Vor 100 Jahren begann der Bau der Gartenstadt Staaken. Vom Stadtplan bis zum kleinsten Architekturdetail ist die Siedlung betont traditionell und kleinstädtisch. Das romantisch-malerische Stadtbild war immer umstritten: Was für den einen eine liebevolle Gestaltung ist, nennt der Andere eine kitschige Puppenstube. Aber: Staaken ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall in der Berliner Baugeschichte.
Den Anstoß für den Bau gab das Reichsinnenministerium: Für die Angestellten und Arbeiter der staatlichen Munitionsfabriken in Spandau wurden Wohnungen benötigt. Der Staat kaufte deshalb 1913 ein 35 Hektar großes Grundstück in der Nähe des Dorfes Staaken für 700.000 Mark und übertrug es in Erbpacht an eine eigens gegründete Genossenschaft. Der Bau begann im Mai 1914 nach den Plänen des damals noch nicht 30-jährigen Architekten Paul Schmitthenner, der beim Ministerium angestellt war. Schon am 1. Dezember 1914 konnten die ersten 162 Wohnungen bezogen werden.
Trotz des Ersten Weltkrieges wurde die Siedlung weitergebaut, denn die Unterbringung der Rüstungsarbeiter galt als kriegswichtig. Andere Bauvorhaben bekamen hingegen kaum noch Material. So kam beispielsweise der 1913 begonnene Bau der Gartenstadt Falkenberg 1915 zum Erliegen, nachdem erst ein Bruchteil der geplanten Anlage fertiggestellt worden war. In Staaken wurde die Gartenstadt bis 1917 zu etwa vier Fünfteln fertig: 804 Wohnungen in 298 Einfamilien- und 148 Mehrfamilienhäusern. Die Wohnungen haben ein bis drei Zimmer und messen 34 bis 69 Quadratmeter. Zu jeder Wohnung gehört ein bis zu 150 Quadratmeter großer Garten.
Mit Gasthaus und Kirche
Die Gartenstadt-Idee war Anfang des 20. Jahrhunderts als Gegenbild zur Großstadt sehr populär. Das in England von Ebenezer Howard entwickelte Modell der „Garden City“ sah eine durchgrünte, eigenständige Stadt vor, in der alles vorhanden ist, was urbanes Leben erfordert. In Deutschland kam die Gartenstadt Staaken diesem Ideal näher als die meisten anderen Gartenstadtgründungen, die nur wenige zentrale Einrichtungen hatten und eher Garten-Vorstädte in der Nähe einer Großstadt waren. Dagegen weist der Plan der Gartenstadt Staaken eine Ladenzeile auf, die man „Kaufhaus“ nannte, zwei Schulen, eine Kirche, ein Gasthaus und eine eigene Freiwillige Feuerwehr. Kirche, Gasthaus und Feuerwehrgerätehaus wurden allerdings wie die Ergänzungsbebauung nördlich des Ungewitterwegs erst in den 20er Jahren realisiert.
Das Besondere an der Gartenstadt Staaken sind die historischen Bezüge des Stadtplans und der Architektur. Pate stand bei Schmitthenners Entwurf die alte deutsche Kleinstadt. Neben einem zentralen Marktplatz und einem Kirchplatz gibt es schmale, gebogene Gassen, die von eng beieinander stehenden, kleinen Häuschen mit Freitreppen, Fensterläden und Dachgauben gesäumt werden.
Man merkt der Gartenstadt jedoch an, dass sie nicht über Jahrhunderte gewachsen ist, sondern einheitlich geplant wurde. Hinter den altertümlich wirkenden Fassaden versteckt sich eine moderne, rationelle Bauweise. Im Wesentlichen besteht die Siedlung nur aus fünf verschiedenen Haustypen, die wie aus einem Baukasten abwechslungsreich miteinander kombiniert wurden. Die vielen verschiedenen Fensterformen beruhen alle auf demselben Scheibenmaß. „Da die Fenster und Türen sich zu Tausenden wiederholen, ist ohne Weiteres klar, dass ganz erhebliche Ersparnisse erzielt werden konnten“, schrieb die Fachzeitschrift Bauwelt im Jahr 1916. Mit der Gartenstadt Staaken „zeigte ein Architekt, wie man mit den einfachsten Baumitteln Schönheit finden konnte“, lobte der Architekt Paul Bonatz, ein enger Weggefährte Schmitthenners.
Zunächst galt die Siedlung als Vorbild für den Sozialen Wohnungsbau. Im Laufe der 20er Jahre schlug das Urteil jedoch um. Vor allem Vertreter des Neuen Bauens kritisierten die Nachahmung historischer Vorbilder als „Verschleierung“ und „Maskerade“. So spottete der Architekturhistoriker Julius Posener über die „klitzekleinen Puppenstubenhäuschen“: „Die Illusion der mittelalterlichen Kleinstadt ist vollkommen geglückt.“ Die Kritik stürzte sich wohl auch gerade deshalb auf die Gartenstadt Staaken, weil Paul Schmitthenner die Architektur der „neuen Sachlichkeit“ schroff ablehnte. Mit seiner späteren Parteinahme für die Nationalsozialisten legte er zudem einen anhaltenden Makel auf sein Werk.
Im Krieg sind bei mehreren Luftangriffen insgesamt 18 Häuser mit 34 Wohnungen zerstört worden. Zwischen 1953 und 1959 wurden die zerbombten Gebäude am Torweg und am Eschenwinkel wieder aufgebaut. Mit dem Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses am Heidebergplan wurde 1968 die letzte Baulücke geschlossen.
1951 wurde der Westteil Staakens vom Bezirk Spandau abgetrennt und unter Ost-Berliner Verwaltung gestellt. Die neue Grenze verlief in der Mitte des Finkenkruger Wegs, direkt neben der Gartenstadt. Nach dem Bau der Mauer 1961 lag die Siedlung unmittelbar am Rand der abgeriegelten Insel West-Berlin.
Geglücktes Mittelalter
Die Siedlung ist bis heute im Besitz der Wohnungsbaugenossenschaft Gartenstadt Staaken. Anfang der 70er Jahre hat sie 118 Wohnungen außerhalb ihres Stammsitzes an der Maulbeerallee gebaut. In der Gartenstadt selbst begann man 1975 damit, die Häuser nach und nach mit Zentralheizungen und Bädern auszustatten. 1986 wurde die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt. Die Genossenschaft sah sich dadurch allerdings in ihren Modernisierungsplänen behindert und klagte dagegen bis vor das Oberverwaltungsgericht. Der Streit wurde erst 1989 mit einem Kompromiss beigelegt. Im selben Jahr begannen Verhandlungen mit der Oberfinanzdirektion um die Verlängerung der Ende 2000 auslaufenden Erbbauverträge. Erst kurz vor Schluss kam es 1999 zu einer Lösung: Die Genossenschaft kaufte dem Bund das gesamte Gelände für 13 Millionen Mark ab. Dafür muss bis 2019 jede vierte Wohnung Bundesbediensteten angeboten werden.
Auch wenn die einst auf freiem Feld stehende Gartenstadt längst von neuerer Bebauung umgeben ist, wirkt die Illusion eines Kleinstadtidylls auch heute noch.
Jens Sethmann
MieterMagazin 3/14
Giebel, Gassen und Gärten lassen die Siedlung an eine Kleinstadt erinnern
Die Vertreter der „neuen Sachlichkeit“ spotteten über die „Puppenstube“
alle Fotos: Sabine Münch
Karl Kiem: Die Gartenstadt Staaken (1914-1917), Berlin 1997, 60 Euro
Die Wohnungsbaugenossen-
schaft Gartenstadt Staaken plant Jubiläumsfeierlichkeiten. Informationen unter:
www.gartenstadt-staaken.de
Zum Thema
Baumeister des „Heimatschutzes“
Der Architekt Paul Schmitthenner (1884 bis 1972) war von 1913 bis 1918 für das Reichsministerium des Inneren nicht nur für den Bau der Gartenstadt Staaken, sondern auch für die Gartenstädte Plaue bei Brandenburg und Forstfeld bei Kassel tätig. Zuvor war er leitender Architekt der Gartenstadt Carlowitz bei Breslau. Schmitthenner gehörte zur „Stuttgarter Schule“, einer konservativen Architektengruppe, die gegen den modernen Stil des „Neuen Bauens“ offensiv Stellung bezog. Er war einer der Hauptvertreter des „Heimatschutzstils“, einer volkstümlichen Architekturströmung, die mit traditionellen, kleinstädtischen Bauformen das Bild der „guten, alten Zeit“ vor der Industrialisierung zurückholen wollte. Die Nationalsozialisten waren anfangs starke Verfechter des großstadtfeindlichen „Heimatschutzes“. Schmitthenner wurde 1933 NSDAP-Mitglied und vertrat in seiner 1934 veröffentlichten Propagandaschrift „Die Baukunst im neuen Reich“ die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis. In den folgenden Jahren setzte sich jedoch der Monumental-Stil von Albert Speer durch, der „Heimatschutz“ verlor an Bedeutung. Nach dem Krieg bekam Schmitthenner trotz seiner NS-Vergangenheit in Süddeutschland bald wieder zahlreiche öffentliche Planungs- und Bauaufträge und hohe Auszeichnungen.
js
26.01.2017