Die grün-gelben Aufkleber von Bizim Kiez sieht man überall im südöstlichen Kreuzberg, dem ehemaligen SO 36, wie der Ortsteil nach seinem Postzustellzeichen genannt wurde. Die Köpfe hinter Bizim Kiez sind weniger bekannt, es gibt weder Sprecher noch offizielle Vertreter, man versteht sich als Nachbarschaftsinitiative. Magnus Hengge, 47, und Philipp Vergin, 48, waren beide von Anfang an mit dabei. Der Kommunikationsdesigner und der Angestellte wohnen seit fast 20 Jahren im Wrangelkiez.
MieterMagazin: Warum entzündete sich der Protest im Quartier ausgerechnet an der Kündigung eines Gemüseladens? Es gab doch im Kiez auch vorher schon etliche Fälle von Verdrängung.
Magnus Hengge: Gerade deswegen. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Früher gab es in der Kreuzberger Wrangelstraße mal vier Obst- und Gemüseläden mit türkischstämmigen Inhabern, außerdem ein Farbengeschäft und andere Läden der Nahversorgung. Immer mehr dieser inhabergeführten Geschäfte sind in den letzten Jahren verschwunden. Stattdessen entstanden die immer gleichen Läden und Restaurants für Touristen. Fast alle, die in diesem Sommer 2015 auf die Straße gingen, hatten also selber Erfahrung mit Verdrängung. Es war das Gefühl: „Jetzt reicht’s, so kann es nicht weitergehen!“
Philipp Vergin: Den Gemüseladen gab es ja seit 28 Jahren, geführt von einer ganz lieben Familie, die jeder hier kannte. Bizim Bakkal hat im Grunde all das verkörpert, was den Kiez ausmacht: Es war ein Ort zwischen den Kulturen, wo man nicht nur Lebensmittel in guter Qualität bekam, sondern wo sich die Leute trafen und die neuesten Kieznachrichten austauschten. Das typische Kreuzberg-Gefühl eben.
MieterMagazin: Haben Sie damit gerechnet, dass der Protest den Eigentümer zum Einlenken bringt?
Philipp Vergin: Dass die Kündigung tatsächlich zurückgenommen wurde, kam dann doch überraschend. Wir hätten auch nicht damit gerechnet, dass so viele Leute auf die Straße gehen.
MieterMagazin: Wie kam es, dass sich das Spektrum dann vom Kleingewerbe auf bedrohte Mietshäuser erweitert hat?
Magnus Hengge: Das ergab sich durch die aktuellen Fälle und ist für uns ohnehin nicht voneinander zu trennen. Wir engagieren uns als Nachbarschaftsinitiative gegen den Ausverkauf der Stadt und die Zerstörung gewachsener Kieze durch die Immobilienwirtschaft. Und dazu gehören kleine Gewerbetreibende, die in ihrer Existenz bedroht sind, genauso wie Mieter, die sich ihre Miete nicht mehr leisten können.
MieterMagazin: Aber warum sollte sich ein Investor von Straßenprotesten oder Laternenumzügen beeindrucken lassen? Da geht es doch um Millionen.
Magnus Hengge: Solche Geschäftsmodelle, die auf Verdrängung aufgebaut sind, leben davon, dass sie im Verborgenen bleiben. Diese sogenannten Investoren scheuen das Scheinwerferlicht und reagieren empfindlich, wenn man sie in die Öffentlichkeit zerrt. Wer will schon als der böse Verdränger dastehen? Wir nennen sie daher, auch auf unserer Internetseite, immer namentlich.
Die Verdränger beim Namen nennen
Philipp Vergin: Man muss allerdings sagen, dass es nicht bei allen funktioniert. Manchen ist ihr Ruf völlig egal. Das gilt beispielsweise für anonyme Fonds-Gesellschaften.
Magnus Hengge: Obwohl wir auch da kürzlich einen schönen Erfolg verbuchen konnten. Der Kinderladen „Bande“ in der Oranienstraße 202 kann nun doch bleiben. Der Immobilienfonds, der den ganzen Block Anfang 2017 gekauft hatte, wollte ursprünglich die Miete nach Auslaufen des Vertrags vervierfachen. Zusammen mit anderen Initiativen haben wir dann im letzten November einen Laternenumzug gegen die Verdrängung sozialer Einrichtungen organisiert. Die Aktion bekam sehr große solidarische Unterstützung, und plötzlich wurde dem Kinderladen ein neuer Mietvertrag zu guten Konditionen in Aussicht gestellt. Der Fonds wollte offenbar nicht öffentlich als Entmieter dastehen.
MieterMagazin: Bizim Kiez ist bekannt für phantasievolle Protestaktionen. Geht es dabei vor allem um mediale Aufmerksamkeit?
Philipp Vergin: Uns ist vor allem der niedrigschwellige Ansatz wichtig. 85 Prozent der Berlinerinnen und Berliner sind Mieter, die wollen wir alle erreichen. Von Anfang an haben wir da mit verschiedenen Formaten herumexperimentiert, etwa dem „offenen Mikro“, wo wirklich jeder zu Wort kommen konnte. Und das hat funktioniert. Da haben dann zum Beispiel türkischstämmige Bewohnerinnen und Bewohner von ihren Erfahrungen berichtet und allen wurde klar, warum die türkische Community im Wrangelkiez immer kleiner wird. Ich denke, es ist gerade eine unserer Stärken, dass wir nicht nur auf klassische Kundgebungen setzen.
Protest mit unterschiedlichem kulturellen Input
Magnus Hengge: Leute mit Kindern anzusprechen, ist uns ganz wichtig. Wir haben zusammen mit den Kindern Schilder bemalt oder alle aufgerufen, mit selbstgebastelten Lampions zum Laternenumzug zu kommen. Aus der ganzen Nachbarschaft kamen unterschiedliche kulturelle Inputs. Die Leute sind auf uns zugekommen und haben gefragt, was sie beitragen können. Einige haben Suppe gekocht, andere Theater gespielt oder sind mit ihrer Band aufgetreten. Es haben sich ganz viele Leute mit ihrer Kreativität eingebracht, was zeigt, wie lebendig und vielfältig der Kiez ist.
Philipp Vergin: Dieser erste Sommer war einfach unglaublich. Der Protest wurde von allen getragen, und das war wirklich neu.
Magnus Hengge: Lediglich in den Plenumssitzungen stellen mittelalte Akademiker inzwischen die Mehrheit.
MieterMagazin: Wie ist Bizim Kiez überhaupt organisiert? Wie viele Leute gehören der Initiative an?
Magnus Hengge: Wir sind in Ringen organisiert. Sechs bis zehn Leute bilden im Prinzip den innersten Kreis und halten das Ganze seit zweieinhalb Jahren kontinuierlich am Laufen. An den regelmäßigen Plenumssitzungen nehmen etwa 30 bis 40 Leute teil. Das sind auch diejenigen, die aktiv in verschiedenen Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen zusammenarbeiten und bei Aktionen handfest mithelfen. So gibt es beispielsweise eine AG Öffentlichkeitsarbeit oder eine AG Straßenaktionen. Und dann gibt es einen viel größeren Kreis, die sich auch als Teil der Initiative verstehen. Alle, die einen unserer Aufkleber am Briefkasten oder am Fahrrad haben, sind Teil von Bizim Kiez.
Philipp Vergin: Unsere große Stärke ist, dass wir strukturell nicht festgelegt sind. Manche kommen nur einmal zum Plenum und tragen dann ihren Fall vor, andere beteiligen sich an bestimmten Aktionen. Wir verstehen uns nicht als klassische Polit-Gruppe, sondern als Initiative von Nachbarinnen und Nachbarn. Jeder kann sich einbringen.
MieterMagazin: Hat sich Bizim Kiez schon mal die Zähne ausgebissen?
Philipp Vergin: Nicht verhindern konnten wir, dass Zalando mit 2000 Angestellten auf die Cuvrybrache zieht. Das ist vielleicht eine Nummer zu groß für uns, außerdem war die Sache bereits gelaufen.
Magnus Hengge: Der Senat ist fest entschlossen, rund um den Görlitzer Park eine Art Silicon Valley für Start Ups zu etablieren. Das wird ungeheuren Druck auf das umliegende Kleingewerbe zur Folge haben. Solche Entwicklungen dürfen nicht allein der Wirtschaft überlassen werden. Stadtentwicklung muss von denen mitbestimmt werden können, die da leben und arbeiten.
Philipp Vergin: Erfolge sind wichtig, weil sie motivieren. Aber Bizim Kiez hat in den letzten zweieinhalb Jahren auch dazu beigetragen, dass man sich kennengelernt hat und dass eine Nachbarschaft entstanden ist.
Magnus Hengge: Wir haben die Nachbarschaft regelrecht zelebriert mit unseren Aktionen. Uns verbindet ja nicht nur Wut, sondern auch Lebensfreude.
Philipp Vergin: Ja, das kann man wirklich so sagen. Für mich persönlich hat das Wohnen dadurch eine ganz andere Qualität bekommen. Ich fühle mich hier zu Hause.
MieterMagazin: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
Wie alles anfing
Als dem alteingesessenen Familiengeschäft Bizim Bakkal („Unser Laden“) im Sommer 2015 vom neuen Eigentümer gekündigt wurde, gingen die Anwohner auf die Barrikaden. Jeden Mittwoch trafen sich Empörte auf der Straße, und Woche für Woche wurden es mehr. Das Medienecho war gewaltig, sogar die New York Times berichtete über die widerspenstigen Kreuzberger. Womit niemand gerechnet hätte: Nach monatelangen friedlichen Protestaktionen knickte der Eigentümer ein. Aus den verschiedenen Arbeitsgruppen, die sich nach und nach bildeten, entstand schließlich die Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez („Unser Kiez“).
bl
25.03.2018