Wohnungsbau von Frauen für Frauen – das war das Anliegen der israelisch-deutschen Architektin Myra Warhaftig. Gegen zähe Widerstände setzte sie durch, dass im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) 1984/87 in Berlin auch Architektinnen ihre emanzipatorischen Wohnkonzepte in die Tat umsetzen konnten. Als Bauhistorikerin holte sie deutsche jüdische Architekt:innen aus dem Vergessen.
Myra Warhaftigs aus Polen stammenden Eltern waren einige Jahre vor ihrer Geburt 1930 in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, das heutige Israel, gekommen. Ihr Vater baute in Haifa eine Druckerei auf.
20jährig studierte Myra Warhaftig 1950 bis 1955 als eine der ersten Frauen in Haifa Architektur. Ende der 50er Jahre ging sie nach Paris, wo sie für das Architekturbüro Candilis-Josic-Woods arbeitete. Nach Berlin kam sie, als die Architekten im Jahr 1963 den internationalen Wettbewerb für den Campus der Freien Universität (FU) gewannen. Ihr Chef Shadrach Woods und ihr Kollege Manfred Schiedhelm eröffneten am Magdeburger Platz ein Büro. Die Architektin arbeitete hier vor allem an der umstrittenen Fassadengestaltung des Universitätsgebäudes, für das sich nach der Fertigstellung im Jahr 1973 der Name „Rostlaube“ einbürgerte. Sie war auch beteiligt an Woods’ Entwurf der „Wohnhausgruppe 918“ im Märkischen Viertel: Die 621 Wohnungen am Senftenberger Ring wurden 1969 bis 1971 gebaut. Auch die Hamburger Großsiedlung Steilshoop plante sie mit.
An der Technischen Universität promovierte sie 1978 mit ihrer Doktorarbeit „Die Behinderung der Emanzipation der Frau durch die Wohnung und die Möglichkeit zur Überwindung“. Darin entwickelte sie neuartige familiengerechte Wohnungsgrundrisse, die durch eine offene Raumaufteilung die Küchenarbeit und die Kinderbetreuung gleichzeitig ermöglichen, aber diese Tätigkeiten nicht automatisch der Frau zuschreiben. Myra Warhaftig hat dazu das Konzept der flurlosen Wohnung weiterentwickelt. Im Zentrum steht als größtes Zimmer die „Wohnraumküche“. Die übrigen Räume sind in der Nutzung nicht festgelegt.
Die Idee beruhte auch auf eigener Erfahrung. Die Altbauwohnung in der Nassauischen Straße 36, die die Architektin mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern bewohnte, erschien ihr für das Familienleben ungeeignet. Nach der Trennung von ihrem Ehemann zog Myra Warhaftig 1972 in eine neu gebaute Sozialwohnung in der Einemstraße 8.
Idealgrundriss war die „Wohnraumküche“
Der auf eine „Normalfamilie“ zugeschnittene Standardgrundriss, den sie auch selbst im Märkischen Viertel hundertfach mitproduziert hatte, erwies sich für ihre Situation als alleinerziehende, berufstätige Frau mit zwei Kindern als unpraktisch. Ihre Erkenntnis: „Schon längst haben die Wohnerfahrungen gezeigt, dass die Anzahl der Räume, ihre Größe und ihre Zuordnung zueinander das Wohnverhalten begünstigen oder behindern können. So hängt es also von der räumlichen Ordnung der Wohnung ab, wie sich Berufstätigkeit, Kinderbetreuung und Hausarbeit miteinander vereinbaren lassen.“
Im Rahmen der IBA konnte sie ihre Ideen mit einem Wohnhaus in der Dessauer Straße 38-40 verwirklichen. Zwischen 1991 und 1993 entstanden hier 24 Wohnungen mit zwei bis fünf Zimmern. Ihre Idealgrundrisse musste sie den Richtlinien des Sozialen Wohnungsbaus annähern, das Prinzip blieb aber erhalten: Die „Wohnraumküche“ ist gleichzeitig Eingang, Esszimmer und Kochplatz und bildet den Zugang zu allen Räumen und den Loggien. „Während die Kleinkinder spielen oder die etwas größeren Kinder ihre Schularbeiten machen, kann in der ‚Wohnraumküche‘ zur gleichen Zeit die Hausarbeit erledigt werden.“ So beschreibt die Architektin die Vorteile des Entwurfs. „Es gibt also ständig einen visuellen und akustischen Kontakt zu den Kindern, der sich für deren seelische Entwicklung als unerlässlich erwiesen hat.“ In jedem Aufgang gibt es außerdem einen ebenerdigen Abstellraum für Kinderwagen und im Keller einen Gemeinschaftsraum – Extras, die im Sozialen Wohnungsbau nicht üblich waren. Nach der Fertigstellung des Hauses zog Myra Warhaftig 1993 selbst dort ein.
Männer-Jury für emanzipatorisches Wohnen?
Dass das Haus erst sechs Jahre nach dem Ende der IBA fertig wurde, lag auch an einem zähen Streit mit dem IBA-Planungsdirektor Josef Paul Kleihues. Schon 1981 forderte die „Feministische Organisation von Planerinnen und Architektinnen“ (FOPA), bei der Bauausstellung auch eine frauengerechte Planung umzusetzen. Die IBA-Spitze kam dem nur widerwillig nach und leistete sich 1986 einen denkwürdigen Fehltritt: In einem Entwurfsseminar zum emanzipatorischen Wohnen im Baublock zwischen Stresemann-, Dessauer und Bernburger Straße sollte eine ausschließlich mit Männern besetzte Jury über Entwürfe von Männern entscheiden. Die FOPA protestierte lautstark, was bei Josef Paul Kleihues auf Unverständnis traf. Er sprach von einem „teils spekulativen, teils dogmatisch provozierten Glauben, dass ‚Frauenarchitektur‘ sensibler und einfühlsamer sei“. Er kam aber nicht umhin, den Frauen drei der sechs Baugrundstücke zuzugestehen – was dem gesamten Block den Namen „Frauenblock“ einbrachte, obwohl die anderen drei Bauflächen weiterhin von männlich dominierten Architektenteams beplant wurden. Neben Myra Warhaftig wurden die Architektinnen Christine Jachmann und Zaha Hadid beauftragt.
Aus Rücksicht auf die St. Lukas-Kirche in der Bernburger Straße sind die Häuser des „Frauenblocks“ auf vier Geschosse beschränkt und zurückhaltend gestaltet. Myra Warhaftigs gelbe Ziegelfassade hat unregelmäßig angeordnete Fenster, wirkt aber sonst schlicht – im Gegensatz zu Zaha Hadids Gebäude, das scharfkantig in die Ecke zur Stresemannstraße hineinragt und mit sieben Stockwerken die Häuser ihrer Kolleginnen übertrumpft.
Blick auf jüdische Architektur-Geschichte
Myra Warhaftig lehrte an verschiedenen Hochschulen und erforschte ab Mitte der 1980er Jahre das Leben und Wirken deutschsprachiger jüdischer Architekten vor und nach 1933. Darüber verfasste sie unter anderem ein voluminöses Lexikon. Eine geplante Ausstellung im Jüdischen Museum zu diesem Thema konnte sie nicht mehr verwirklichen. Myra Warhaftig starb am 4. März 2008 in Berlin.
Jens Sethmann
Unverhoffter Wechsel vom Rand in die Mitte
Das Wohnhaus in der Dessauer Straße 38-40 wurde quasi im Schatten der Mauer geplant, befand sich aber beim Baubeginn 1991 unversehens mitten in der Stadt. Es gehört weiterhin zum Bestand der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Degewo und unterliegt noch bis Ende 2044 den Sozialbindungen des geförderten Wohnungsbaus. Besondere Belegungsrichtlinien, die etwa Frauen, Alleinerziehende oder Familien mit Kindern bei der Vermietung der Wohnungen bevorzugen würden, gelten hier allerdings nicht mehr. Seit 2011 erinnert am Haus eine Berliner Gedenktafel an Myra Warhaftig.
Die FU-Rostlaube wurde von 1999 bis 2007 komplett saniert. Die Fassade aus Cortenstahl sollte ursprünglich nur an der Oberfläche korrodierten, ist aber im Laufe der Jahre stellenweise durchgerostet. Jetzt hat die Rostlaube eine Fassade aus farblich ähnlichem Kupferblech.
js
Bücher von Myra Warhaftig:
Sie legten den Grundstein – Leben und Wirken deutschsprachiger Architekten in Palästina 1918–1948, Berlin 1996
Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933 – Das Lexikon, Berlin 2005
Bücher über Myra Warhaftig:
Günter Schlusche u.a. (Hrsg.): Myra Warhaftig – Architektin und Bauforscherin, Berlin 2020
Anna Krüger: Emanzipatorisches Wohnen – Myra Warhaftigs Beitrag zur Internationalen Bauausstellung 1984/87, Karlsruhe 2021
31.01.2024