Eine Zwangsräumung ist für Mieter:innen die härteste Art, die Wohnung zu verlieren. Nach einer durchgesetzten Kündigung und einem Räumungsurteil nimmt ein Gerichtsvollzieher – manchmal mit Unterstützung der Polizei – die Wohnung für den Eigentümer in Besitz. Im schlimmsten Fall landen Mieter:innen direkt auf der Straße. Die Zahl der Zwangsräumungen ist anhaltend hoch und droht sogar noch zu steigen. Konzepte zur Vermeidung des Wohnungsverlustes gibt es einige – sie werden aber von der Bundes- und Landespolitik nicht umgesetzt.
In Berlin sind im Jahr 2022 insgesamt 1931 Mietparteien zwangsgeräumt worden. Statistisch sind das sieben bis acht Zwangsräumungen pro Arbeitstag. Bundesweit wurden 2022 mindestens 27.319 Wohnungen zwangsweise geräumt. In der Rangliste der Bundesländer liegt Berlin auf Platz 6 hinter Nordrhein-Westfalen (8690 Zwangsräumungen), Bayern (2579), Niedersachsen (2288), Sachsen (2265) und Hessen (2002). In Bezug auf die Bevölkerungszahl rückte in Bremen mit 60 Zwangsräumungen pro 100.000 Einwohner am häufigsten der Gerichtsvollzieher an. Es folgen Sachsen (55) und Sachsen-Anhalt (52). Berlin liegt mit 51 Zwangsräumungen pro 100.000 Einwohner im Ländervergleich auf Platz 4. Am besten schnitt auf dieser Rangliste Baden-Württemberg mit einem Wert von 13 Zwangsräumungen ab.
Die Zahlen sind im Aufwind
Die Daten stammen aus der Antwort des Bundesjustizministeriums auf eine Anfrage der Linken-Wohnungspolitikerin Caren Lay. Weil in der Aufstellung die Zahlen aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern fehlen, geht Caren Lay von rund 30.000 Zwangsräumungen aus. Im Jahr 2021 waren es 29.001. Damit setzt sich ein langfristiger Trend fort. Im Jahr 2014 schätzte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, dass jährlich 25.000 Wohnungen zwangsweise geräumt wurden.
Beauftragt wurden 2022 sogar 49.000 Zwangsräumungen – rund 4000 mehr als im Vorjahr. Nicht jeder Auftrag wird tatsächlich vollstreckt. Gleichwohl: „Jede Zwangsräumung ist eine zu viel“, sagt Caren Lay. Die Linke fordert, dass Kündigungen bei Nachzahlungen der Mietrückstände aufgehoben und Räumungen in die Wohnungslosigkeit verboten werden. „Wenn die Bundesregierung nicht handelt, werden noch mehr Menschen ihre Wohnungen und ihr Zuhause verlieren, denn die Mieten werden extrem angehoben“, so Lay.
Der Senat gibt’s – der Senat nimmt’s
Besonders in Berlin gehen die Zwangsräumungszahlen deutlich nach oben. 2021 wurden noch 1668 Wohnungen zwangsgeräumt. Der Anstieg auf 1931 Zwangsräumungen im Jahr 2022 bedeutet eine Zunahme um knapp 16 Prozent. Die Anzahl der Aufträge für Zwangsräumungen stieg im selben Zeitraum von 2936 auf 3655, also um 24 Prozent. Und der Trend ist weiter ungebrochen: Schon im ersten Halbjahr 2023 sind berlinweit 1150 Wohnungen geräumt worden.
Die landeseigenen Wohnungsunternehmen machen keine Ausnahme. Gemessen an ihrem Marktanteil veranlassen sie sogar etwas mehr Räumungen als der Durchschnitt: Degewo, Gesobau, Gewobag, Howoge, Stadt und Land, WBM und Berlinovo besitzen zusammen 21 Prozent der Berliner Mietwohnungen, waren 2022 aber für 29 Prozent der Zwangsräumungen verantwortlich. In den Covid-Jahren 2020 und 2021 waren bei ihnen die Räumungszahlen deutlich geringer, haben 2022 mit 561 Räumungen jedoch das Vor-Corona-Niveau wieder erreicht.
In der Mehrzahl der Fälle ist die Wohnung am Räumungstermin schon leer. Bei den landeseigenen Unternehmen waren in den letzten Jahren immer rund 40 Prozent noch bewohnt. Bei den 561 Räumungen des Jahres 2022 wurden 219 Mietparteien tatsächlich auf die Straße gesetzt. Für die privaten Vermieter:innen liegen keine Zahlen vor.
In Zukunft dürfte es in Berlin wieder zu mehr Zwangsräumungen kommen, denn das Kündigungsmoratorium für die landeseigenen Wohnungsunternehmen ist im Januar 2024 ausgelaufen. Hatte der Senat nach den extremen Teuerungen in Folge des Ukraine-Krieges seine Wohnungsbaugesellschaften angewiesen, keine Kündigungen aufgrund von Zahlungsrückständen auszusprechen, so räumte er diese Abkehr von Zwangsmaßnahmen mit der neuen Kooperationsvereinbarung wieder ab. Auch den „Mietendimmer“ ließ der Senat auslaufen. Seit Januar können die städtischen Unternehmen die Mieten um bis zu elf Prozent erhöhen.
„Die starke Zunahme an Zwangsräumungen ist ein lautes Alarmsignal“, sagt Niklas Schenker, Mietenpolitiker der Berliner Linksfraktion. „In Zeiten stark steigender Mieten und Betriebskosten drohen immer mehr Mieterinnen und Mieter ihre Wohnung zu verlieren.“ Zwar werden immer öfter Menschen nach einer Eigenbedarfskündigung geräumt. Hauptgrund bleiben aber nach wie vor Mietschulden. Häufig gehen dem persönliche Krisen voraus, etwa Jobverlust, Trennung oder Krankheit. Manche Betroffene sind dann von der Situation so überfordert, dass sie auf Abmahnungen, Kündigungsschreiben und ähnliche unangenehme Post nicht mehr reagieren und den drohenden Wohnungsverlust nicht erkennen. Zahlen des Amtsgerichts Pankow geben einen Hinweis darauf, wie oft das der Fall ist: drei Viertel der Räumungsurteile, die an diesem Gericht zwischen 2018 und 2021 gesprochen wurden, waren Versäumnisurteile – das heißt, die Beklagten sind dem Gerichtstermin unentschuldigt ferngeblieben und wurden deshalb zur Räumung verurteilt.
Um das zu vermeiden, hatte der letzte rot-grün-rote Senat im Rahmen eines Modellprojekts damit begonnen, Räumungsklagen den Betroffenen nicht per Post, sondern durch Justizbedienstete zuzustellen. Die persönliche Übergabe hatte zum Ziel, dass die häufig überforderten Mieter:innen die unangenehme Mitteilung nicht ungeöffnet beiseitelegen, sondern den Ernst der Lage erkennen und unterbreitete Hilfsangebote in Anspruch nehmen, um das Schlimmste zu verhindern. Der neue schwarz-rote Senat will dieses Vorhaben nicht weiterführen.
Jens Sethmann
Ordnung und Sicherheit in Gefahr?
Im Falle drohender Obdachlosigkeit haben die Bezirksämter die Möglichkeit, die Wohnung zu beschlagnahmen und die Mieter:innen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) wieder in die Wohnung einzuweisen. Danach können die Ordnungsbehörden und die Polizei die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Obdachlosigkeit stellt zwar nach allgemeiner Rechtsprechung eine solche Gefahr da. Doch müssen vorher sowohl Mieter:innen als auch das Bezirksamt alles in ihren Kräften stehende getan haben, diese Obdachlosigkeit zu verhindern. Dies kann z.B. durch die zur Verfügungstellung eines Platzes in einem Obdachlosenwohnheim geschehen. Aus diesem Grund werden solche Beschlagnahmungen von den Bezirksämtern nur äußerst selten vorgenommen.
stk
Vorsicht: Hier droht Wohnungsverlust
Auf einem angespannten Wohnungsmarkt wie Berlin müssen Mieter:innen damit rechnen, dass skrupellose Vermieter:innen auch kleine Verfehlungen als Vorwand für Kündigungen nutzen. So können auch Lappalien zum Wohnungsverlust führen. Mehrfach unpünktliche Mietzahlungen oder ein Mietrückstand von zwei Monatsmieten berechtigen zu einer fristlosen Kündigung. Wer über längere Zeit wegen Wohnungsmängeln die Miete mindert, kann in diese Falle laufen, wenn ein Gericht entscheidet, dass die Mietminderung nicht gerechtfertigt war. Auch wenn die Jobcenter bei der Wohnkostenübernahme Zahlungstermine von Mieter:innen außer Acht lassen oder Wohnungsämter für die Bearbeitung eines Wohngeldantrags ewig brauchen, kann das für Mieter:innen fatal sein. Durch eine Nachzahlung der Fehlbeträge kann man die fristlose Kündigung zwar unwirksam machen. Doch Vermieter:innen sprechen immer häufiger gleichzeitig auch eine ordentliche (fristgemäße) Kündigung aus, die mit einer solchen „Schonfristzahlung“ nicht aus der Welt geschaffen werden kann. Die Bundesregierung hat vereinbart, diese Lücke zu schließen, doch Justizminister Marco Buschmann (FDP) blockiert eine entsprechende Mietrechtsänderung.
js
Wie eine Zwangsräumung abläuft
Wem eine Zwangsräumung droht, sollte das Verfahren kennen. So kann man sich als Mieter oder Mieterin darauf einstellen und notwendige Schritte vornehmen.
§ 885 der Zivilprozessordnung (ZPO) regelt das Verfahren bei einer Zwangsvollstreckung auf Herausgabe, Überlassung oder Räumung einer unbeweglichen Sache, also einer Wohnung oder eines Hauses. Aber auch Wohnwagen oder Wohnmobile können nach dieser Vorschrift zwangsgeräumt werden, wenn sie zu Wohnzwecken dienen. Erforderlich ist im einen wie im anderen Fall, dass ein sogenannter Räumungstitel vorliegt. Das ist in den meisten Fällen das Urteil eines Gerichts. Der Vermieter muss Räumungsklage erheben, im Prozess darlegen und erforderlichenfalls auch beweisen, dass der Mieter zur Herausgabe, also zum Auszug, Entfernen seiner Sachen und Rückgabe aller Schlüssel verpflichtet ist. Nach der Zustellung der Räumungsklage haben Mieter:innen zwei Wochen Zeit, um schriftlich ihre Verteidigungsbereitschaft anzuzeigen. Dies sollte auf jeden Fall geschehen, am besten nach rechtlicher Beratung durch einen Anwalt oder eine Anwältin.
Räumungsfrist in der Verhandlung beantragen
Auch der Mieterverein hilft hier weiter. Zum sogenannten Gütetermin wird man schriftlich geladen und muss persönlich vor Gericht erscheinen. Dies sollte man unbedingt einhalten, denn sonst ergeht ein Versäumnisurteil. Bei der mündlichen Verhandlung kann in jedem Fall eine Räumungsfrist nach § 721 ZPO beantragt werden. Diese beträgt mindestens ein bis zwei Monate, maximal ein Jahr. Sie dient dazu, Mieter:innen die Möglichkeit zu geben, sich eine neue Wohnung zu beschaffen, und so Obdachlosigkeit zu vermeiden. Ein auf Räumung gerichtetes Gerichtsverfahren dauert gewöhnlich fünf bis sechs Monate. Wenn der Mieter oder die Mieterin Härtefalleinwände erhebt und Gutachten eingeholt und Zeugen gehört werden müssen, kann es auch bis zu zwei Jahre dauern.
Das Urteil wird dem Mieter oder der Mieterin zugestellt. Ab dem Moment der Zustellung eines solchen Titels sind die rechtlichen Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun, nur noch sehr eingeschränkt. Es bleiben lediglich die Berufung beim Landgericht oder der Räumungsschutzantrag gemäß § 765 a ZPO. Dieser Antrag muss spätestens zwei Wochen vor dem vom Gerichtsvollzieher oder von der Gerichtsvollzieherin festgesetzten Räumungstermin erfolgen(siehe Seite 31 unten: „Ein Schutz in höchster Gefahr“). Zwischen der schriftlichen Ankündigung des Räumungstermins durch den Gerichtsvollzieher oder der Gerichtsvollzieherin und der eigentlichen Räumung müssen gemäß § 180 Nr. 2 Abs. 2 der Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA) mindestens drei Wochen liegen. Dabei gibt es drei verschiedene Arten, wie eine Räumung durchgeführt werden kann.
Mindestens drei Wochen zwischen Ankündigung und Räumung
Die klassische Variante besteht darin, dass der Gerichtsvollzieher oder die Gerichtsvollzieherin eine Spedition für den Räumungstermin beauftragt, um die sogenannte Habe, also die Möbel und alle sonstigen Sachen, aus der Wohnung zu schaffen. Sind der Mieter oder die Mieterin nicht anwesend und auch keine zur Vertretung bestimmte Person, lässt man die Wohnung öffnen und leerräumen. Die Sachen werden dann eingelagert. So geschieht es auch, wenn der Mieter oder die Mieterin nicht in der Lage sind, die Sachen zu übernehmen und fortzuschaffen.
Für die Kosten der Räumung und der Einlagerung muss der Vermieter oder die Vermieterin einen entsprechenden Vorschuss zahlen. Während die Kosten des Gerichtsvollziehers beziehungsweise der Gerichtsvollzieherin nach dem Gerichtsvollzieherkostengesetz (GvKostG) mit 100 Euro für eine Räumung ohne Spedition und 150 Euro mit Spedition überschaubar sind, sind die Speditionskosten hoch und betragen in der Regel mehrere tausend Euro. Zwar kann der Vermietende diese Kosten vom Mietenden zurückverlangen, ebenso kann er die Herausgabe der eingelagerten Sachen von der vollständigen Bezahlung der Räumungskosten und etwaiger Mietschulden abhängig machen. Doch oft ist der Mieter oder die Mieterin zahlungsunfähig, und die Vermieterseite bleibt auf diesen Kosten sitzen. Aus diesem Grund greifen Vermieter:innen oft zu einer anderen Möglichkeit, der sogenannten Räumung nach Berliner Modell. Hierbei verbleiben die Möbel und Sachen in der Wohnung.
Beliebt ist das Berliner Modell
Nur die Bewohner:innen müssen die Wohnung verlassen, und es werden die Schlösser ausgetauscht. Gegenstände, die nicht Eigentum des Mieters oder der Mieterin sind (weil sie zum Beispiel gemietet oder geleast sind), müssen an diesen herausgegeben werden. Bewegliche Sachen, an deren Aufbewahrung offenbar kein Interesse besteht, können entsorgt werden. Die übrigen Gegenstände muss der Vermieter oder die Vermieterin einen Monat lang aufbewahren. Beansprucht der Mieter oder die Mieterin in diesem Zeitraum unpfändbare Sachen, sind diese auszuhändigen. Als unpfändbar gelten Gegenstände, die dem privaten Gebrauch dienen, also Kleidung, Wäsche, aber auch ein Kühlschrank, ein Schrank oder das Bett. Ebenfalls nicht verwertet werden dürfen Fotos und persönliche Dokumente oder Gegenstände, die für den Beruf des Mieters gebraucht werden. Haustiere sind ebenfalls unpfändbar. Nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist kann der Vermieter den Hausrat verwerten und die pfändbaren Gegenstände in einer öffentlichen Zwangsversteigerung veräußern. Unpfändbare Sachen, auf die der Mieter zuvor keinen Anspruch erhoben hat, dürfen frei verkauft oder auch vernichtet werden.
Stefan Klein
Eher selten: die vorläufige Vollstreckung
Wird in einem Räumungsprozess in erster Instanz auf Räumung entschieden, können die betroffenen Mieter:innen hiergegen Berufung einlegen. Gleichzeitig gibt es die Möglichkeit, dass das Gericht das erstinstanzliche Urteil für vorläufig vollstreckbar erklärt. Dann kann der Vermieter oder die Vermieterin die Wohnung vor dem Berufungsurteil räumen lassen. Allerdings muss für mögliche Schadenersatzansprüche eine hohe Sicherheitsleistung hinterlegt werden. Mieter:innen können die Räumung dann nur abwenden, indem sie Sicherheit in gleicher Höhe leisten – oft ein unerschwinglicher Betrag. Aus diesem Grund sind die Gerichte mit der Anordnung der vorläufigen Räumung zurückhaltend.
Wenn ein Räumungsurteil aus der ersten Instanz vorläufig vollstreckt wurde, dann aber in der zweiten Instanz aufgehoben wird, haben Mieter:innen selten die Möglichkeit, wieder in die Wohnung einzuziehen. Meist scheitert dies daran, dass die Wohnung bereits neu vermietet oder verkauft wurde. Der Vermieter oder die Vermieterin, die bereits vollstreckt haben, ist dann gegenüber Mieterin oder Mieter schadensersatzpflichtig. Er oder sie hat in einem solchen Fall die Differenz zwischen der bisherigen und der neuen Miete zu ersetzen, wenn die Wohnung nach Ausstattung, Zuschnitt, Lage und Größe mit der bisherigen Wohnung vergleichbar ist.
stk
Willkür prägte die Geschichte der Zwangsräumungen
Im 19. Jahrhundert waren Mieter:innen der Vermieterwillkür weitgehend schutzlos ausgeliefert. Mietverträge konnten bei kleinsten Verstößen jederzeit fristlos gekündigt werden. Wer die Miete nicht zahlen konnte, ohne Erlaubnis untervermietete oder ein Haustier hielt, wurde kurzerhand vom Vermieter „exmittiert“, also buchstäblich hinausbefördert: Der Vermieter ließ die Möbel und den Hausrat der Mieter eigenmächtig auf die Straße schaffen.
Die Gerichte waren daran nicht beteiligt. Der Staat hielt sich raus und schickte allenfalls Polizisten, damit die Exmittierung geräuschlos vonstatten ging. Oft solidarisierte sich die Nachbarschaft mit den Geräumten. Es gibt Berichte, nach denen die Nachbarn die Möbel einfach wieder zurück in die Wohnung der Exmittierten getragen oder den Hauswirt in einen zum Abtransport verladenen Schrank gesperrt haben.
Die Exmittierung des Tischlers Hartstock aus der Blumenstraße 51 c löste am 25. Juli 1872 einen großen Auflauf aus, der zu einer Straßenschlacht eskalierte. Erst nach drei Tagen konnte ein massives Polizeiaufgebot den Aufstand niederschlagen. Die Revolte ging als Blumenstraßenkrawall in die Geschichte ein.
Erst nach dem Ende des Kaiserreichs waren durch das Mieterschutzgesetz von 1923 Kündigungen und Räumungen nicht mehr ohne wichtigen Grund erlaubt: erhebliche Belästigungen, Gefährdung der Mietsache, unbefugte Überlassung an Dritte, Zahlungsrückstände oder dringender Eigenbedarf kamen in Frage – an der Liste der Räumungsgründe hat sich bis heute nicht viel geändert. Aber – und hier besteht doch ein bemerkenswerter Unterschied zur Gegenwart: In den meisten Fällen musste vor einer Räumung ein angemessener Ersatzwohnraum nachgewiesen werden. Kündigungen konnten nur mit einer Aufhebungsklage vor einem Mietschöffengericht durchgesetzt werden.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde der Räumungsschutz für Juden aufgehoben. Nach mehreren Stufen der Verfolgung und Entrechtung trat 1939 das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden in Kraft. Juden konnten von nicht-jüdischen Vermietern jederzeit gekündigt werden. Gleichzeitig wurden jüdische Vermieter und Mieter dazu gezwungen, andere Juden in ihren Wohnungen aufzunehmen. In der Folge entstanden die „Judenhäuser“, in denen immer mehr jüdische Menschen zwangsweise auf engstem Raum zusammengepfercht wurden.
Hitler-Architekt Speer lässt nach eigenem Gutdünken räumen
Im Jahr 1941 begann der Generalbauinspektor Berlins, Albert Speer, jüdische Mieter ohne Kündigung zu räumen, was selbst nach den rassistischen Nazi-Gesetzen rechtswidrig war. Die Menschen wurden direkt in osteuropäische Ghettos und in Vernichtungslager deportiert.
Nach dem Krieg galt das Mieterschutzgesetz von 1923 in Ost und West zunächst weiter. Das Zivilgesetzbuch der DDR von 1975 lehnte sich daran an. Vermieter durften nicht selbst Mietverträge kündigen. Gegen den Mieterwillen konnte ein Mietverhältnis nur durch eine gerichtliche Entscheidung beendet werden. Die Gerichte wogen die Interessen der Mieter- und Vermieterseite gegeneinander ab. Zu tatsächlichen Räumungen kam es daher selten.
In der Bundesrepublik wurde das Mieterschutzgesetz zusammen mit der Wohnungszwangswirtschaft der Nachkriegsjahre ab 1960 aufgehoben. Nach und nach wurden „weiße Kreise“ festgelegt, in denen Vermieter:innen wieder grundlos kündigen durften. Das nutzten diese auch vielfach aus, um kräftige Mieterhöhungen durchzusetzen. Die Bundesregierung unter dem Kanzler Willy Brandt (SPD) hat diese Praxis 1972 mit dem Wohnraumkündigungsschutzgesetz beendet. Vermieter:innen können zwar immer noch einseitig Kündigungen aussprechen, müssen sie seither aber mit einem berechtigten Interesse begründen.
Jens Sethmann
Die Zwangsräumung setzt psychisch und physisch unter Druck
Herzrasen, Bluthochdruck, Schlafstörungen – wer zwangsgeräumt wird, durchlebt einen Albtraum. Berliner Fälle zeigen: Manche reagieren mit Gewalt gegen andere oder sich selbst. Die meisten jedoch fügen sich still und verschwinden. Aber es gibt auch jene, die an die Öffentlichkeit gehen. Sie erregen Aufmerksamkeit – vor allem jedoch entfachen sie Widerstand.
Am 26. Juli letzten Jahres machte eine Zwangsräumung in Spandau Schlagzeilen: 150 Polizisten sollten einen 62-Jährigen zum Verlassen seiner Wohnung zwingen. Der hatte zuvor schon die Gerichtsvollzieherin bedroht, sich bewaffnet verschanzt und von innen auf die Wohnungstür geschossen. Am Tag der Räumung richtete er seine Waffe schließlich gegen sich selbst.
Spektakuläre Fälle wie dieser erregen Aufmerksamkeit. Zumindest für ein paar Stunden, vielleicht für ein paar Tage. Die allermeisten Zwangsräumungen laufen jedoch widerstandslos, unspektakulär ab. Nicht selten haben die, die per Räumungstitel zum Auszug mit all ihrem Hab und Gut verpflichtet sind, die Wohnung schon verlassen, wenn Vollzugsbeamte an der Tür klingeln.
Eine Rentnerin im Rollstuhl gab den Startschuss
„Wir haben uns gesagt: Das darf nicht einfach so still über die Bühne gehen“, erinnert sich René Jakubowski. Zusammen mit anderen gründete der Aktivist vor über zehn Jahren das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“. Ein Vorbild für sie damals: Nuriye Cengiz. Die behinderte Seniorin war im Sommer 2012 nicht bereit gewesen, ihre Verdrängung hinzunehmen. Jahrelang hatte sie nach einer behindertengerechten Wohnung gesucht, und nun, wo die Sozialbindung ihres Mietshauses abgelaufen war, sollte sie daraus vertrieben werden. Wochenlang klebten Zettel an den Fenstern ihrer Erdgeschosswohnung am Maybachufer. „Ich, Rentnerin im Rollstuhl, soll raus und will nicht!“ Ihr Hilferuf entfachte Anteilnahme und Solidarität. Als wenig später die Familie Gülbol in der Lausitzer Straße in Kreuzberg geräumt werden sollte, stießen die Beamten auf eine geschlossene Front des Widerstandes.
Seitdem gehört das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ zu jenen, die Fälle öffentlich machen. Einer der skandalösesten war der von Rosemarie F.: Die schwerbehinderte und psychisch kranke 67-jährige war im April 2013 nach langem Kampf um ein Bleiberecht letztendlich doch aus ihrer Reinickendorfer Wohnung geräumt worden. Als Grund wurden Mietrückstände genannt. Die hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen, denn die Mieten waren vom Amt für Grundsicherung übernommen worden. Aber wegen mehrerer Klinikaufenthalte und Eigentümerwechsel bei dem Mietshaus waren die Geldbeträge verspätet eingetroffen. Und obwohl Gerichte zuvor bereits zwei Räumungstermine gegen Rosemarie F. aufgeschoben hatten, unter anderem um „unbillige Härten“ zu vermeiden, musste sie ihre Wohnung schließlich verlassen. In einer Nothilfeeinrichtung im Wedding starb sie zwei Tage nach der Räumung.
„Menschen, die zwangsgeräumt werden stehen unter massivem Druck und haben mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen“, sagt René Jakubowski. Nahezu alle erleben die Zeit nach einer angekündigten Räumung als Extremsituation.
So auch die junge alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Kind in der Eigentumswohnung bei ihrem Freund gelebt hatte – bis der sie rauswarf, weil eine neue Partnerin einziehen sollte. Oder die geflüchtete Familie, die ihren autistischen Sohn in einer Behinderteneinrichtung für Jugendliche untergebracht hatte. Als er dafür zu alt wurde, sollte er die Einrichtung verlassen. Seine ohnehin auf engstem Raum lebende Familie konnte ihn nicht aufnehmen – und wäre zudem mit seiner Betreuung völlig überfordert gewesen. Er wäre in eine Wohnungslosenunterkunft zwangsverlegt worden, wenn das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ nicht massiv Druck gemacht hätte. Nun wird nach einer besseren Lösung für den jungen Mann gesucht.
Der 69-jährige Reinhard St. wehrte sich über Jahre mit Unterstützung des Bündnisses gegen die Verdrängung aus seiner Kreuzberger Ein-Zimmer-Wohnung. Hier lebte er seit 1979. Er war der letzte Bewohner des Mietshauses. Die Eigentümerin hatte es zwecks Umbau und Aufteilung in Wohneigentum systematisch entmietet. Im Oktober musste dann auch Reinhard St. raus. Seine „Alternative“: Ein Schlafplatz im Mehrbettzimmer einer Wohnungslosenunterkunft. Der Rentner zog stattdessen in ein von mehr als 50 Obdachlosen besetztes Haus in der Habersaathstraße. Ob er und alle anderen bleiben dürfen, ist ungewiss. Die Eigentümerin versucht seit Langem, den Block mit etwa 100 Wohnungen leer zu bekommen, um ihn abzureißen und an seiner Stelle neu und luxuriös bauen zu können.
Rosemarie Mieder
Ein Schutz in höchster Gefahr
Vollstreckungsschutz ist ein Ausnahmefall und wird nur gewährt, wenn die Räumung eine unzumutbare Härte darstellt: Wenn Leben oder Gesundheit der Bewohner:innen oder naher Angehöriger durch die Räumung ernstlich bedroht sind, kann die Räumung ausgesetzt werden. Das muss jedoch glaubhaft belegt werden. Bei einem Antrag auf Räumungsschutz ist es sinnvoll, wenn die Räumungsbenachrichtigung schon vorliegt. Der Antrag sollte spätestens zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin beim zuständigen Amtsgericht eingehen.
rm
Zwangsgeräumt – was nun?
Nach der gesetzlichen Definition ist wohnungslos, wem keine Wohnung zur Verfügung steht. Als wohnungslos werden alle Menschen bezeichnet, die über keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum verfügen, obdachlos sind, in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege oder in kommunalen Einrichtungen leben. Auch Menschen, die ohne Untermietvertrag vorübergehend bei Freund:innen oder Verwandten unterkommen, gelten daher als wohnungslos. Doch es gibt Hilfsmöglichkeiten.
Verständlicherweise fallen viele Menschen angesichts einer drohenden Zwangsräumung in eine Art Schockstarre. Doch wer sich schnell um Beratung und Hilfe bemüht, dessen Chancen sind deutlich größer, die Folgen einer Räumung abzumildern und schnell wieder aus der Wohnungslosigkeit herauszukommen.
In Berlin gibt es nicht viele Wohnungen, die für arme Menschen bezahlbar sind. Wohnungslose haben es bei der Wohnungssuche besonders schwer, da manche Vermieter:innen ihnen gegenüber Vorurteile haben. In Berlin gibt es daher schon seit 30 Jahren einen Kooperationsvertrag zwischen dem Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin, den 12 Bezirksämtern und der Wohnungswirtschaft, der unter dem Namen „Geschütztes Marktsegment“ bekannt ist. Um die 1000 bezahlbare Wohnungen werden auf diesem Weg jährlich unter anderem an akut wohnungslose Menschen vermittelt.
„Geschütztes Marktsegment“ und „Housing first“
Ein noch neues Angebot in Berlin ist „Housing First“. Hier können Wohnungslose quasi direkt von der Straße in eine eigene Wohnung ziehen. Sie erhalten zusätzlich ein Unterstützungsangebot, das sie annehmen können, aber nicht müssen. Neben den Unterkünften gibt es für wohnungslose Menschen viele weitere Unterstützungsangebote. Niedrigschwellige Hilfen sind beispielsweise Wohnungslosentagesstätten, Bahnhofsmissionen, Unterstützung durch Straßensozialarbeit, Beratungsstellen und Angebote zur medizinischen Versorgung. Dort können sich Betroffene tagsüber aufhalten, werden versorgt (zum Beispiel mit Essen und Kleidung) und medizinisch betreut. Auf Wunsch werden weiterführende Hilfen vermittelt. Ebenso stellen auch die Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern eine große Hilfe dar.
Eine intensivere Einzelfallhilfe über einen längeren Zeitraum wird im Rahmen der Angebote freigemeinnütziger Träger für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten nach §§ 67–69 Sozialgesetzbuch XII angeboten. Zuständig ist jeweils das Amt für Soziales beim Bezirksamt des letzten Wohnsitzes.
Konkret besteht die Hilfe in der Vermittlung einer Wohnmöglichkeit, Beratung und bei der Neuanmietung von angemessenem Wohnraum (beispielsweise durch Gewährung eines Darlehens für die Mietkaution) sowie Unterstützung und Beratung bei Schulden (insbesondere Miet- und Energieschulden). In Anspruch nehmen kann man Beratung bei Wohnungslosigkeit oder drohendem Verlust der Wohnung.
Bei den nachfolgend aufgelisteten Unterlagen ist ganz besonders darauf zu achten, dass sie bei der Räumung persönlich vom Mieter oder der Mieterin an sich und mitgenommen werden: Ausweis-Dokument (zum Beispiel Personalausweis, Reisepass), Aufenthaltstitel, Nachweis über den letzten Wohnsitz oder Meldebescheinigung, Mietvertrag und vorhandene Unterlagen zur Wohnung, zum Beispiel Schreiben über die Änderung der Miete, Mietkonto-Auszug, Mahnungen, Kündigungsschreiben, Mitteilung über die Räumungsklage, Mitteilung über die Zwangsräumung, Mitteilungen des Energie-Versorgers, dass der Strom abgestellt wird.
Hilfsangebote nicht nur in Wohnungsfragen
Der Arbeitskreis Wohnungsnot ist ein seit 1990 bestehender Zusammenschluss von mehr als 70 Einrichtungen und Institutionen freigemeinnütziger und öffentlicher Träger der Berliner Wohnungslosenhilfe, der sich als Lobby für Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen versteht. Dazu gehören unter anderem Beratungsstellen, Tagesstätten, unterstützende Wohnformen und Krisenhäuser. Beteiligt sind auch Jobcenter sowie Hochschulen und Betroffeneninitiativen.
Der Internationale Bund (IB) hilft wohnungslosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen dabei, ihre Wohnung zu behalten oder ein Dach über dem Kopf zu finden. Einzelpersonen, Alleinerziehende, Paare und Familien finden an 17 Standorten in Berlin Unterstützung.
Auch das Netzwerk der Caritas hilft beim Erhalt der noch vorhandenen beziehungsweise bei der Suche nach einer geeigneten neuen Wohnung. Das Angebot umfasst Beratung und Begleitung bei Ämterangelegenheiten und Themen wie Geld; Haushalt, Gesundheit, Beruf und Freizeit.
Stefan Klein
Adressen für den Notfall
Kontakt zu den Ämtern für Soziales der einzelnen Bezirke und weitere Hilfsmöglichkeiten:
https://service.berlin.de/dienstleistung/324485/
Arbeitskreis Wohnungsnot c/o ALBATROS Wohnhilfe, z.Hd. Christian Fender, Wartenberger Straße 24, 13053 Berlin, Telefon 030 39047411
www.ak-wohnungsnot.de
mail@ak-wohnungsnot.de
Internationaler Bund – IB Berlin-Brandenburg gGmbH für Bildung und soziale Dienste (IB Berlin-Brandenburg gGmbH), Rigaer Straße 44, 10247 Berlin, Telefon 030 629017-0
Berlin-Brandenburg@ib.de
Ambulante Wohnungslosenhilfe der Caritas
Friedrichshain-Kreuzberg (mit Außensprechstunde in Neukölln, vermittelt auch zu anderen Stellen der Caritas), Mehringdamm 126, 10965 Berlin,
S 030 666 333-90/-80/-81/-82/-96
awh-am-mehringdamm@caritas-berlin.de
Solidarität durch Öffentlichkeit: Das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“
„Manne bleibt!“, steht auf den selbstgemalten Plakaten. 84 Jahre, sein ganzes Leben wohnt Manfred Moslehner in der Gartensiedlung am Steinberg in Berlin-Tegel. Moslehner: „Ich wüsste nicht, was ich ohne die anderen machen würde. „Die anderen“ sind seine Nachbarn und die Initiator:innen des „Bündnis Zwangsräumung verhindern“. Die kämpfen seit Jahren für die Mieter:innen in dem 1920 erbauten Ensemble mit seinen vier Straßen und 62 Wohneinheiten in der „Kleinhaussiedlung am Steinberg“. „Stonehill Garden“ soll verkauft und saniert werden, im Makler-Sprech: „Wohnen in seiner schönsten Form – sozusagen in Urlaubsatmosphäre –, davon profitieren Eigennutzer und Kapitalanleger in gleicher Weise.“
Vor zehn Jahren rief die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zur „Nationalen Strategien zur Überwindung von Wohnungsnot und Armut in Deutschland“ auf. Nicht soziale oder psychosoziale Bedingungen seien für Wohnungslosigkeit verantwortlich, sondern der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, der nicht nur die ganz unten, sondern auch die Mittelschicht betrifft. Nicht jede Zwangsräumung impliziert die Obdachlosigkeit, die die EU bis 2030 „abgeschafft“ sehen will, doch der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm, der zusammen mit Laura Berner und Inga Jensen 2013 an der Humboldt-Uni eine fundierte Studie zu „Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems“ veröffentlicht hat, weiß, dass sich in der letzten Dekade die Lage für von Zwangsräumungen Betroffenen dramatisch verschärft hat.
Initiativen wie das Bündnis Zwangsräumung verhindern kämpfen für die, die keine Lobby haben. Sie wollen informieren – in Haustürgesprächen, mit Öffentlichkeitsarbeit in Form von Plakaten und Social-Media-Einträge, um Zwangsräumungen zu verhindern und die Politik aufzurütteln, damit in Berlin nicht Londoner Verhältnisse einziehen.
Da sind die schwindelerregenden Kurven zu Mietsteigerungen, zu Umwandlung und Verkäufen von Eigentumswohnungen, zum Schrumpfen des Sozialwohnungsbestands (205 746 noch 2007 – 84 927 im Jahr 2022). Nicht zu vergessen: das Hoch der Immobilientransaktionen 2021 mit einem Umsatz von 23 786 Millionen Euro – das unter anderem die Grundlage für neue Eigenbedarfskündigungen bildet, aus denen dann häufig wieder Zwangsräumungen erwachsen.
Eine solche und der Fall in die drohende Obdachlosigkeit ist Existenznot pur („selbst erlebt“), erzählt Thomas, verrentet, vom Mieterbeirat Hohenschönhausen. Arm, einsam, alleinstehend sind zumeist die von Zwangsräumung Bedrohten, die sich an das Bündnis Zwangsräumung verhindern wenden. Auch alleinerziehende Mütter sind betroffen, bei denen durch unglückliche Verkettungen von Maßnahmen des Jugendamts und des sozialpsychiatrischen Dienstes nicht nur die Wohnung weg ist, sondern auch die Kinder. Alle, die sich an das Bündnis wenden, erfahren vor allem eines: Solidarität, Demonstrationen vor Vermietungsbüros, kollektive Aktionen vor den betroffenen Häusern und ein solidarisches Auftreten vor Gericht.
Die Initiative arbeitet ehrenamtlich. Das Bündnis schafft es mit Hilfe von Spenden, die „Repressionskosten“ aufzubringen: Strafen für Widerstand gegen die Staatsgewalt und Anwaltskosten. Eine Mitarbeiterin: „Wir politisieren. Es gibt keine Einzelfälle. Wir nehmen hier vor allem die anti-kapitalistische Perspektive in einem menschenverachtenden System ein.“ Immer wieder sind Einweisungen in die Psychiatrie mit Zwangsräumungen verbunden, die Menschen stehen bei der Entlassung vor dem Nichts. Baumert berichtet auch von abnehmender Solidarität zwischen Nachbar:innen. Eine fünfköpfige Familie war den anderen im Haus zu laut, Beschwerden beim Vermieter folgten, dann die Zwangsräumung, die mit dem Bündnis verhindert werden konnte. Andrej Holms Studie von vor zehn Jahren benennt schonungslos die Merkmale des bezirklichen Hilfesystems: Überforderung, Aussortierung, Verschiebung der Verantwortung. Das Jobcenter agiert als Problemverstärker. Die Studie beschreibt die Unfähigkeit der Bezirke, auf den veränderten Wohnungsmarkt und den erhöhten Verdrängungsdruck zu reagieren.
Ein Nachbar aus der Steinberg-Siedlung, dem der Kampf gegen die „Stonehill Gardens“-Verwerter mittlerweile zum Vollzeit-Job geworden ist: „Manne ist nur der Anfang, weil er älter und alleine ist. Er ist das schwächste Glied. Wenn es bei ihm klappt, machen sie mit uns weiter.“ Aber der Rentner hat angekündigt, renitent zu bleiben: „Und wenn sie mich mit den Füßen zuerst aus der Tür tragen.“
Silke Kettelhake
www.woundwie.de/de
Hilfen im Wohnungsnotfall in Deutschland, mehr als 1400 Datensätze der BAG Wohnungslosenhilfe e. V.
https://housingnotprofit.org
European Action Coalition for the Right to Housing and to the City
30.03.2024