Graffiti an den Wänden, Müll auf den Straßen oder kaputte Fensterscheiben können Menschen dazu verleiten, Ordnungswidrigkeiten oder sogar Straftaten zu begehen. Das zumindest zeigt eine Studie aus den Niederlanden.
Wissenschaftler der Universität Groningen haben erstmals die „Broken-Windows-Theorie“ (Theorie der zerbrochenen Fenster) bestätigt. Diese hatten die beiden US-amerikanischen Sozialforscher James Q. Wilson und George L. Kelling 1982 aufgestellt und behauptet, dass schon eine relative Harmlosigkeit wie ein zerbrochenes Fenster in einem leerstehenden Haus später zu völliger Verwahrlosung eines Stadtviertels und schwerer Kriminalität führen kann. Um das zu verhindern, müsse die kaputte Scheibe sofort repariert werden. Es ist eine ebenso populäre wie umstrittene Theorie. Kritiker argumentieren, dass es ja auch andersherum sein könne und Kleinkriminalität erst eine verwahrloste Gegend erzeuge, also nicht deren Folge sei. Vor allem aber fehlte der Theorie bislang die empirische Untermauerung. Das haben die niederländischen Wissenschaftler Keez Keizer, Siegwart Lindenberg und Linda Steg mit ihrer Studie „The Spreading of Disorder“ (übersetzt etwa: Die Ausbreitung regelverletzenden Verhaltens) anhand von sechs Experimenten nachgeholt. Dabei zeigte sich tatsächlich: In einer verwahrlosten Umgebung mit Graffiti an den Wänden oder Müll auf den Straßen sinkt die Hemmschwelle von Menschen, ebenfalls gegen Regeln und Gesetze zu verstoßen.
Empirische Beweise
Für das erste Experiment wählten die Forscher einen Fahrradabstellplatz in einem Groninger Einkaufsviertel. Im ersten Durchlauf war die Wand vor den Rädern sauber, im zweiten trotz eines deutlich sichtbaren Verbotsschildes mit Graffiti beschmiert. Die Wissenschaftler knoteten auffällige Werbeflyer eines Sportgeschäfts an die Lenker, die beim Fahren stören würden. Mülleimer gab es dort jedoch keine. Im ersten Durchlauf mit der sauberen Wand warfen 33 Prozent der zurückkehrenden Radbesitzer den Flyer auf den Boden oder hängten ihn an ein anderes Gefährt. Angesichts der besprühten Wand taten dies hingegen 69 Prozent, also mehr als doppelt so viele.
Der zweite Versuch fand auf einem Autoparkplatz statt. Der Zaun gleich davor hatte eine kleine Lücke, dort stand jedoch ein Schild mit der Aufschrift „Durchgang verboten“ und dem Hinweis, man solle den Haupteingang 200 Meter weiter nehmen. Auf einem zweiten Schild wurde das Anschließen von Fahrrädern an dem Zaun untersagt. In der einen Szenerie waren daran dennoch klar sichtbar vier Räder angeschlossen. 82 Prozent der Versuchspersonen brachen daraufhin auch das zweite Verbot und nutzten die kleine Lücke im Zaun, um zu ihrem Wagen zu kommen. Waren keine Räder am Zaun befestigt, taten dies nur 27 Prozent.
Am spektakulärsten waren die beiden letzten Experimente: Diesmal ging es um die Bereitschaft von Menschen zu stehlen. Die Wissenschaftler steckten einen Fünf-Euro-Schein gut sichtbar in einen Fensterbriefumschlag, der wiederum aus einem öffentlichen Briefkasten heraushing. Sie wollten herausfinden, ob vorbeikommende Passanten den Umschlag mitnehmen. In einer sauberen Umgebung taten dies 13 Prozent, war der Briefkasten hingegen mit Graffiti beschmiert, stahlen 27 Prozent den Geldumschlag. In einem weiteren Experiment war der Briefkasten zwar sauber, aber der Boden um ihn herum voller Müll. Hier ließen 25 Prozent den Umschlag mitgehen.
Die Botschaft an Politik wie Polizei sei klar, so die niederländischen Wissenschaftler: Gegen Regelverstöße und Normverletzungen müsse frühzeitig vorgegangen werden, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern.
Kristina Simons
MieterMagazin 4/09
Groninger Wissenschaftler haben bewiesen: Regelverstöße treten in einem verwahrlosten Umfeld häufiger auf
Foto: Christian Muhrbeck
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Null Toleranz in New York
Der ehemalige New Yorker Polizeichef William Bratton hat in den 90er Jahren die Broken-Windows-Theorie aufgegriffen und eine „Null-Toleranz-Offensive“ gestartet. Die Kriminalitätsrate in der Metropole war damals außergewöhnlich hoch, der öffentliche Raum zunehmend vermüllt. Brattons Präventionsstrategie sah unter anderem vor, frühzeitig und rigoros auch gegen Bagatelldelikte vorzugehen. Das Polizeipersonal wurde aufgestockt, Graffiti und andere Zeichen von Vandalismus wurden innerhalb kürzester Zeit entfernt. Tatsächlich nahm in der Folge die Kriminalitätsrate deutlich ab. Die deutsche Gewerkschaft der Polizei (GdP) lud Bratton 1997 nach Berlin ein, um seine Strategie kennenzulernen. Umgesetzt wurde davon nichts. „Teile der Politik waren überhaupt nicht bereit, sich mit Bratton auseinander zu setzen, obwohl er für die Lebensqualität der Menschen in New York viel getan hat“, kritisiert der Berliner GdP-Sprecher Klaus Eisenreich. Brattons Strategie wurde aber auch kritisiert, unter anderem, weil Polizeibeamten immer wieder Körperverletzung und Misshandlungen vorgeworfen wurden.
ks
27.11.2016