz in die Rubrik Mitte. Schaut man sich heute die Inserate für den Ortsteil Mitte nach dem Preis an, fallen immer wieder erstaunlich billige Wohnungen auf. Man kann sich fast sicher sein, dass sich diese Wohnungen beim Blick auf den Stadtplan als umetikettierte Wedding-Wohnungen entpuppen. Etwas weniger dreiste Anbieter lassen Wohnungsinserate aus Wedding nach Tiergarten wandern. Viele Moabiter Wohnungen werden hingegen mit dem Hinweis „Nähe Regierungsviertel“ unter Mitte eingeordnet. Auch Wohnungen am Potsdamer Platz werden selbstverständlich zu Mitte gezählt, obwohl sie im Ortsteil Tiergarten liegen. Mitte ist überall.
Beliebt ist der Bezirkswechsel auch von Lichtenberg nach Friedrichshain. Liebhaber des „Szenebezirks“ Friedrichshain würden sonst wohl kaum im Nachbarbezirk, dessen Ruf alles andere als „szenig“ ist, eine Wohnung suchen. Unentschieden ist es zwischen Prenzlauer Berg und Pankow: Haben die Anbieter eher bürgerliche Kunden im Auge, werden Wohnungen aus dem nördlichen Prenzlauer Berg gern unter Pankow inseriert, schielt man eher auf jugendliche Mieter, wechseln Wohnungen auch schon mal von Pankow-Süd nach Prenzlauer Berg.
Neukölln wird Kreuzberg
Schon fast ein Klassiker ist es, Nord-Neuköllner Wohnungen unter Kreuzberg anzubieten. So mancher Mieter, der eine Wohnung zwischen Maybachufer und Kottbusser Damm bezogen hat, merkte erst bei der Adressänderung im Personalausweis, dass er nicht nach SO 36, sondern nach Neukölln gezogen ist.
Wenn diese Etikettenschwindeleien dazu führen, dass auf einen ganz bestimmten Kiez festgelegte Wohnungssuchende erkennen, dass man auch in Wedding, Moabit, Neukölln oder Lichtenberg leben kann, wäre das sicher eine positive Horizonterweiterung. Es erweckt allerdings auch ein berechtigtes Misstrauen gegenüber allem anderen, was sonst noch in der Wohnungsanzeige steht.
So stellte sich heraus, dass eine Dachgeschosswohnung mit „Seeblick“ nicht wie erhofft direkt am Ufer stand, sondern zwischen dem vielbefahrenen Markgrafendamm und einer S-Bahn-Trasse – in weiter Ferne war ein Stück der Rummelsburger Bucht zu sehen. Auch Begriffe wie Grünblick, Parknähe oder Ruhiglage sind relativ. Der Grünblick kann sich unter Umständen auf das Gestrüpp im Hinterhof beziehen. So soll es in der unterern Ackerstraße, eine der am dichtesten bebauten Bereiche von Mitte, Wohnungen „im Grünen“ geben. Ein angeblich naher Park kann auch einen Kilometer entfernt sein oder sich als kleiner Stadtplatz entpuppen.
Wohnen am Golfabschlagplatz
Vorsicht ist auch bei anderen Lageangaben angebracht. Wenn man sieht, wie viele Wohnungen in vermeintlicher Nähe vom Potsdamer Platz oder Hackeschen Markt angeboten werden, drängt sich der Verdacht auf, dass der Begriff „Nähe“ zuweilen etwas weiter gefasst wird. Das häufige Qualitätsmerkmal „Kudamm-Nähe“ sagt auch bei engerer Auslegung nicht viel aus: Bei der Länge des Kurfürstendamms liegt der halbe Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf in Kudamm-Nähe. In Oberschöneweide wird eine Wohnung als „Loft im ältesten Industriegeb. von Berlin“ beworben, obwohl es in Berlin ältere Industriegebiete gibt und in Oberschöneweide gewiss auch nicht Berlins ältestes Industriegebäude steht. Mit einem ganz besonderen Standortvorteil lockt eine Wohnung in Mitte: „… am Golfabschlagplatz“. Gemeint ist die „Volxgolf“-Anlage an der Chausseestraße, die allerdings in Kürze dem Neubau des Bundesnachrichtendienstes weichen muss. Auf der anderen Straßenseite werden schon per Transparent „Wohnungen gegenüber BND“ angeboten.
Dass sich hinter dem wohlklingenden „Gartenhaus“ ein gewöhnliches Hinterhaus verbirgt und man dort keinen Garten erwarten darf, weiß der gelernte Berliner. „Stuckaltbau“ ist ein Begriff, der in keiner Annonce fehlt, wenn auch nur ein bisschen Stuck an der Fassade klebt. Und wo in Prenzlauer Berg und Friedrichshain „Patrizierhäuser“ stehen, bleibt das Geheimnis des Anbieters aus Münster. Die Architektur scheint als Imagefaktor wichtiger zu werden. Um Architekturkenner anzusprechen, wird immer öfter mit den Namen bekannter Baumeister geworben: „Henselmann-Ensemble“ oder „charmanter Kleihues-Bau“. Mit dem Spruch „Kult im Stalinbau“ Wohnungen zu vermieten, ist dagegen nicht besonders geschmackvoll.
Makler kreieren manchmal ganz neue Kieznamen. Der Begriff „Simon-Dach-Kiez“ existiert nur in Wohnungsanzeigen, der Kreuzberger Wrangelkiez wird neuerdings „Medienviertel“ genannt und der Name „Scheunenviertel“ wird längst schon für den gesamten Altbaubereich von Mitte verwendet. Häufig wird ein „beliebt“ dazugeschrieben, auch da, wo es wirklich nicht passt: „beliebter Kurt-Schumacher-Platz“. Fragt sich, bei wem eine Wohnung direkt in der Einflugschneise des Flughafens Tegel beliebt ist. So oder so sehen kann man auch, was eine Hausverwaltung in einem Inserat für eine Dreizimmerwohnung in Neukölln schreibt: „Mit den typischen Berliner Nachbarn im Hause werden Sie sich wohlfühlen.“
Jens Sethmann
MieterMagazin 1+2/06
alle Fotos: Christian Muhrbeck
Gute Kartengrundlage
Bei der Wohnungssuche kann man sich mit einer guten topografischen Karte so manchen sinnlosen Besichtigungstermin ersparen. Auf Karten im Maßstab 1 : 5000 sind die Bebauungsstruktur, die Grundstücksgrenzen und die Hausnummern verzeichnet. So kann man meistens schon auf dem Plan erkennen, ob man vom Quergebäude des Hauses X-Straße 12 tatsächlich einen „Grünblick“ hat, ob der Südbalkon nicht von einer hohen Brandwand verschattet ist oder ob sich der Hof zu einer lauten Straßenkreuzung öffnet. Die Karten, die meistens einen Ortsteil abbilden, sind in den bezirklichen Vermessungs-
ämtern erhältlich.
js
01.08.2013