Das Hauptwerk der Architektin Ludmilla Herzenstein, ihre zwei Laubenganghäuser an der Stalinallee, veranlassten den damaligen DDR-Staatschef Walter Ulbricht zu einer Schmährede gegen moderne Architektur und löste in der DDR eine baupolitische Kehrtwende aus. Ganz anders als die später errichteten „Arbeiterpaläste“ ihrer Kollegen hielten Herzensteins moderne Wohnbauten aber die staatlichen Kostenvorgaben ein. Später entwickelte sie pragmatische und kostengünstige Konzepte für die Stadterneuerung. Meist ging einige Zeit ins Land, bis die Qualität ihrer Ideen anerkannt oder sogar zum Standard wurde.
Ludmilla Herzenstein wurde 1906 als Tochter eines Bauingenieurs im russischen St. Petersburg geboren und wuchs in Berlin auf. Von 1926 bis 1933 studierte sie Architektur an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg. Schon während des Studiums arbeitete sie als Werkstudentin bei der „Allgemeinen Häuserbau AG Berlin“ und bekam eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen: Von 1929 bis 1930 übernahm sie die Bauleitung für die von Bruno Taut entworfene Wohnsiedlung Onkel Toms Hütte in Zehlendorf. Nachdem sie 1933 bei Heinrich Tessenow ihre Diplomprüfung abgelegt hatte, arbeitete sie bis 1945 in verschiedenen Planungs- und Architekturbüros in Berlin, Rostock, Hamburg, Königsberg, Wiesbaden und Konitz.
Im Juni 1945 trat Ludmilla Herzenstein eine Stelle im Berliner Hauptamt für Planung II als Dezernentin für Statistik an. Gleichzeitig wurde sie vom neuen Stadtbaurat Hans Scharoun in das Planungskollektiv berufen. Das achtköpfige Team aus Architektinnen und Architekten, Ingenieur:innen und Gartenplaner:innen entwarf für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt ein „Neues Berlin“. Der „Kollektivplan“ wandte sich radikal vom bisherigen Berliner Gefüge ab: Entlang der Spree wollte man Funktionsbänder parallel anordnen, die säuberlich nach Wohnen und Arbeiten getrennt waren. Gegliedert wurde die Bänderstadt durch ein Gitter von kreuzungsfreien Schnellstraßen. In dieses Raster sollten „Wohnzellen“ mit hohen und niedrigen Wohngebäuden locker in die Stadtlandschaft hineingestreut werden. Nur wenige historische Orte wie der Gendarmenmarkt, Unter den Linden oder die Schloßstraße in Charlottenburg sollten als Traditionsinseln erhalten bleiben. Der Kollektivplan wurde im August 1946 in der Ausstellung „Berlin plant“ im Stadtschloss der Öffentlichkeit vorgestellt.
Grundsteinlegung an Stalins Geburtstag
Umgesetzt wurde davon nur ein winziger Teil, nämlich zehn Häuser der „Wohnzelle Friedrichshain“ südlich der Frankfurter Allee. Die Planung lag in den Händen von Ludmilla Herzenstein, die ab 1949 das Planungsbüro der Volkseigenen Grundstücksverwaltung „Heimstätte Berlin“ leitete. Die zwei hervorstechenden Häuser direkt an der Allee stammen von ihrem Reißbrett. Am symbolträchtigen 21. Dezember 1949, Stalins 70. Geburtstag, wurde im Beisein von Staatspräsident Wilhelm Pieck die Straße in Stalinallee umbenannt und der Grundstein gelegt für zwei Gebäude an „Deutschlands erster sozialistischer Straße“. Die beiden Wohnhäuser (heutige Adressen Karl-Marx-Allee 102/104 und 126/128) sind fünfgeschossige Zeilenbauten mit einer Laubengang-Erschließung, die mit sachlich-klaren Formen in der Tradition der 20er Jahre stehen.
Keine amerikanischen Kästen, keine Hitler-Kasernen
Nach dem Richtfest im Juli 1950 wurden die Laubenganghäuser zum Anlass für eine radikale Wende in der DDR-Baupolitik. Auf dem III. Parteitag der SED kritisierte Walter Ulbricht, die (nicht namentlich genannten) Architekten hingen „kosmopolitischen Phantasien“ an und bauten Häuser, „die ebensogut in die südafrikanische Landschaft passen“. Der Staatschef proklamierte: „Wir wollen in Berlin keine amerikanische Kästen und keinen hitlerschen Kasernenstil mehr sehen.“ Amerika und Hitler in einem Satz – diese völlig unsachliche Polemik aus dem Mund des mächtigsten Mannes im Staate bedeutete das Aus für die moderne Architektur in der DDR.
Für den Weiterbau der prestigeträchtigen Stalinallee schwenkten die Architekten auf den Stil der „nationalen Tradition“ mit klassizistischem Einschlag um. Muster war das 1951/52 gebaute Hochhaus an der Weberwiese von Hermann Henselmann. Ähnlichkeiten zum russischen „Zuckerbäckerstil“ waren unverkennbar.
Bei dieser aufwendigen Gestaltung liefen die Baukosten allerdings völlig aus dem Ruder. Während Ludmilla Herzensteins Laubenganghäuser noch die vorgegebenen Baukosten von 10.000 Mark pro Wohnung einhielten, überschritt Henselmann das Limit um das Achtfache. Ludmilla Herzenstein spielte beim Bau der Stalinallee keine Rolle mehr. Vor ihren Laubenganghäusern wurden noch Reihen von schnellwachsenden Pappeln gepflanzt – sie sollten das prachtvolle Bild der Stalinallee nicht stören.
Die letzten Berufsjahre in Weißensee
Bis 1958 leitete Herzenstein das Referat für Wohnstättenplanung im Ost-Berliner Hauptamt für Stadtplanung. Anschließend wurde sie Leiterin der Abteilung Stadtplanung im Bezirk Weißensee. Hier war sie vor allem für die Sanierung von Altbaugebieten zuständig und schlug neue Wege ein. So stellte sie 1963 für den Straßenblock zwischen Bizet-, Smetana-, Meyerbeer- und Herbert-Baum-Straße ein Konzept auf, bei dem die Vorderhäuser erhalten und modernisiert wurden und der Blockinnenbereich nach Abriss von Remisen, Werkstätten und Mauern als grundstücksübergreifende Grünräume gestaltet wurden. „Innerhalb des inneren Häuserblocks entsteht eine etwa 1 ha große Grünfläche, die durch mehrere hineinragende Wohngebäude in einzelne Gartenräume gegliedert wird“, erklärte die Architektin in der Zeitschrift „Deutsche Architektur“. In einer Baulücke wurde zudem ein Kinderspielplatz angelegt. Wie seinerzeit üblich wurden die Stuckverzierungen von vielen Fassaden abgeschlagen und durch glatten Putz ersetzt. Ludmilla Herzenstein hat das entstuckte Haus Smetana-, Ecke Meyerbeerstraße mit kräftigen blauen Feldern und roten Bändern gestaltet. Hier lässt sich deutlich erkennen, dass sie einmal mit Bruno Taut, dem „Meister des farbigen Bauens“, zusammengearbeitet hat.
1964 stieg Herzenstein zur Weißenseer Stadtbezirksarchitektin auf. Sie entwarf unter anderem den Neubau des Ausflugslokals „Milchhäuschen“ am Weißen See. 1971 trat sie in den Ruhestand. Ludmilla Herzenstein starb 1994 in Berlin.
Jens Sethmann
Was ist geblieben?
Ludmilla Herzensteins Laubenganghäuser wurden stillschweigend rehabilitiert, nachdem die DDR-Baupolitik Ende der 50er Jahre die stalinistische Architektur wieder aufgegeben hatte und sich dem industriellen Bauen in modernen Formen zuwendete. Die Laubenganghäuser stehen wie die gesamte Karl-Marx-Allee seit 1970 unter Denkmalschutz und wurden 1997/98 saniert.
Das in Weißensee erprobte Stadterneuerungskonzept mit grundstücksübergreifenden Grünanlagen fand ab 1973 im großen Stil im Arnimplatz-Quartier Anwendung. Nach der Wende wurden jedoch hier wie dort die einzelnen Grundstücke rückübertragen, und die neuen Eigentümer zogen wieder Zäune. An der Meyerbeerstraße führt noch ein Fußweg in den Block hinein, er endet aber an einem dauerhaft verschlossenen Tor. Ludmilla Herzensteins Farbgestaltung am Haus Smetana-, Ecke Meyerbeerstraße wurde 1998 originalgetreu wieder hergestellt. Eine neue Hausverwaltung meinte aber, das unterste rote Band mit einer umlaufenden Notenpartitur verzieren zu müssen – schließlich befand man sich ja im Komponistenviertel.
Das Milchhäuschen erfreut sich mit seiner Glasfassade und der großen Terrasse am See auch heute noch großer Beliebtheit.
js
27.03.2023