In den nächsten 22 Jahren bleibt die Bevölkerungszahl Berlins weitgehend stabil. Das ist das Kernergebnis der vom Berliner Senat vorgelegten Voraussage für die Bevölkerungsentwicklung der Hauptstadt, die Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer anlässlich einer Pressekonferenz zur „Metropole der kreativen Klasse“ geadelt hat. Ob die Berliner Politik gleichfalls zu dem Maß an Kreativität fähig ist, das sie braucht, um die Folgeprobleme des Älter-, Internationaler- und Kreativer-Werdens zu bewältigen, bleibt abzuwarten.
3,404 Millionen Menschen lebten Ende 2006 in Berlin. Im Jahr 2030 sollen es laut Prognose mit 3,367 geringfügig weniger sein. Hinter der wenig veränderten Gesamtzahl verbergen sich gewaltige Strukturveränderungen in der Zusammensetzung von Jung und Alt, Deutschen und Ausländern, familiären und nicht-familiären Haushaltsformen. „Berlin wird älter und internationaler“, so das undramatisch klingende Fazit Ingeborg Junge-Reyers, die Berlin europaweit auf der Gewinnerseite sieht. Angesichts des Bevölkerungsrückgangs, den die demographische Entwicklung in den meisten Regionen Deutschlands hervorruft, ist das positive Resümee der Senatorin nachvollziehbar. Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hatte schon 2001 von einer „demographischen Zeitenwende“ gesprochen und auf den damit verbundenen sozialen Sprengstoff hingewiesen. „Die demographische Alterung läuft ab wie ein Uhrwerk, ihre zentralen Konsequenzen sind die Bevölkerungsschrumpfung und die Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung Deutschlands durch Einwanderungen sowie die daraus folgenden Integrationsprobleme.“
Der Generationenvertrag verliert seine Grundlage
Die Vorboten dieser Entwicklung sind bundesweit in der Renten- und Bildungspolitik längst fühlbar. Der Anteil der potenziell erwerbstätigen Altersgruppe wird sich laut Birgs Berechnungen republikweit von 2000 bis 2050 fast halbieren. Damit verliert der Generationenvertrag zwischen Alten und Jungen, Aktiven und nicht mehr Erwerbstätigen – notwendiger Bestandteil des bundesdeutschen Rentensystems – seine Grundlage. Ein drastisch anwachsender Anteil von Menschen jenseits der 60 muss von einer radikal schrumpfenden Erwerbstätigenbevölkerung über Einzahlungen in die Rentenkassen finanziert werden. Das ist ohne eine völlig andere Form der Finanzierung und Struktur der sozialen Sicherungssysteme gegen Alter, Pflegebedürftigkeit und Krankheit eine unlösbare Aufgabe. Norbert Blüms geflügeltes Wort: „Die Renten sind sicher!“ wirkt bei heutigem Kenntnisstand wie ein Treppenwitz der Geschichte.
Auch für die Bildungspolitik hatte die Pisa-Studie Deutschland, einem der wohlhabendsten Länder der Welt, Notstand und Realitätsverweigerung bescheinigt – entstanden vor allem durch die unbewältigte Integration seiner Einwanderungsgenerationen. Birg rechnete damals für Köln aus, dass in der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen der Ausländeranteil von 19,3 Prozent im Jahr 1992 auf einen Anteil von 42,9 Prozent im Jahr 2010 ansteigen wird – etwas weniger als die Hälfte der arbeitsfähigen Generation einer ganzen Stadt mit teilweise katastrophalen Sprachkenntnissen, geringen Qualifizierungs- und damit auch Integrationschancen. Auch wenn Berlin dank Zuwanderung von einem massiven Bevölkerungsrückgang verschont bleibt, spielt die Hauptstadt keine Sonderrolle im demographischen Gesamtszenario. Birgs Prognosen für die Rheinmetropole sind im Berlin des Jahres 2008 längst angekommen. In bestimmten Stadtgebieten übersteigt der Anteil von Grundschulkindern mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen und damit auch geringen Zukunftschancen die 80-Prozent-Grenze, ein verschleudertes Potenzial, das nicht nur angesichts des anstehenden Fachkräftemangels in der Wirtschaft skandalös ist, sondern auch dem Verfassungsrecht auf gleiche Lebenschancen Hohn spricht.
Das Wohnen ist besonders betroffen
Es werden die Großstädte sein, die als Magneten der Zuwanderung ihre Bevölkerungsverluste durch Migration in Grenzen halten können. Gleichzeitig werden sie das Zusammentreffen von Internationalisierung und Alterung in einem ebenso drastischen Ausmaß zu bewältigen haben. Das durchschnittliche Alter steigt auch in Berlin laut aktueller Prognose von 42,4 Jah-ren 2006 auf 46,4 im Jahr 2030. Die erwerbsfähige Bevölkerung werde um zehn Prozent abnehmen, die der Altergruppe zwischen 18 und 25 um 20 Prozent. In den letzten Jahren gab es vor allem bei den jungen Erwachsenen ein Wanderungsplus zwischen Berlin und seinem engeren Verflechtungsraum. Damit haben nur diese jüngeren Erwachsenen die ansonsten negative Bilanz des Austauschs von Berlin und engerem Umfeld positiv aufgefrischt. Langfristig aber wird der Anteil dieser Gruppe zurückgehen. „Ein zu zwei Dritteln gefülltes Olympiastadion“ (Junge-Reyer) wird Berlin im Jahre 2020 in dieser Altersgruppe fehlen. Ein um 200.000 Menschen angewachsener Kreis von Hochbetagten über 75 muss dann den Kundenverlust der Herthaner ausgleichen.
Dass diese Entwicklung nicht nur die Nachfrage nach sportlichen und kulturellen Events betrifft, sondern vor allem das Wohnen, hat die Senatsverwaltung erkannt. Eine Internetplattform, eine demnächst eingerichtete Agentur für generationsübergreifendes Wohnen und Infopools sollen die wachsende Nachfrage nach altengerechten und integrativen Wohnformen befriedigen helfen.
Auch der Berliner Mieterverein sieht den Beratungsbedarf für die Älteren wachsen und baut seine altengerechten Angebote aus, so der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Reiner Wild. Es gebe nicht nur erhöhte Beratungsanforderungen, sondern auch mehr Anforderungen an den altengerechten Umbau von Wohnungen und an die Zusammenführung von wohnungs- und pflegebezogenen Dienstleistungen. Die ehemals klare Grenze zwischen Heim-, Service- und Wohnfunktion werde verwischt.
Berlin und andere deutsche Großstädte mit starker Zuwanderung nehmen zwar nur in geringem Umfang an dem Bevölkerungsrückgang teil, der in vielen Gebieten des Brandenburger Umlandes bereits heute zu Entvölkerung und Verödung geführt hat. Andererseits zwingt die demographische Entwicklung die Großstädte und Berlin im Besonderen zu einer Politik, die sich mit den Folgen der demographischen Wende auseinandersetzen muss. Eine Abkehr von der bisherigen Realitätsverweigerung in Sachen Renten-, Bildungs- und Integrationspolitik hat seit geraumer Zeit eingesetzt. In welchem Maße und mit welchen Mitteln die Stadtentwicklungspolitik reagieren kann und muss, ist jedoch keineswegs klar. Unter Federführung der Stadtentwicklungsverwaltung wird derzeit ein Demographie-Konzept erarbeitet. Man wird auf Antworten im Stadtentwicklungsbereich gespannt sein. Bislang gibt es einen ziemlich überschaubaren Instrumentenkasten. Mit dem „Monitoring Soziale Stadt“ besitzt der Senat ein Frühwarnsystem, das ihm die Probleme der sozialräumlichen Entwicklung frühzeitig aufzeigen kann. Die im letzten Monitor veröffentlichten Informationen sind indes wenig beruhigend. Keines der Problemgebiete konnte sich nachhaltig aus der Problemzone entfernen. Es fehlt an Maßnahmen und wirksamen Steuerungsinstrumenten. Zwar melden die eingerichteten Quartiersmanagement-Gebiete kleine Etappenerfolge. Auch die Auflösung und Abrechnung der ehemaligen Sanierungsgebiete zeigt, dass die Aufwertung der Problemgebiete durch gebäude- und umfeldbezogene Maßnahmen zur sozialen Integration und Stabilisierung beigetragen haben, aber die Bereitschaft, die im Monitor ausgewiesenen neuen Problemgebiete durch öffentliche Investitionshilfen gegen erzwungene Segregation, Desinvestition und soziales Absinken zu schützen, ist nur in Ansätzen erkennbar. Es wird sich zeigen, ob der Regierende Bürgermeister die Diagnose „arm, aber sexy“ angesichts der demographischen Probleme demnächst um „kreativ, aber überfordert“ ergänzen wird.
ah
MieterMagazin 4/08
Wird Berlins Politik die Folgen der demographischen Veränderungen buckeln? Stadtentwicklungssenatorin Junge-Reyer im Olympiastadion
alle Fotos: Paul Glaser
Das Zusammentreffen von Internationalisierung und Alterung müssen vor allem die Großstädte bewältigen
Demographische Zeitenwende
Zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland die Renten noch als sicher galten und die Politik in einem untauglichen Klein-Klein auf den drohenden Kollaps der sozialen Systeme reagierte, veröffentlichte Herwig Birg, Direktor des Bielefelder Instituts für Bevölkerungsforschung, bereits zahlreiche Mahnrufe, sich mit der Demographiefrage zu befassen. Bevölkerungspolitik war in Deutschland durch ihre nationalsozialistische Pervertierung noch ein Tabu. „Politik und Medien verhalten sich immer noch so, als ob mit jeder Erkenntnis auf dem Gebiet der Demographie automatisch ein Zwang verbunden wäre, sie in Form der zu Recht abgelehnten Bevölkerungspolitik sogleich praktisch anzuwenden“, so Birg in seinem 2000 veröffentlichten Buch. Diese Haltung stünde – so der Autor – in einem merkwürdigen Gegensatz zu der Sicherheit, mit der diese sozialwissenschaftliche Disziplin Fehlentwicklungen voraussehen könne. Die hektische Betriebsamkeit, mit der die Bildungs-, Gesundheits-, Familien-, Integrations- und Rentenpolitik heute die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen versucht, geben Birg Recht.
ah
Herwig Birg: Die demographische Zeitenwende – Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. München 2001
12.07.2013