Vor 100 Jahren wurde in Charlottenburg das erste von drei Berliner Einküchenhäusern gebaut. Die Wohnungen hatten keine eigene Küche, stattdessen wurden die Mieter von einer im Keller eingerichteten Großküche versorgt. Damit wurde den Frauen ein Teil der Hausarbeit abgenommen, um ihnen die Berufstätigkeit zu ermöglichen. Doch das damals viel diskutierte Projekt der Wohnreform scheiterte schon nach wenigen Jahren.
Das erste Einküchenhaus entstand 1908 in der Kuno-Fischer-Straße 13 am Lietzensee in Charlottenburg. Am 1. Oktober 1908 wurde es bezogen. Von außen sah das fünfgeschossige Haus kaum anders aus als die bürgerlichen Wohnhäuser in der Nachbarschaft. Es hatte ein Vorderhaus mit kleinem Vorgarten, zwei Seitenflügel und ein Quergebäude, das direkt an den Lietzenseepark grenzte. Die Ausstattung war aber etwas ganz Besonderes. Die Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen hatten Zentralheizung, Warmwasserversorgung, Bad und einen kleinen Anrichteraum, aber Küche und Speisekammer fehlten. Das Essen wurde für alle Bewohner des Hauses in einer Zentralküche im Untergeschoss zubereitet. Per Haustelefon konnte sich jeder Mieter mit der Küche in Verbindung setzen, die Mahlzeiten wurden von dort mit einem Speisenaufzug direkt in die Wohnungen geliefert.
Die Einküchenhaus-Idee wurde nach 1901 von der Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Lily Braun (1865 bis 1916) vorangebracht. Schon zehn Jahre zuvor war in der sozialistischen Frauenbewegung das Modell der „Cooperative Housekeeping Association“ in Chicago diskutiert worden, wo 50 Familien mit Mahlzeiten aus einer Zentralküche versorgt wurden. Dies wollte Lily Braun in Deutschland in eigens dafür gebauten Häusern umsetzen. Durch eine zentrale Hauswirtschaft sollten die Frauen soweit wie möglich von der Hausarbeit entlastet werden, damit sie einem Beruf nachgehen konnten. Auch im liberalen Bürgertum fanden solche Ideen großen Anklang. Lily Braun wollte zunächst ein Projekt für „besser Situierte“ verwirklichen und die dabei gewonnenen Erfahrungen später zum Bau von Einküchenhäusern für Arbeiterfamilien nutzen. Die Baugenossenschaften, die in der späten Kaiserzeit die Wohnreform getragen haben, ließen sich aber von Lily Brauns Vorhaben nicht überzeugen. Schließlich gründete sie selbst die „Haushaltsgenossenschaft“, um ein Einküchenhaus zu verwirklichen. Der Architekt Kurt Berndt entwarf für sie ein Haus am Olivaer Platz, in dem es „helle, luftige, einfache Wohnungen von beliebiger Größe mit Badezimmer, Gaskochgelegenheit, Zentralheizung, Gas- und elektrischer Beleuchtung sowie Personenaufzügen in dem gleichwertig ausgestatteten Vorder- und Gartenhaus“ geben sollte. 1904 mussten die Pläne aber aufgegeben werden.
Konservativer Widerstand
Gegen die Einküchenhaus-Idee wurde von Anfang an der Vorwurf ins Feld geführt, sie untergrabe Familie und Heim. Dass eine Wohnung keine Küche haben sollte, galt im konservativen Kaiserreich als unerhört. „Eigener Herd ist Goldes wert“, lautete ein Sprichwort. Der heimische Herd war Metapher für ein intaktes Familienleben und galt als ein Grundpfeiler der damaligen Gesellschaft. Doch mit der zunehmenden Industrialisierung hatte das alte Familienbild schon Risse bekommen: Immer mehr Frauen gingen arbeiten – und sollten daneben auch noch den Mann bekochen, Kinder versorgen, Wäsche waschen und die Wohnung in Schuss halten.
Erfolgsberichte aus Kopenhagen
Der Durchbruch für den Bau von Einküchenhäusern gelang erst, nachdem aus Kopenhagen über den Erfolg solcher Häuser berichtet worden war. 1907 gründete sich in Berlin die „Zentralstelle für Einküchenhäuser G.m.b.H.“, die ein Jahr später mit den Architekten Curt Jähler und H. Schneider das Haus in Charlottenburg errichtete. Im selben Jahr spaltete sich die „Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte m.b.H.“ ab, die zwei größere Einküchenhaus-Anlagen baute und dafür namhafte Architekten der Reformbewegung gewinnen konnte: 1908/1909 entstand Unter den Eichen 53 in Lichterfelde-West ein Ensemble nach den Plänen von Hermann Muthesius, von 1909 bis 1912 errichtete Albert Gessner eine Anlage an der Wilhelmshöher Straße 17-20 in Friedenau. Letztere bestand aus drei Häusern und war besonders reich mit Gemeinschaftseinrichtungen ausgestattet: Es gab einen Kindergarten, eine Dachterrasse zum Sonnenbaden mit angeschlossenen Duschräumen, einen Turnraum mit Geräten, einen Speicher für Möbel, Mottenkammern, Fahrradräume, Dunkelkammern für Amateurfotografen, eine Waschküche, Trockenböden, Bügelräume und eine zentral betriebene Staubsaugeranlage. Im Untergeschoss soll es sogar eine Gleisanlage gegeben haben, auf der die Mahlzeiten von der Küche zum richtigen Speisenaufzug transportiert wurden.
Für Arbeiterhaushalte unerschwinglich
Schon wenige Monate nach Fertigstellung ihrer Häuser in Friedenau und Lichterfelde ging die Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte in Konkurs. Der neue Eigentümer hielt den Einküchenbetrieb aufrecht. Eine Zeit lang schien er sich in allen drei Häusern auch zu rentieren. Dennoch gab es Kritik. Die Zeitschrift „Die Gleichheit“ rechnete schon 1908 vor, dass das Leben im Charlottenburger Haus 15 Prozent teurer sei als eine übliche Haushaltsführung mit Dienstboten. Bürgerliche Kreise, die sich das leisten könnten, würden schon aus Prestigegründen nicht auf Dienstmädchen verzichten wollen. Für Arbeiterhaushalte war das Wohnen in den realisierten Einküchenhäusern hingegen unerschwinglich. Die Sozialdemokratin Hulda Maurenbrecher kritisierte 1911 in der Zeitschrift „Die Frauenbewegung“ die falsche Zusammensetzung der Bewohnerschaft. Statt der berufstätigen Frauen mit ihren Familien, die einen wirklichen Bedarf an einer Entlastung im Haushalt hätten, seien Familien „alten Schlages“ eingezogen: „Beamten- und Offiziersfamilien, die Familien mit der nervösen jungen Mutter, die Familien mit der verärgerten älteren Hausfrau, die verwitwete Mutter mit der zwar berufstätigen, aber ‚gut häuslich’ gewöhnten Tochter, dazu ein paar Einzelexemplare wie Schriftsteller und Künstlerinnen und gar auch ein junges Ehepaar, dessen weiblicher Teil Redakteurin ist.“
1913 musste in Charlottenburg und 1915 in Lichterfelde die Zentralküche aufgegeben werden. In Friedenau lief der Betrieb noch mindestens bis 1917, wurde in den folgenden Jahren aber ebenfalls eingestellt. Über die Ursachen des Scheiterns ist wenig bekannt. Zumindest in Friedenau war das Wohnungsamt nicht ganz unbeteiligt: Es hat Mieter zugewiesen, die keinen Sinn für die Einküchenhaus-Idee hatten. Die Küche im Untergeschoss wurde von einem Restaurant genutzt, während die Mieter auf Spirituskochern Essen zubereiteten. Später wurden in die Wohnungen richtige Küchen eingebaut. Die ehemaligen Einküchenhäuser sind heute normale Wohnhäuser. Die Gebäude in Charlottenburg und in Friedenau stehen unter Denkmalschutz.
Heute wirkt das Einküchenhaus-Modell etwas abwegig. In den Haushalten der Gegenwart sind Gas- oder Elektroherde, Mikrowellen, Spülmaschinen, Kühlschränke, Kaffeemaschinen, elektrische Quirle, Dosenöffner und Brotschneidemaschinen, Waschmaschinen, Staubsauger und vieles mehr technische Selbstverständlichkeiten. Wie aufwändig die Haushaltsführung vor hundert Jahren war, ist kaum vorstellbar. Ebenso unvorstellbar war für die Hausfrau von 1900, dass 100 Jahre später für viele Menschen Kochen ein Hobby werden würde.
Jens Sethmann
MieterMagazin 1+2/08
Das Essen per Haustelefon bestellen: Zentralküche vor 100 Jahren
Foto: Ullstein-Bild
Das erste Einküchenhaus in der Kuno-Fischer-Straße 13: Die Küche befand sich im Untergeschoss
Fotos: Christian Muhrbeck
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Die Zentralversorgung hat ein Image-Problem
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es vor allem aus der Frauenbewegung Vorstöße, die Einküchenhaus-Idee wiederzubeleben. Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen, obwohl die Baupolitik der Weimarer Republik sehr experimentierfreudig war. In der Bevölkerung gab es nach den leidvollen Erfahrungen mit den sehr kargen Massenspeisungen im Ersten Weltkrieg zu große Vorbehalte gegen Mahlzeiten aus einer Zentralküche. Die Erinnerungen an dünne Steckrübensuppe aus großen Kesseln stempelte Essen aus einer Großküche als Armenspeisung ab. Andere Haushaltstätigkeiten wurden im Wohnungsbau der 20er Jahre aber durchaus zentralisiert. So gab es in den meisten neuen Siedlungen Waschhäuser, in denen die Hausfrauen die Wäsche mit Hilfe von Maschinen erledigen konnten. Weil so nicht mehr mit Zubern in der Küche gewaschen werden musste, konnte man kleinere Küchen bauen und dadurch Baukosten sparen. Einige Siedlungen erhielten auch ein Fernheizwerk, womit das mühsame Heizen der Öfen in den Wohnungen entfiel.
js
12.07.2013