1862 wurde der „Bebauungplan für die Umgebungen Berlins“ verabschiedet. Besser bekannt ist er als Hobrecht-Plan, benannt nach seinem Verfasser. Die einfache Zeichnung bildete bis 1919 die Grundlage für das rasante Wachstum Berlins. Das war immer stark umstritten: Die mit ihm eingeführte Kanalisation ist zwar ein Meilenstein für die moderne Stadtentwicklung, er ist aber auch mitverantwortlich für die Wohnungsspekulation, die die ärmere Bevölkerung in elende Wohnverhältnisse drängte.
Anlass für den Plan des James Hobrecht waren die üblen sanitären Verhältnisse, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der wachsenden preußischen Hauptstadt herrschten. Abwässer wurden auf den Grundstücken in Sickergruben gesammelt oder in den Rinnsteinen der Straßen oberirdisch abgeleitet. Das verunreinigte Grundwasser war häufig Auslöser für Krankheiten, und der Gestank in den Straßen war nichts für empfindliche Nasen. Berlin brauchte dringend eine moderne Kanalisation.
Nach englischem Vorbild sollten Kanäle unter den Straßen angelegt werden. Mit einem leichten Gefälle sollte das Abwasser zu einem Pumpwerk fließen, von wo es auf Felder außerhalb der Stadt geleitet und „verrieselt“ wurde. Hobrecht unterteilte das Berliner Stadtgebiet dazu in zwölf Segmente mit jeweils einem Pumpwerk, die sogenannten Radialsysteme. Die Kanalisation wurde von 1873 bis 1893 gebaut. Berlin konnte sich danach der modernsten Entwässerung rühmen und galt als sauberste Stadt der Welt.
Bei der Planung der Stadterweiterung achtete Hobrecht auf ein ausreichendes Gefälle der neuen Straßen. Die bestehenden Chausseen wurden in den Plan übernommen. Dazwischen legte Hobrecht ein meist rechtwinkliges Geflecht von geraden Erschließungsstraßen und symmetrischen Stadtplätzen, die von der Bebauung freizuhalten waren. Weitere Festlegungen, etwa zur Art und Dichte der Bebauung oder zu vorgesehenen Nutzungen, gab es nicht.
Hobrecht beplante das Umland gleich mit
Der Hobrecht-Plan beschränkte sich nicht auf das Stadtgebiet von Berlin, das erst 1861 erheblich erweitert wurde und noch große landwirtschaftlich genutzte Felder enthielt. Große Teile Charlottenburgs sowie Randflächen von Schöneberg, Rixdorf, Treptow und Lichtenberg wurden von Berlin einfach mitverplant. Das führte zu Irritationen. Im Juni 1862 geriet der Feldwächter der Gemeinde Alt-Schöneberg mit Landvermessern aneinander, die auf den bestellten Äckern der Schöneberger Bauern Grenzsteine setzten und dabei das Getreide zerstörten. Der Ortsvorstand von Alt-Schöneberg hatte keine Ahnung, dass in seiner Feldmark schon die Straßen des Hobrecht-Plans abgesteckt wurden, und fragte in einem Brief an den Polizeipräsidenten, auf welcher Grundlage die Arbeiten stattfänden. Das Polizeipräsidium hatte darauf auch keine plausible Antwort. In der Folge musste der Bebauungsplan umgearbeitet werden.
Schon bald wurde auch grundsätzliche Kritik am Bebauungsplan laut. So verfasste der Statistiker Ernst Bruch 1870 eine Artikelserie in der „Deutschen Bauzeitung“, in der er den Plan detailliert auseinandernahm. Er bemängelte die falsche Zentralisierung auf Alt-Berlin, die übermäßige Größe des beplanten Gebietes, die überbreiten Straßen, das völlige Fehlen von Parks, die gleichen, immer wiederkehrenden Gestaltungsmotive und nicht zuletzt die großen Baublöcke. Manche der projektierten Häuserkarrees hatten Seitenlängen von über 300 Metern.
Hobrecht hatte weitläufige Blöcke gewählt, um eine enge Bebauung zu vermeiden. In der Tiefe der Grundstücke sollte Platz für Gärten bleiben. „Was nützt aber günstigsten Falls das frei bleibende Innere, wenn nur ein tiefer siebzehnfüssiger Hof danach hinschielen kann, oder dieser ganz durch ein Quergebäude davon abgeschnitten ist“, schrieb Ernst Bruch.
Die Baupolizeiordnung ließ schließlich überall die gleiche Baudichte zu – was die Bauherren auch gleich ausnutzten. Im Gründerzeit-Boom, der zu Zeiten von Bruchs Kritik erst anfing, legte sich auf dieser Grundlage rund um das alte Berlin ein Gürtel von Mietskasernen, die zwar in den Vorderhäusern meist großzügige Wohnungen hatten, in den Hinterhäusern aber ungünstig geschnittene, schlecht ausgestattete, dunkle, oft feuchte und überbelegte Wohnungen aufwiesen.
Hobrecht selbst war dieses soziale Ungleichgewicht bewusst. Er erklärte das „Durcheinanderwohnen der Gesellschaftsklassen“ zum Prinzip: „In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Weg nach dem Gymnasium.
Dieses Idealmodell stellt er gegen die Situation in England, wo die wohlhabenden Klassen und die Arbeiter in strikt voneinander getrennten Stadtteilen wohnten. „Nicht ‚Abschließung‘, sondern ‚Durchdringung‘ scheint mir aus sittlichen und darum aus staatlichen Rücksichten das Gebotene zu sein“, so Hobrecht.
„Eine schärfere Verurteilung der Mietskaserne lässt sich kaum finden, als sie in den Worten des Verteidigers ausgesprochen ist“, kritisierte nach der Jahrhundertwende der wohnungspolitisch engagierte Nationalökonom Rudolph Eberstadt. Der Publizist Werner Hegemann nannte Hobrechts Rechtfertigung gar „sozialpolitische Quacksalberei“ und wies in seinem Buch „Das steinerne Berlin“ von 1930 darauf hin, dass der Plan die Bildung von reinen Arbeitervierteln nicht verhindert hat.
Der Hobrecht-Plan sei, so Hegemann, ein Werk, das „vier Millionen künftiger Berliner zum Wohnen in Behausungen verdammte, wie sie sich weder der dümmste Teufel noch der fleißigste Geheimrat oder Bauspekulant übler auszudenken vermochte“.
Fabriken neben Wohnungen
Kritisiert wurde auch, dass es keine Nutzungsfestlegungen gab und somit die ganze Stadt zum durchmischten Wohn- und Gewerbegebiet wurde. Oft entstanden Fabriken in den Blockinnenbereichen inmitten von Wohnhäusern. Die Bewohner waren deshalb dem Lärm und den Abgasen der Industrie ziemlich direkt ausgesetzt.
Im Laufe der Jahre wurden viele Änderungen notwendig. Der Flächenbedarf von Eisenbahnen und Schifffahrtswegen war im Ursprungsplan völlig unterschätzt worden. Personen- und Güterbahnhöfe, die Ringbahn, der Westhafenkanal, der Zentralviehhof und Industrieanlagen rissen große Löcher und Schneisen in das Straßenraster. An vielen Stellen wurden auch die geplanten Plätze verkleinert oder ganz gestrichen und allzu große Baublöcke durch eingefügte Straßen unterteilt. Am Ende der Kaiserzeit war bis auf den nordöstlichen Teil von Prenzlauer Berg und das Nordwest-Ende des Weddings das ganze damalige Berlin nach dem Hobrecht-Plan bebaut.
Heute urteilt die Fachwelt milder über Hobrecht. Mit zunehmendem Wohlstand und abnehmender Bewohnerdichte zeigt sich, dass man in Mietskasernen auf dem Hobrechtschen Stadtgrundriss sehr wohl gut leben kann. Das enge Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten wird heute, wo das Hinterhofgewerbe meist leise und sauber geworden ist, als lebendige „Berliner Mischung“ geschätzt. Und nicht zu vergessen: Die Kanalisation funktioniert immer noch tadellos.
Jens Sethmann
MieterMagazin 3/12
Eine einfache Zeichnung, die das heutige Berliner Stadtbild prägt: der Hobrechtplan von 1862
Quelle: Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Foto: Landesbildstelle
Seinerzeit Europas modernste Kanalisation, Pumpwerk des Radialsystems in der Holzmarktstraße in Mitte
Foto: Sabine Münch
Das einst von Fachleuten geschmähte Hobrechtsche Bebauungsraster wird heutzutage freundlicher beurteilt
Foto: Paul Glaser
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James, der Baumeister
Der Bauingenieur James Hobrecht (1825 bis 1902) wurde 1858 als Regierungsbaumeister bei der Baupolizei in Berlin angestellt. Ein Jahr später wurde er zum Leiter der Kommission zur Ausarbeitung des Bebauungsplans der Umgebungen Berlins berufen. Um sich auf den neuesten Entwicklungsstand in Sachen Kanalisations- und Entwässerungstechnik zu bringen, machte er 1860 eine Inspektionsreise nach Hamburg, Paris, London und in andere englische Städte. Noch vor Verabschiedung des Bebauungsplans wechselte Hobrecht nach Stettin. 1869 kam er zurück nach Berlin, wo er mit dem Bau der Kanalisation beauftragt wurde. Unterstützt wurde er darin von seinem Bruder Arthur, der 1872 bis 1878 Berliner Oberbürgermeister war. 1885 wählten die Stadtverordneten James Hobrecht für zwölf Jahre zum Stadtbaurat, der für den Straßen- und Brückenbau zuständig war.
js
31.03.2013