In Deutschland findet eine große Bevölkerungsverschiebung statt: Die meisten Großstädte und die Hochschulstandorte haben starke Einwohnerzuwächse, während abgelegene ländliche Räume und strukturschwache Städte immer weiter schrumpfen. Die Folgen sind gravierend: Leerstand auf dem Land und Versorgungsengpässe in den Großstädten. Dabei möchte fast die Hälfte der Deutschen eigentlich lieber im Dorf wohnen.
45 Prozent der deutschen Bevölkerung würde – unabhängig von finanzieller Situation und anderen Rahmenbedingungen – am liebsten in einer ländlichen Gemeinde leben. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Bundesstiftung Baukultur. 33 Prozent der Befragten würden sich für eine Klein- oder Mittelstadt entscheiden, nur 21 Prozent bevorzugen eine Großstadt. Rechnerisch würde sich demnach auch mindestens jeder dritte Großstädter nach einem Leben auf dem Land sehnen. „Die viel zitierte Meinung, dass die Menschen unbedingt in großen Städten wohnen wollen, können wir mit unserer Umfrage nicht bestätigen“, sagt Stiftungsvorstand Reiner Nagel.
Offensichtlich ist immer noch das romantische Bild vom Leben auf dem Land in den Köpfen. Zumindest die Landbevölkerung weiß aber, dass nicht alles so rosig ist: Unter ihnen nennt fast jeder Dritte die Abwanderung von Wirtschaft, Industrie und Einzelhandel als Problem und jeder Vierte bemängelt das Angebot an Kitas, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten.
Wer wo leben möchte, ist auch eine Generationenfrage. Das Institut Empirica hat in einer Untersuchung von Wanderungsbewegungen im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW ein ausgeprägtes „Schwarmverhalten“ der 25- bis 34-Jährigen festgestellt. Sie ziehen in Scharen in einige wenige „Städte“.
Diese Bewegungen sind meist kleinräumig: etwa aus Remscheid nach Köln, aus der Oberpfalz nach Regensburg – allerdings auch: von überallher nach Berlin. Prozentual gewinnen durch dieses Umzugsmuster die Städte Leipzig, München und Frankfurt am Main am stärksten. Verlierer sind fast alle Landkreise, aber auch einige Großstädte wie Essen und Dortmund.
Nach Berlin von überall her
Anlass für das Schwarmverhalten der jungen Leute ist weniger die Aufnahme eines Studiums oder einer Ausbildung, sondern die Lebensphase danach, in der man für den ersten Job noch einmal umzieht, vielleicht eine Familie gründet und sesshaft wird. Dabei sind es nicht die Arbeitsplätze, die eine Stadt zur Schwarmstadt machen. Wichtiger ist die Attraktivität der Kommune als lebendiger, urbaner Wohnort. Die heute 40-Jährigen waren die erste Generation, die sich auf diese Weise „zusammengerottet“ hat, wie es in der Studie heißt. „Erst durch die Zusammenrottung gelingt es ihnen, eine Umgebung zu schaffen, die ihnen das bietet, was sie sich wünschen: Kneipen, Clubs und Restaurants – aber vor allem genügend potenzielle Freunde in Fahrradentfernung.“ Diese Entwicklung verstärkt sich selbst: Mit jedem Umzug aus einer Kleinstadt nach Berlin wird die Kleinstadt für junge Leute öder und Berlin attraktiver.
„Das Land spaltet sich demografisch“, folgert die Studie. In den Schwarmstädten steigen die Mieten – Wohnungen, Kitas und Schulen müssen gebaut werden. In den anderen Regionen stehen hingegen Wohnungen leer und Schulen müssen schließen.
Die Empirica-Studie empfiehlt deshalb, in den schrumpfenden Regionen lebendige Zentren zu erhalten und dort Investitionen zu konzentrieren. Ganz im Sinne des Auftraggebers GdW gibt es noch einen eigenwilligen Seitenhieb: „Die Mietpreisbremse nimmt den ausblutenden Regionen ihr wichtigstes Argument: gute Wohnungen zu niedrigeren Preisen.“ Ja wenn sie denn ihre Wirkung entfalten würde.
Jens Sethmann
Kleinstädtische Bundesrepublik
Deutschland ist ein hochverstädtertes Land, das aber sehr von Kleinstädten geprägt ist. 26 Prozent der Bevölkerung wohnen in ländlichen Gemeinden, 43 Prozent in Klein- und Mittelstädten mit weniger als 100.000 Einwohnern. 15 Prozent der Bevölkerung leben in den 63 Großstädten mit Einwohnerzahlen zwischen 100.000 und 500.000 und 16 Prozent in den 13 Städten mit mehr als einer halben Million Einwohnern.
js
01.04.2016