Das Wohnumfeld mit seinen Freizeitmöglichkeiten – Erholungsanlagen, Gaststätten, Kultureinrichtungen – sowie Verkehr und Lärm prägten schon immer die alltäglichen Lebensverhältnisse in Berlin. Manches davon hat sich in geläufigen Redewendungen niedergeschlagen.
Im 18. Jahrhundert war der Bau städtischer Erholungsplätze vor allem für ärmere und in beengten Wohnverhältnissen lebende Bevölkerungsschichten noch kein öffentliches Thema. Um so größer war der Zuspruch, als Friedrich II. am 30. November 1741 den Architekten Knobelsdorff beauftragte, das ehemalige Jagdgebiet Tiergarten in einen öffentlichen Lustgarten umzugestalten. Der Wald lag damals jenseits der westlichen Stadtgrenze am Brandenburger Tor, und Knobelsdorff ließ ein dichtes Wegenetz, Plätze mit Bänken und Brunnen sowie drei Heckenlabyrinthe anlegen. Acht Alleen mündeten zu jener Zeit in den Großen Stern, zu ihren Seiten platzierte der Architekt 16 Statuen, die Figuren aus der antiken Mythologie zeigten. Der Berliner Volksmund nannte diese schlicht „Puppen“. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich der Tiergarten zu einem beliebten Ausflugsziel außerhalb der Stadtgrenzen. Die weniger betuchten Berliner fuhren jedoch nicht mit Kutschen, sondern liefen zu Fuß. Ein Spaziergang „bis in die Puppen“ konnte lang werden. So entwickelte sich diese Redewendung zum Synonym für eine lange zeitliche Erstreckung.
Die grüne Neun
Auf Berliner Freizeitvergnügungen geht auch der im 19. Jahrhundert entstandene Ausruf „Ach, du grüne Neune!“ zurück. Die heutige Singerstraße in Berlin-Mitte hieß damals noch Grüner Weg. Ein Stück nördlich gelegen verlief die im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstörte Blumenstraße. Um 1850 eröffnete an der alten Blumenstraße Nr. 9 das Tanzlokal „Coventgarden“. Wenige Schritte entfernt, Blumenstraße 9 b, befand sich das Königstädtische Vaudeville-Theater. Beide Gebäude mit den Hausnummern Neun besaßen an ihrer Südfront einen Ein- oder Ausgang zum Grünen Weg und wurden vom Volksmund „Die Grüne Neune“ getauft. Zwar handelte es sich beim „Coventgarden“ zunächst um ein Etablissement mit gehobenem Niveau, doch büßte es ab 1852 schnell an Qualität ein. Schlägereien unter den Gästen waren an der Tagesordnung, oft wurden Gendarmen gerufen. Verirrten sich nun feinsinnige Gäste in den „Coventgarden“ oder das Vaudeville-Theater, erlebten sie nicht selten eine böse Überraschung. So etablierte sich der Ausruf „Ach, du grüne Neune!“ anstelle von „um Himmels Willen“, und Bürger, die auf gehobenes Niveau Wert legten, mieden die Etablissements in der Blumenstraße.
Auf gänzlich andere Art und Weise spiegelte der in den 1920er Jahren populäre Satz „Ick versteh‘ nur Bahnhof“ das Berliner Lebensgefühl. Mit diesen Worten kann man sich dumm stellen und im Sinne von: „Keine Ahnung, was du willst …“ Gespräche zurückweisen. Es heißt, in dieser Bedeutung gehe die Redewendung auf einfache Soldaten in Kriegszeiten zurück, die über nichts mehr sprechen wollten – außer dem Wunsch, vom Bahnhof aus die Heimreise antreten zu dürfen. Allerdings lässt sich der Ausspruch ebenso im Sinne von „Ich verstehe nichts“ verwenden und soll dem gemäß auf Bahnreisende zurückzuführen sein, die kurz vor Abfahrt des Zuges nicht mehr aufmerksam zuhören können.
Doch warum gefiel gerade den Berlinern jener Zeit das Wortspiel mit dem „Bahnhof“? Tatsächlich boomte in den 20er Jahren das Berliner Verkehrswesen: Automobile, Droschken, Motorbusse, elektrische Straßenbahnen, modernste Hoch- und Untergrundbahnen, dazu die Eisenbahn und ein wachsender Umfang an Haltestellen und Bahnhöfen veränderte das Berliner Großstadtleben erheblich. Ein Verkehrslärm von bis dahin unbekannten Ausmaßen entwickelte sich, aber nicht nur akustisch, auch optisch veränderte sich die Wahrnehmung. Es entstand der sogenannte „Verkehrsstrom“, das Dahinfließen dichter Kolonnen von technischen Fortbewegungsmitteln, die zudem ein neues Maß von Geschwindigkeit erreichten. Dieses Zusammenspiel aus Lärm, Tempo und Strömen, das hör- und sichtbare Dahinrauschen eines ständigen Bewegungsflusses, bei dem Straßen und Gleise zu „Adern“ werden, nannte sich entsprechend der „Puls“ der Großstadtmetropole. Schon damals schlug er manchmal so laut, dass Berliner Fußgänger ihre eigenen Worte nicht mehr vernehmen konnten. „Ach, du grüne Neune! Ick versteh‘ bloß noch Bahnhof!“
Michaela Schröder
MieterMagazin 4/09
In Berlin sorgten die pulsierenden 20er Jahre für manch geflügeltes Wort
Foto: Waldemar Titzenthaler
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08.06.2013