Ein Albtraum: 1500 Wellensittiche, 59 Katzen, Dutzende Ratten oder unzählige Reptilien in einer kleinen Wohnung. „Animal Hoarder“ (Tiersammler) leben meist hinter verschlossenen Türen. Erst Dreck und Gestank machen auf die entsetzlichen Zustände aufmerksam. Wenn Amtsarzt und Tierschützer sich den Zugang erzwingen, finden sie verstörte, unterernährte und verletzte Tiere. Diese benötigen Hilfe – ebenso aber auch ihre Halter.
Nur mit Spezialkleidung und Atemschutzmasken hatten sich Mitarbeiter des Veterinäramtes in die Spandauer Wohnung gewagt. Was sie vorfanden, war ohrenbetäubend, raubte ihnen den Atem und überstieg jedes Maß an Vorstellung: Wellensittiche auf Lampen, Schränken, Tisch und Stühlen, am Boden – einfach an jedem erdenklichen Platz. Etwa 1500 Vögel zählten die Tierschützer, die mit Dutzenden von Käfigen erschienen waren, um die 62 Quadratmeter große Wohnung zu „räumen“.
Der Fall des Berliner Frührentners Gerhard A. ging im Dezember 2008 durch alle Medien und rückte einen Begriff in die Öffentlichkeit, der bis dahin in Deutschland noch gar nicht so richtig bekannt war: „Animal Hoarding“. Geprägt Mitte der 90er Jahre in den USA, benennt er das extreme Sammeln von Tieren. Zumeist sind es Katzen, aber auch Hunde, Vögel, Nager, Reptilien, selbst Wildtiere und Insekten werden in kleinen Wohnungen, auf Höfen oder in Ställen zusammengepfercht. Die Tiere können weder artgerecht gehalten noch ausreichend ernährt oder gar tiermedizinisch betreut werden – ein „Messietum“, das sich mit Tierliebe tarnt, aber grausame Quälerei bedeutet.
Ein schleichender Prozess
Er habe einmal einen Wellensittich geschenkt bekommen, berichtete Gerhard A. den Tierschützern. Nur weil dieser so einsam gewesen sei, hätte er einen zweiten dazugekauft. Dass nun ein Pärchen im Käfig saß und regelmäßig brütete, sei ihm erst mal gar nicht klar gewesen.
Für den Berliner Landestierschutzbeauftragten Klaus Lüdcke ist der 60-Jährige ein ganz typischer Fall: „Das beginnt eigentlich meist so: Erst mal ist eine Katze da und irgendwie kommt eine zweite dazu. Die werden nicht kastriert und vermehren sich deshalb unkontrolliert.“ Lange bemerken Nachbarn nicht, was sich da hinter der Wohnungstür tut. Ein verschrobener Tierfreund, meinen Bekannte vielleicht und bringen oft sogar noch das eine oder andere Tier vorbei – weil da jemand Mitleid hat, weil sich da jemand kümmert. Klaus Lüdcke: „Und so geht das Sammeln los.“
Etwa 600 Fälle mit über 50.000 betroffenen Tieren zählt eine Dissertation, die vor wenigen Wochen vom Deutschen Tierschutzbund vorgestellt wurde. Es ist die erste wissenschaftliche Arbeit zum Thema Animal Hoarding hierzulande. „Das ganze Ausmaß hat mich erschreckt“, sagt die Verfasserin der Studie, die junge Tierärztin Tina Sperlin. „Zumal wir mit einer immens hohen Dunkelziffer rechnen müssen.“
Obwohl längst nicht alle angeschriebenen Veterinärämter Auskunft erteilten, wird aus Sperlins Untersuchung deutlich: Das Phänomen ist verbreiteter als angenommen. Und die Wissenschaftlerin stellt auch noch einmal klar, was in den USA längst anerkannt ist: „Hinter solch extremen Tieransammlungen steckt eine menschliche Erkrankung.“
Wie bei einem Messie, der leblose Dinge um sich anhäuft und unfähig ist, selbst Müll zu entsorgen, ist das Sammeln von Tieren Symptom eines psychischen Problems: Depressionen, Alkoholismus oder auch Zwangsstörungen.
Mehr als zwei Drittel der Hoarder sind laut Statistik Frauen, der Altersdurchschnitt liegt bei 50 Jahren. Sie alle lassen sich in vier Typen einteilen: Der „Retter“ glaubt, dass er der einzige Mensch sei, bei dem die Tiere es gut haben. Der „übertriebene Pfleger“ sucht sich Ersatz für eine Familie, für soziale Kontakte, für fehlende Liebe. Der sogenannte „Ausbeuter“ missbraucht Tiere für seine Machtgefühle. Sperlin: „Für diesen Typ bedeutet es Prestige, die größte Schlange oder die giftigsten Spinnen zu haben.“ Und schließlich gibt es den „Züchter“, für den die Vermehrung der eigentliche Zweck des Sammelns ist.
„Dabei gibt es unter den Hoardern nicht wenige mit sehr großer Sachkenntnis“, betont die Wissenschaftlerin. „Die wissen ganz genau, was ihre Tiere brauchen.“ Mit Kopfschütteln stehe man deshalb in der Wohnung eines Insektenkenners, in der buchstäblich überall Gottesanbeterinnen, Tausendfüßler und Kakerlaken leben – in allen Ritzen, Schubläden, Schrankfächern und unzähligen Schachteln.
Tote Wellensittiche im Müllcontainer, unangenehme Gerüche im Treppenhaus, Winseln und Jaulen hinter einer Wohnungstür – „Hinweise auf Animal Hoarding bekommen wir zumeist von aufmerksamen Nachbarn und auch Hausverwaltungen“, sagt der Berliner Landestierschutzbeauftragte Klaus Lüdke. Dann tritt der Amtstierarzt in Aktion, denn ihm unterliegt der Vollzug des Tierschutzes. Rund drei Jahre, so die Untersuchungsergebnisse von Tina Sperlin, dauert es im bundesdeutschen Durchschnitt, ehe ein Fall von Animal Hoarding bearbeitet ist.
Warum der lange Zeitraum? Erst einmal ist zu prüfen, ob die Anzeige überhaupt stimmt. Lüdcke: „Die Anzeigen sind häufig anonym mit ungenauen Angaben, und auch Falschanschuldigungen gibt es.“ Scheint ein Eingreifen notwendig, muss sich der Amtstierarzt die Möglichkeit zum Zutritt in die Wohnung verschaffen.
Katz- und Maus-Spiel mit den Behörden
Tierärztin Sperlin: „Hoarder leben nicht nur zurückgezogen, sie sind auch oft extrem misstrauisch.“ Da wird die Tür erst gar nicht geöffnet, und der Amtstierarzt wird erst recht nicht in die Wohnung gelassen. Der muss sich dann einen richterlichen Beschluss beschaffen und vielleicht mit der Polizei wiederkommen. „Viele Tierhalter spielen Katz und Maus mit den Behörden“, so Sperlin. In jedem vierten von ihr erfassten Fall ziehen die Halter einfach aus dem Zuständigkeitsbereich des Veterinäramtes fort, um Strafen zu entgehen – und machen woanders weiter.
Ihre „Sammlung“ lassen sie nicht selten zurück: „Diese Tiere landen dann in der Regel bei uns“, sagt Stephanie Eschen, Sprecherin des Berliner Tierheimes. In diesem Jahr war das bis September bereits sechs Mal der Fall. So musste das Tierheim am Hausvaterweg auf einen Schlag 59 Katzen unterbringen, aber auch 133 Exoten und Kleintiere. Beide Male kamen die Tiere aus kleinen Wohnungen, genau wie 152 Farbmäuse und 40 Stadttauben.
„Die Tiere sind zunächst in einem sehr schlechten Zustand“, schildert Stephanie Eschen: krank und verletzt, vernachlässigt und unterernährt, verhaltensgestört. Das meist übervolle Tierheim bringen solche Notaufnahmen an Kapazitätsgrenzen und belasten die Einrichtung des Berliner Tierschutzvereins finanziell enorm. „Wir untersuchen alle Tiere gründlich und müssen sie oft sehr lange medizinisch behandeln.“
Eine Behandlung haben aber auch die einstigen Halter dringend nötig. Für Animal Hoarder jedoch gibt es bisher weder eine geeignete Therapie noch genügend Psychologen, die sich mit diesem Phänomen auskennen. Und so fordert der Deutsche Tierschutzbund, dass neben der Durchsetzung von Tierhalteverboten und regelmäßigen Nachkontrollen künftig auch die Animal Hoarder medizinisch betreut und therapeutisch behandelt werden. Denn für viele ist das die einzige Rettung.
Obwohl es Gerhard A. leid tat, seine Wellensittiche zu verlieren, war er doch vor allem erleichtert: „Ich wollte schon lange einen Schlussstrich ziehen und wieder in einer sauberen Wohnung leben“, gestand er. „Aber das hätte ich alleine nicht mehr geschafft.“
Rosemarie Mieder
MieterMagazin 3/13
Die aus erbärmlichen Zuständen befreiten Tiere landen erst einmal im Tierheim
Foto: Sabine Münch
Die Tiere krank, die hygienischen Zustände katastrophal: Bilder aus Wohnungen von „Tiersammlern“
Fotos: Stefan Körner/Wikipedia
Rat und Tat
Woran erkenne ich Tierhorter?
Es gibt bestimmte Anzeichen für das Krankheitsbild „Animal Hoarding“:
– Es werden mehr Tiere gehalten, als das im Durchschnitt üblich ist: beispielsweise mehr als etwa drei Hunde, drei bis vier Katzen oder etwa fünf Nager.
– Die Räumlichkeiten, in denen die Tiere leben, sind flächenmäßig unzureichend.
– Die Halterin oder der Halter haben kaum soziale Kontakte. Sie sind überfordert, ignorieren oder leugnen das Problem.
– Die Tiere sind ungepflegt, unterernährt, sichtbar verletzt beziehungsweise krank und vermehren sich unkontrolliert. Es finden sich immer wieder tote Tiere unter den lebenden – oder im Müll.
Bei einem Verdacht auf Animal Hoarding kann man sich an den zuständigen Amtsveterinär wenden, den es in jedem Berliner Bezirk gibt:
www.berlin.de/
verwaltungsfuehrer/
veterinaer-lebensmittel
aufsichtsaemter/
rm
31.12.2016