Vor über einem Jahr wurde das Künstlerkollektiv „Reflektor Neukölln“ mit der Kunstaktion „Die Verdrängten“ über Nacht bekannt. Es verteilte weiße Puppen als Symbol für verdrängte Menschen in Berlin-Neukölln und machte sie auf diese Weise im Straßenbild eindringlich sichtbar. „Die Verdrängten“ wurden in weiteren Aktionen lebendig und tauchen bis heute immer wieder an Orten auf, wo Menschen von Verdrängung bedroht sind.
MieterMagazin: Welche Rolle kann eure Kunst im Kampf gegen Verdrängung einnehmen?
Reflektor Neukölln: Wir sind eine sehr durchmischte Gruppe mit verschiedenen Hintergründen und künstlerischen Erfahrungen. Alle sind Experten auf ihrem Gebiet. Wir beobachten die Nachbarschaft, die Veränderungen und diskutieren bei regelmäßigen Treffen verschiedene gesellschaftliche Fragestellungen. Künstlerische Aktionen können daher als Ergebnis der Diskussionen verstanden werden. Kunst ist in unserem Selbstverständnis kein Selbstzweck, sondern vielmehr Mittel zum Zweck, Unsichtbares sichtbar und die Menschen im Kiez aufmerksam zu machen, dass Gentrifizierung jeden betreffen könnte. Die künstlerischen Performances sollen Alltägliches hinterfragen und den Normalzustand aufbrechen. Wir nutzen künstlerische Mittel auch dafür, kom-plexe Themen zu durchdringen. Kunst kann in dem Zusammenhang als Suche und Erkenntnisprozess verstanden werden, die neue Perspektiven für alle Beteiligten zulässt.
Suche und Erkenntnisprozess
MieterMagazin: Was war der Anlass, die Performance „Die Verdrängten“ im öffentlichen Raum durchzuführen?
Reflektor Neukölln: Wir haben eine kleine Ladenfläche in Neukölln angemietet. In den Räumen wollten wir uns mit verschiedenen Themen auseinandersetzen. 2017 haben mehrere Leute die erste Ausstellung zum Thema „Konsum“ konzipiert. Diese zog nicht nur Interessierte aus der Nachbarschaft, sondern auch diejenigen an, die sich kritisch mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen beschäftigen wollten. In diesen Räumen ist ein Begegnungsort entstanden, der für die Nachbarschaft offen ist. So wuchs das Kollektiv Reflektor. Die Idee der Aktion „die Verdrängten“ entwickelte sich in Diskussionen über die von der Verdrängung bedrohte Kiezkneipe Syndikat. Nach 33 Jahren wurde deren Mietvertrag von einem Immobilienriesen gekündigt. Bis heute kämpft das Syndikat um den Verbleib in der Nachbarschaft. Diese Immobilienspekulation führt dazu, dass soziale Strukturen zerstört werden. Profitmaximierung stellt sich über das Gemeinwesen. Die Menschen verlieren nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Sicherheit gegenüber den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dagegen wollten wir ein Zeichen setzen.
MieterMagazin: Begreift ihr euch als politische Bewegung?
Reflektor Neukölln: Unser Ziel ist es, den Status quo der Gesellschaft, aber auch ihre Veränderungen zu reflektieren: Die Gesellschaft ist unserer Meinung nach durch Vereinzelung und Entfremdung gekennzeichnet. Nur gemeinsam können wir etwas bewirken. Im Kollektiv können wir widerständig und handlungsfähig sein. Unser wöchentliches Zusammenkommen begreifen wir schon als Gegenbewegung. Schön ist es dann, wenn Ergebnisse der Treffen sich in konkreten Aktionen manifestieren. Das „Mahl der Verdrängten“, unsere letzte Performance, zeigt eine Frühstücksszene: Mit wiederkehrenden Handlungen verdeutlicht sich die fast ausweglose Situation von Menschen kurz vor der Verdrängung.
MieterMagazin: Welche Visionen für eine zukünftige Stadtgesellschaft habt ihr?
Reflektor Neukölln: Wir wollen eine Stadtgesellschaft, in der die Menschen sich miteinander verständigen und demokratisch agieren können. Was wir derzeit erleben, ist genau das Gegenteil. Durch Verdrängung beispielsweise werden Nachbarschaften aufgelöst und Begegnungsräume zerstört. Wir wollen eine Stadt für die Menschen, die von ihnen selbstbestimmt gestaltet wird.
Interview: Dr. Christine Scherzinger
Wechselwirkungen im Blick
Das Künstlerkollektiv Reflektor Neukölln besteht seit 2017. Laut Künstlerkollektiv sollen Reflexionen über gesellschaftliche Kräfte und dominante Erzählungen Veränderungen anstoßen. Die Mitglieder des Kollektivs forschen an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft und reflektieren die Wechselwirkung zwischen Kollektiv und Einzelperson. Die künstlerischen Aktionen sind als Ergebnis eines Prozesses zu verstehen. Die Nachbarn sind eingeladen, sich an dem Prozess zu beteiligen und so die Zukunft des Kiezes mitzugestalten.
cs
www.reflektor-neukoelln.de
02.02.2020