Graues Einerlei: Platte und Haftanstalt – überwiegend Negativ-Klischees existieren über Hohenschönhausen. Auf den Spuren der Geschichte lohnt es sich jedoch, solche Klischees zu hinterfragen. Alles andere als harmonisch ist der Ortsteil seit langer Zeit von einem architektonischen Nebeneinander großstädtischer und dörflicher Strukturen gekennzeichnet. Schon in der Gründerzeit streckte Berlin gierig seine Finger nach den Rändern aus. Die noch vor der Eingemeindung Hohenschönhausens in die Stadt Groß-Berlin im Dezember 1918 geborene Hildegard Dockal weiß aus ihrer Kindheit viele Geschichten zu erzählen, die diese Unentschiedenheit eines Dorfes auf dem Sprung in die urbane Moderne lebhaft widerspiegeln.
Wer sich heute mit der Straßenbahn jenseits der Landsberger Allee einmal die Konrad-Wolf-Straße entlang wagt, wird überrascht sein, wenn der Blick nach Kilometern sozialistischer Betonplattenbauten unvorbereitet auf typische Berliner Altbauten trifft – ein Straßenbild, das sich kaum von dem anderer östlicher Altbaubezirke wie Pankow oder Friedrichshain unterscheidet. Viele der Häuser sind mittlerweile saniert und die stille grüne Oase inmitten winkeliger Dorfkaten, die sich rund um den Oranke- und den Obersee schmiegt, lockt sonntags Scharen vergnügter Spaziergänger an, die sich an dem touristisch relativ unerschlossenen Naherholungsgebiet erfreuen.
Hildegard Dockal wuchs in der Quitzowstraße 51 auf, der heutigen Simon-Bolivar-Straße, die damals von der Berliner Straße ausgehend (heute: Konrad-Wolf-Straße) auf dem Feld endete. Bis heute hat sich die Straße kaum verändert, abgesehen vom Namen. Brachliegende Industriegelände, die vor dem Krieg noch florierende Anlagen beherbergten und einige unsanierte Häuser mit blinden Fenstern säumen vereinzelt die Straße. Ein wenig scheint sich hier das Gefühl der landschaftlichen Weite gehalten zu haben, das die Umgebung in den 20er Jahren dominierte – trotz der 80 Jahre, die zwischen Hildegard Dockals Kindheit und der Gegenwart liegen. Lediglich das gigantomanische Sportzentrum zwischen Weißenseer Weg und Konrad-Wolf-Straße, auf das man am oberen Ende der Quitzowstraße blickt, lässt die tiefgreifenden Veränderungen erahnen, die der Betonwahn Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre bewirkte, den man heute mit Hohenschönhausen assoziiert.
Erst zwei Jahre nach Hildegard Dockals Geburt wurde die einstige Niederbarnimer Landgemeinde zum Ortsteil des neugeschaffenen 18. Verwaltungsbezirkes Weißensee. „Bist gar keine Berlinerin, haben meine Kinder immer zu mir gesagt“, bekennt sie lachend. „Weil ich doch auf mein Berlin so stolz bin!“
Der improvisierte Brutkasten
Ganze zweieinhalb Pfund wog die kleine Hildegard bei ihrer Geburt und mangels technischer Alternative wurde sie kurzerhand in einen Schuhkarton gesteckt und in die Ofenröhre geschoben. Der improvisierte Brutkasten muss wohl funktioniert haben, denn schon bald ging das hungrige Mäulchen ihrem kriegsmüden Vater auf die Nerven. „Meine Eltern hatten erst im Mai geheiratet und das ging nicht sehr gut miteinander. Da ich wohl sehr viel geschrien habe, hat mein Vater gesagt: Stell das Balg auf den Balkon!“ Und das im Winter – wohl einer der Gründe, warum sie heute nicht traurig darüber ist, dass der Vater noch vor Weihnachten die Familie verließ und in seine ostpreußische Heimat zurückkehrte.
Geradezu prototypisch für das moderne Hohenschönhausen in den 20er Jahren lebte die allein erziehende Mutter Dora in einem repräsentativen Bürgerhaus mit Seitenflügel. Im Gegensatz zu den Berliner Innenstadtbezirken beherbergten die Höfe dieser Häuser jedoch selten ein Hinterhaus, sondern in der Regel Gewerbeeinheiten. Im Fall der Quitzowstraße 51 war dies ein Bauernhof – für städtische Verhältnisse eine äußerst ungewöhnliche Verbindung. Die Ställe für Großvieh und Geflügel grenzten unmittelbar an den rechten Seitenflügel an, verbunden durch einen hohen Schornstein, der die Feuerstelle markierte, auf der das Futter für die Tiere gekocht wurde. „Manchmal hat mich der Bauer Meißner auch mit aufs Feld genommen“, erinnert sich Hildegard Dockal. Im Vorderhaus gab es zwei kleine Ladengeschäfte, rechts von der Hofdurchfahrt eine Bäckerei und links das Geschäft, in dem die Bauern ihre Milch direkt vom Hof verkauften.
Im Jahre 1921, die kleine Hilde war drei Jahre alt, zog die Familie aus dem Vorderhaus in den ersten Stock des Seitenflügels um. „Unser Hauswirt hatte zwei Söhne, einer von denen besaß ein Möbelgeschäft. Der hatte meiner Mutter eine Schlafstubeneinrichtung versprochen, wenn sie nach hinten zieht und ihm die Vorderhauswohnung lässt. Diese Möbel konnte sie gut gebrauchen, denn sie hatte gerade meinen zweiten Vater geheiratet.“ Zusammen mit den Großeltern und deren Ziehkind Gretel waren dort die Wohnverhältnisse auf zwei Zimmern recht beengt, wie sich Hildegard Dockal erinnert. Kurioserweise gab es in der schmalen Küche zwei Esstische, „einen kleinen für meine Eltern und mich und einen etwas größeren Tisch für meine Großeltern und die Gretel“. Ihr Stiefvater Ewald Walter bestand gerade wegen der Enge der Wohnsituation darauf, die Haushalte getrennt zu halten, so dass die beiden Generationen sogar zu verschiedenen Zeiten ihre Mahlzeiten einnahmen. Vom Küchenfenster aus konnte Hildegard über den Innenhof hinweg geradeso ins Fenster ihrer Schulkameradin Emmi sehen, die zwei Häuser weiter das Eckhaus von der Quitzow- zur Berliner Straße bewohnte. „Wir konnten uns immer zuwinken, wenn wir morgens gemeinsam zur Schule losgehen wollten.“
Der Kreis schließt sich
Hildegard Dockal besuchte jedoch nur die erste Klasse der Roedernschule, die heute „Obersee-Grundschule“ heißt, denn als sie sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Thüringen. „Die Eltern waren natürlich froh, aus dieser engen Wohnung rauszukommen.“
Damit ist im Grunde die Zeit Hildegard Dockals in Hohenschönhausen beendet, doch auf Umwegen sollte der Ort noch einmal eine sehr wichtige Rolle in ihrem Leben einnehmen.
Die Familie ist im Jahr 1934 wieder zurück nach Berlin gezogen und dort war es auch, wo sie ihren späteren Mann, Karl-Johan Dockal, kennen lernte – durch die alte Schulfreundin Emmi aus ihrer Jugendzeit. Vielen Irrungen und Wirrungen einer jungen Liebe in den letzten Jahren des Krieges zum Trotz, insbesondere der Abkommandierung ihres Mannes als Soldat an die Ostfront, blieben die beiden zusammen. So legt sich in gewisser Weise mit ihrer Hochzeit im Jahr 1942 Hohenschönhausen in Hildegard Dockals Leben wie ein symbolischer Ring um den Beginn und das Ende ihrer Kindheit.
Elke Koepping
Hohenschönhausen – einst und heute
Ab 1977 mussten große Teile der historisch gewachsenen Architektur im Ortskern von Hohenschönhausen der Abrissbirne weichen, um Platz für die Plattenbauten zu schaffen. Nur das Villenviertel rund um den Ober- und den Orankesee, ein Teil des ehemaligen Dorfzentrums nahe der 1230 erbauten Taborkirche und die für Berlin typischen Jahrhundertwende-Bauten entlang der ehemaligen Berliner Straße (heute: Konrad-Wolf-Straße) blieben erhalten. Die Quitzowstraße wurde wie viele andere Straßen in Ost-Berlin in den 80er Jahren umbenannt: anlässlich des 200. Geburtstages des südamerikanischen Freiheitskämpfers in Simon-Bolivar-Straße. Alt- und Neu-Hohenschönhausen gehören heute zum Ortsteil Lichtenberg.
ek
MieterMagazin 3/05
Die Taborkirche – heute im Schatten der Plattenbauten – ist Hohenschönhausens ältestes Bauwerk
Foto: Elke Koepping
Die Taborkirche ist Hohenschönhausens ältestes Bauwerk
Foto: historisch
Hildegard Dockal, 1921 als Dreijährige
Foto: privat
Hildegard Dockal, heute
Foto: Elke Koepping
Repräsentative Bürgerhäuser um 1905,Simon-Bolivar-Straße 51 heute (früher Quitzowstraße)
Foto: historisch
Repräsentative Bürgerhäuser um 1905, Blick auf die früheren Stallungen
Foto: Elke Koepping
Die 86-jährige Hildegard Dockal findet die Zufälle, die Menschen immer wieder unerwartet zusammenführen, so interessant, dass sie sich ehrenamtlich in acht Verbänden engagiert, darunter in der Zeitzeugenbörse. Sie möchte mit Geschichten und Anregungen aus ihrem Leben jüngeren Menschen helfen, leichter mit dem Alltag fertig zu werden.
Zeitzeugenbörse
Tel: 030/44046378
www.zeitzeugen boerse.de
E-Mail: zeitzeugen boerse@aol.com
Buchtipp:
Bärbel Ruben, „Hohenschönhausen
wie es früher war“, Wartberg-Verlag 1999
Unsere beiden historischen Fotos haben wir diesem Buch entnommen.
04.08.2013