85 Prozent der Berliner finden ihre Stadt lebenswert. Das ergab eine repräsentative Studie des BAT-Freizeit-Forschungsinstituts „Besser leben, schöner wohnen? Leben in der Stadt der Zukunft“. Unter den zehn größten deutschen Städten gilt Berlin als die „kulturvielfältigste“. Minuspunkte gibt es vor allem in Sachen Sauberkeit.
„Im Sommer tust du gut, und im Winter tut’s weh“ – damit besingt die Band Seeed im Song „Dickes B“ ihre Stadt Berlin. Über den Sommer dürften sich alle Einheimischen – und wohl auch die meisten Besucher – einig sein. Ob Müggel- oder Wannsee, Tiergarten oder Grunewald, Spree oder Landwehrkanal: Die vielen Grün- und Wasserflächen mitten in und am Rande der Stadt machen die warme Jahreszeit so richtig wonnig. Von den breiten Gehwegen, auf denen es sich vor unzähligen Cafés sitzen lässt, ganz zu schweigen. Aber auch der Winter muss nicht wehtun. Bei frostigem Wind und Schneeregen wird zum Glück eine Menge in behaglich warmen Innenräumen geboten. Viele Berliner haben erst kürzlich die Gelegenheit ergriffen, neue Welten zu erfahren. Mitten in der Stadt und doch weit ab von trostlosen Witterungsverhältnissen: auf der Berlinale. Und wo die nun vorbei ist, gibt es ausreichend Gelegenheit, in die Museen zu pilgern. Soll es nach Ägypten zu Nofretete gehen, ins 18. Jahrhundert der Gemäldegalerie oder ist uns mehr nach Aktfotos von Helmut Newton? Für jeden ist etwas dabei. Und dieses Angebot wissen die Berliner zu schätzen.
Das ist nun auch empirisch nachgewiesen: Die vom BAT-Freizeit-Forschungsinstitut initiierte Studie „Besser leben, schöner wohnen? Leben in der Stadt der Zukunft“ widmete sich den Bedürfnissen von Stadtbewohnern, ihrer Lebensrealität und weist auf kommende Trends hin. Dieser Studie liegen Interviews von insgesamt 5000 Personen zu Grunde. „Die Zukunft entscheidet sich in den Städten“, sagt Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski, Leiter des Instituts und der Studie. „Die Deutschen entdecken die Qualität des Stadtlebens wieder, die Innenstadt als lebenswerten Wohnraum, in dem sich die Menschen wohlfühlen können.“
Berlin – grün und gut erschlossen
85 Prozent der befragten Berliner sind der Auffassung, dass ihre Stadt lebenswert ist. Damit liegt die Metropole in der Beliebtheitsskala auf Platz sechs der zehn größten deutschen Städte: Sechs Prozentpunkte hinter der beliebtesten Stadt Hamburg, aber noch weit vor Dortmund. Dort halten nur 70 Prozent der Einwohner ihre Stadt für lebenswert. Im Ranking ragte Berlin vor allem als die „kulturvielfältigste“ Stadt vor den anderen heraus. Doch auch in anderen Bereichen kann Berlin punkten: Fast drei Viertel der deutschen Bevölkerung finden an den gepflegten Grün- und Parkanlagen Gefallen (71 Prozent) und freuen sich über die gute Erreichbarkeit der Innenstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln (69 Prozent). So grün und zugleich gut erschlossen wie Berlin ist kaum eine andere Stadt im Lande. Die 71 Prozent der Befragten hingegen, die historische Innenstädte als touristische Attraktion schätzen, werden anderswo vielleicht eher auf ihren Geschmack kommen.
„In den Wunschvorstellungen der Bevölkerung gleicht die Stadt der Zukunft einem modernen ‚Sesam-öffne-dich'“, so Opaschowski. „Wichtig und attraktiv ist fast alles, was das Leben in der Stadt gut, schön und lebenswert macht.“ Gewünscht wird neben einem vielfältigen Kulturangebot (67 Prozent) und einem abwechslungsreichen öffentlichen Leben auf Straßen und Plätzen (66 Prozent) eine hohe Erlebnisqualität im Wohnumfeld (64 Prozent). Auch in diesen Bereichen kann Berlin sich sehen lassen. Schwieriger wird es bei anderen Faktoren: Zum urbanen Wohlfühlen gehört für 62 Prozent das Sicherheitsgefühl und für 68 Prozent die Sauberkeit. Vor allem bei Letzterem hat Berlin schlecht abgeschnitten. Berlin gilt im Vergleich zu den anderen Großstädten als die schmutzigste Stadt, so das traurige Ergebnis.
Allein ist Berlin mit diesem Problem allerdings nicht: „Die Bundesbürger machen die Erfahrung, dass heute in den Kommunen Mängel fast nur noch verwaltet werden“, so Opaschowski. „Das Stadtbild wird mehr durch Schlaglöcher als durch Neubauten geprägt.“ Kritisiert werden neben den Schlaglöchern auf den Straßen vor allem Mängel in der Kinder- und Familienpolitik – von den fehlenden Kinderspielplätzen (26 Prozent) über mangelnde Ganztagsbetreuung für Kinder (26 Prozent) bis hin zu familienfeindlichen Strukturen (15 Prozent). Und mehr als jeder fünfte Befragte registriert mittlerweile ungepflegte Grünanlagen (23 Prozent) und fühlt sich durch das unsaubere Stadtbild (21 Prozent) abgestoßen.
„Bezahlbares Wohnen“ ganz wichtig
„In Berlin macht sich vor allem die wirtschaftliche Schwäche in vielen Bereichen bemerkbar“, sagt Hartmut Häußermann, Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität. „Die einzig vorteilhafte Seite dieser Misere besteht für die vielen Geringverdiener in Berlin darin, dass der Wohnraum noch vergleichbar günstig ist.“ Fast jeder zweite Westdeutsche (46 Prozent) und 32 Prozent der in der Studie befragten Ostdeutschen erwarten für die Zukunft hohe Mieten, die kaum mehr bezahlbar sind. Für jeden dritten Bundesbürger (33 Prozent) ist klar: „Das Allerwichtigste ist für mich in Zukunft bezahlbarer Wohnraum in zentraler Lage.“ Die Angst ist groß, wider Willen aus der Stadt gedrängt zu werden. Vor allem junge Leute im Alter bis zu 34 Jahren (39 Prozent) wollen beim Wohnen auf die Citynähe nicht verzichten. Opaschowski: „Der Wohnwunsch ‚Bezahlbare Wohnung in zentraler Lage‘ gleicht einer Quadratur des Kreises. Denn Citywohnen stößt erfahrungsgemäß schnell an die Grenze der Finanzierbarkeit.“
Dass sich an dieser Realität dennoch etwas ändern könnte, davon ist Opaschowski überzeugt: „Künftig wollen die Menschen auch neue Wohnformen – von der genossenschaftlichen Baugemeinschaft über das Generationenhaus bis zur Senioren-WG – verwirklichen können. Eine Antwort auf die demografische Entwicklung in Deutschland werden in Zukunft Mehr-Generationen-Wohngemeinschaften sein. Zwölf von 100 Bundesbürgern nennen diesen Wunsch ganz konkret. Gemeinschaftsräume werden zum erweiterten Kinderzimmer und eröffnen insbesondere berufstätigen Eltern und allein Erziehenden Freiräume für Aufsicht und Betreuung. Opaschowski: „Alle unter einem Dach – aber jeder für sich. Eine ebenso kommunikative wie individualistische Form des Wohnens, die Zusammensein genauso wie Alleinsein ermöglicht und zugleich Vereinsamung verhindern hilft. Das wird auch eine lebenswerte Alternative für die wachsende Zahl von Singles und Senioren sein.“ Das Interesse an einem Zusammenleben der Generationen nimmt zu. Die Mehr-Generationen-WG gewährt Sicherheit und soziale Geborgenheit. Sie stellt eine zukunftsfähige Wohnform dar. Denn sie ermöglicht beides: Nähe und Distanz. Erste Projekte dieser Art gibt es in Berlin bereits. Auch wenn vielleicht noch nicht alles ganz sauber ist, die Zukunft macht sich schon bemerkbar. Und lebenswert ist die Stadt auch in der Gegenwart bereits.
Lars Klaaßen
MieterMagazin 3/06
Ein bunter öffentlicher Raum: Wohlfühlkriterium, das Berlin erfüllt
Foto: Rolf Schulten
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In Sachen Kultur rangiert die Hauptstadt auf Platz 1
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Ein trauriges Ergebnis: Berlin gilt auch als die schmutzigste deutsche Stadt
Foto: Maik Jespersen
Horst W. Opaschowski:
Besser leben, schöner wohnen?
Leben in der Stadt der Zukunft,
Primus Verlag, Darmstadt 2005,
265 Seiten, 51 Grafiken, 19,90 Euro
Städte-Ranking
Wo lebt es sich am besten?
Die Einschätzung der Bewohner im Vergleich der zehn Großstädte (die Prozentangaben
beziehen sich auf die Ja-Antworten der Frage „Ist Ihre Stadt lebenswert?“):
Platz 1: Hamburg (91 Prozent); die schönste und lebenswerteste Stadt
Platz 2: Stuttgart (89 Prozent); die wirtschaftskräftigste, wohlhabendste und sicherste Stadt
Platz 3: München (88 Prozent); die gastfreundlichste und freizeitattraktivste Stadt
Platz 4: Bremen (87 Prozent); die weltoffenste und atmosphärischste Stadt
Platz 5: Köln (86 Prozent); die toleranteste Stadt
Platz 6: Berlin (85 Prozent); die kulturvielfältigste Stadt
Platz 7: Frankfurt (83 Prozent)
Platz 8: Düsseldorf (82 Prozent)
Platz 9: Essen (80 Prozent)
Platz 10: Dortmund (70 Prozent)
31.07.2013