Wenn im Jahr 2006 Berlins neuer Hauptbahnhof eröffnen wird, steht er mitten im Nichts. Der imposante Glasbau befindet sich zwar nah am geografischen Mittelpunkt der Hauptstadt. Doch rundherum gibt es für die Fahrgäste wenig Grund, auszusteigen: Auf der einen Seite liegt ein großes Güterbahnhofsgelände, auf der anderen Seite steht das auch nicht gerade vor Urbanität brummende Regierungsviertel. Das wäre nicht so schlimm, wenn man vom Zentralbahnhof aus problemlos alle Stadtteile erreichen könnte. Doch die Anbindung an das Nahverkehrsnetz bleibt zunächst dürftig.
Pünktlich zum Start der Olympischen Spiele 2000 sollten die zentralen Bahnanlagen Berlins fertig sein. Weder aus dem einen noch aus dem anderen ist etwas geworden. Die Eröffnung des an der Stelle des kleinen Lehrter Bahnhofs gebauten Hauptbahnhofs wurde danach mehrmals verschoben, bis man einen neuen symbolträchtigen Ankertermin gefunden hatte: die Fußballweltmeisterschaft 2006. Die Zuschauer der sechs in Berlin auszutragenden Spiele hätten zwar auch ohne Zentralbahnhof anreisen können, doch am 28. Mai 2006 wird definitiv der erste Fernzug im neuen Hauptbahnhof halten.
Miserable Nahverkehrsanbindung
Ob es eine gute Idee war, Berlin einen zentralen Hauptbahnhof zu verpassen, muss die Zukunft zeigen. In den nächsten Jahren wird der neue Bahnhof nur wenig Anreiz bieten, ein- oder auszusteigen, denn für die meisten Berliner ist er ausgesprochen schlecht zu erreichen. Für viele wird es günstiger sein, wie gewohnt am Zoo oder am Ostbahnhof die Reise anzutreten. Die Nahverkehrsanbindung des Hauptbahnhofs beschränkt sich im Wesentlichen auf die Ost-West-Verbindung der Stadtbahn. Die U-Bahn-Anbindung besteht lediglich aus dem Stummel der U 55, die nur bis zur S-Bahn-Station Unter den Linden verkehrt.
Der Tunnelbau für die Nord-Süd-S-Bahn 21, die eine Verbindung zum Gesundbrunnen und zum Bahnhof Papestraße herstellen sollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Nicht einmal die Straßenbahnanbindung kommt rechtzeitig zu Stande: Durch einen Planungsfehler des Senats kann die aus Richtung Prenzlauer Berg kommende Linie M 20 erst 2008 auf der Invalidenstraße an den Hauptbahnhof herangeführt werden. Wer in den nördlichen oder südlichen Stadtteilen wohnt, muss also mindestens einmal umsteigen, um den Hauptbahnhof zu erreichen.
Im unmittelbaren Umfeld des Bahnhofs herrscht gähnende Leere. Der Bahn bleibt nichts anderes übrig, als die Entwicklung selbst anzuschieben. Dazu muss notgedrungen zunächst der Bahnhof selbst zum Anziehungspunkt werden: Das 700 Millionen Euro teure Bauwerk wird – mehr noch als alle anderen Berliner Bahnhöfe – zur Shopping-Mall mit Gleisanschluss. Der Vorteil: In Bahnhöfen unterliegen die Geschäfte nicht dem Ladenschlussgesetz. Im Herbst hat die Bahn damit begonnen, die 15.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche zu vermieten. Dazu wurde sogar die prognostizierte Zahl der Reisenden pro Tag von 240.000 auf jetzt 300.000 hochgerechnet. Und um Büroleerstand zu vermeiden, will die Bahn ihre Konzernzentrale vom Potsdamer Platz hierher verlegen.
Auch den Bau eines Bahnhofsviertels will die Bahn in die eigene Hand nehmen. Die Bahnflächen-Entwicklungsgesellschaft Vivico plant, zwischen Bahnhof und Spreeknie ein „Lehrter Stadtquartier“ zu bauen. Die sieben Gebäude sollen „eine neue Top-Adresse für Büros, Einzelhandel und Wohnen“ werden. Der Realisierungszeitraum ist etwas vage mit 2005 bis 2010 angegeben.
Mehr Rand als City
Noch trüber sind die Aussichten auf der Nordseite des Bahnhofs. Die Heidestraße ist alles andere als ein würdiges Umfeld für einen hauptstädtischen Renommierbahnhof. Lagerhallen, Großmärkte, Speditionen, eine Tankstelle und einige weitgehend leere Wohnhäuser stehen an der lauten, staubigen Durchgangsstraße. Weit und breit ist kein Investor in Sicht.
Bis zum vergangenen Sommer war das Gelände für den Neubau des Bundesnachrichtendienstes (BND) im Gespräch. Der Geheimdienst, der jahrzehntelang im Münchner Vorort Pullach glücklich war, wollte plötzlich ganz nah bei der Macht sitzen. Mehrere Berliner Standorte wurden geprüft: Flughafen Tempelhof, Lichterfelde-Süd, Adlershof, Chausseestraße und Heidestraße. Der BND entschied sich mit der Bundesregierung und dem Senat im Rücken für das Gelände an der Chausseestraße, wo einst das Stadion der Weltjugend stand – gegen den Widerstand des Bezirks Mitte. Die Chausseestraße ist für eine sicherheitsrelevante Nutzung wie eine Geheimdienstzentrale der sicherlich schlechteste Standort. Hochumzäunte Baukomplexe wären überall weniger störend als hier. Bezirksbürgermeister Joachim Zeller befürchtet ein „großes schwarzes Loch“, das das Zusammenwachsen der Ortsteile Mitte und Wedding sehr erschweren könnte.
Dabei wäre der BND an der Heidestraße sogar noch näher am Kanzleramt und am Bundesinnenministerium. So aber bleibt der „nördliche Cityrand“ mehr Rand als City. Vor einem Jahr hat die Bahn auch den „Hamburg und Lehrter Containerbahnhof“, Berlins größten Schienenverkehrsumschlagplatz, geschlossen und den Frachtverkehr auf die Güterverteilzentren in Großbeeren und Wustermark umgeleitet: 50 Hektar neues Brachland an der Heidestraße.
Die Senatsverwaltung träumt hier von einer goldenen Zukunft: Das Areal gehört zu den vier Schwerpunktgebieten des Wasserlagenentwicklungsplans. „Nördlich des neuen Zentralbahnhofs am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal sollen neue Wohn- und Arbeitsquartiere durch die Orientierung zum Wasser an Attraktivität hinzugewinnen“, heißt es wohlklingend in den Planunterlagen. Für das Gebiet links und rechts der unwirtlichen Heidestraße gibt es ein städtebauliches Konzept, das „abgestufte Nutzungsbänder zwischen Bahntrasse und Wasserlage“ vorsieht. „Während an der Bahn kompakte Baukörper für serviceorientierte Kleingewerbetreibende und Dienstleister sowie Firmensitze mit Tuchfühlungsbedarf zu Hauptstadteinrichtungen entstehen sollen, können sich an der Invalidenstraße Tagungseinrichtungen, Hotels und andere zentrale Nutzungen ansiedeln. Zum Wasser orientiert wird aufgelockerte Wohnbebauung vorgesehen.“ Realitätssinn herrscht immerhin bei der Einschätzung des Zeithorizonts: Die Entwicklung werde „zeitlich gestuft“ und „von der Entwicklungsdynamik des Lehrter Stadtquartiers und der Nachfrage nach regierungsnahen Nutzungen mitbestimmt“. Die Pläne sind zudem abhängig von der Verlegung der Heidestraße nach Westen. Die Straße soll einmal parallel zum heutigen Verlauf den Verkehr über das Containerbahnhofsgelände führen. Zunächst wird jedoch der Autostrom aus dem Tiergartentunnel, der noch in diesem Jahr eröffnet wird, auf die bestehende Heidestraße gelenkt, die dadurch ganz bestimmt nicht attraktiver wird. Auch die Bahn als größter Grundeigentümer glaubt offenbar nicht an einen baldigen Aufschwung: Auf Werbetafeln sucht die Vivico nach Mietern für ihre leer stehenden Gewerbeflächen.
Jens Sethmann
MieterMagazin 3/05
Zentral im Nichts: der neue Hauptbahnhof, Brache an der Südseite
Foto: Christian Muhrbeck
Trübe Aussichten auch auf der Nordseite des Hauptbahnhofs: die Heidestraße mit Speditionen und Lagerhallen
Foto: Christian Muhrbeck
Zum Thema
Stadtumbau West für Gewerbeentwicklung
Das Gebiet „Heidestraße/nördlicher Cityrand“ ist auch für den Stadtumbau West im Gespräch. Das im letzten Jahr analog zum Stadtumbau Ost aus der Taufe gehobene Bund-Länder-Programm soll West-Kommunen helfen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche zu bewältigen. In der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung diskutiert man zurzeit, auf welche räumlichen Standorte sich Berlin beim Stadtumbau West konzentrieren will und welche Ziele verfolgt werden sollen. Anders als in den Stadtumbau-Ost-Gebieten in Marzahn-Hellersdorf, wo Wohnungsabrisse und Infrastrukturverbesserungen im Mittelpunkt stehen, bezieht sich der Stadtumbau West in einem Areal wie der Heidestraße auf die Umstrukturierung und Entwicklung von Gewerbeflächen. Fest steht bisher allerdings nur der Grundsatz, dass Berlin sich am Stadtumbau West beteiligen will.
js
04.08.2013