1887 eröffnet, war das städtische Obdachlosenasyl in der Fröbelstraße das größte der Stadt Berlin: Bis zu 5000 Menschen kamen hier in 40 Schlafsälen mit je 85 Metallbetten unter. Oder man schlief auf dem Boden, angezogen, denn sonst war am nächsten Morgen das letzte Hab und Gut am Leib perdu.
Das Elend wuchs so schnell wie die Reichshauptstadt. Notbaracken, Schlafsäle, Waschküchen, Leichenkammern, Küchen – immer mehr Opfer der Gründerjahre waren aufzufangen: Im späten 19. Jahrhundert wurde die Obdachlosigkeit zum Massenphänomen. Für den 25. November 1925 liefert das Archiv des Museums Pankow Zahlen: 3452 alleinstehende Männer, 346 alleinstehende Frauen, 341 Familien, 41 Schulkinder, 44 Kleinkinder, 43 Säuglinge und 225 Kranke schliefen in der Fröbelstraße.
In Berlin grassierte die Wohnungsnot seit den 1870er Jahren, obdachlose Familien errichteten auf noch freien Plätzen in und vor der Stadt illegale Bretterbuden, die von der Staatsmacht gewaltsam eingerissen wurden. Betteln und Landstreicherei waren Straftatbestände.
Obdachlosigkeit wurde mit „arbeitsscheu“ und „asozial“ assoziiert. Die wörtliche Übersetzung von „asozial“ ins Deutsche („gegen die Gesellschaft gerichtet“) ist noch eine ziemlich wertfreie gegenüber dem Rechtschreibduden, der 1929 so erklärte, wer gemeint ist: die unterste Schicht der Fürsorgeempfänger, die „Stromer“, die „Vagabunden“, die mittels protestantischer Arbeitsethik, durch Zwangssterilisierungen oder Wegsperren zu besseren Menschen erzogen werden sollten.
Milderte die Wehrpflicht des Ersten Weltkriegs noch die Obdachlosenkrise, weil über 13 Millionen Deutsche ins Feld geschickt wurden, hatte einige Jahre später in der Weimarer Republik etwa eine halbe Million Menschen kein Dach überm Kopf. Städte und Gemeinden verwiesen obdachlose Familien in Behelfsunterkünfte wie Eisenbahnwaggons, Kasernen oder Baracken. Wenn die Familien pünktlich ihren Obolus bezahlten, attestierte die Fürsorge Wohlverhalten, und sie durften in „Obdachlosenwohnungen“ umziehen. Doch der fürsorgeorientierten jungen Demokratie fehlte es zu ihrem Ende hin an Umsetzungsmöglichkeiten.
Nach 1933 kam es im nazigeführten Deutschen Reich zu „Bettlerrazzien“ – Tausende Menschen wurden festgenommen, zwangssterilisiert und zur Arbeit gezwungen. Wohlfahrtsverbände arbeiteten dem NS-Regime zu, das Aufräumen mit den „Asozialen“ war eines der Wahlversprechen der Hitler-Partei NSDAP. Denunziationen aus Bevölkerung, Polizei und Verwaltungen sorgten für die Verfolgung und Internierung von Obdachlosen ab 1938 in den Konzentrationslagern: Die „Asozialen“ trugen den Schwarzen Winkel – in der Hierarchie der KZs ganz unten stehend.
Mit der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, initiiert von Heinrich Himmler im Juni 1938, kam es zur Verhaftung von über 80 000 Menschen. Bettelnde, im Prinzip alle nicht Normgerechten, wurden auf einem einst abgelegenen Areal an der Rummelsburger Bucht kaserniert – Ironie der Zeitläufte: heute eine begehrte Wohnlage. Damals war es ein Ort der NS-Euthanasie.
Die Stigmatisierungen, die Pathologisierungen aus der NS-Zeit lebten in beiden deutschen Staaten nach 1945 fort. Das Bild von den „Asozialen“ hielt sich in Ost und West. In Westdeutschland hielt man Obdachlosigkeit, zumal zur Wirtschaftswunder-Zeit, für selbstverschuldet. Allerdings: Im Grundgesetz wurde der Sozialstaat 1949 als Staatsziel verankert: Nach Artikel 20 und 28 sind soziale Gerechtigkeit und Sicherheit garantiert. Obdachlose wurden in sogenannte Übergangswohnungen einquartiert; wobei aber den wenigsten der Sprung in Normalwohnungen gelang, und als ab 1960 im westlichen Deutschland die staatliche Mietenbegrenzung aufgehoben wurde, die durch die Wohnraumzerstörungen des letzten Krieges erforderlich geworden war, hatten die sozial schwachen Bevölkerungsschichten am Wohnungsmarkt keine Chance. Die Obdachlosenzahlen stiegen in den 1960er Jahren schlagartig an, sie gerieten zum zentralen sozialpolitischen Problem der Kommunen.
In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wie auch in den anderen von den Siegermächten besetzten Landesteilen mussten Obdachlose nach 1945 immerhin nicht mehr um ihr Leben fürchten. Doch in der SBZ blieb die Sozialfürsorge der Nutzbarmachung aller verfügbaren Arbeitskräfte untergeordnet. Arbeitspflicht und Wohnungszuteilung sorgten in der 1949 aus der SBZ hervorgegangenen DDR für eine geringere Obdachlosenquote als in der Bundesrepublik, doch wer die „Arbeit bummelte“, galt als „arbeitsscheu“ und „asozial“, als „negativ-dekadent“.
Nach 1949 wurde mit den Richtlinien der Obdachlosenunterbringung zwischen „Asozialen“ und „Sozialisierbaren“ unterschieden – ein Problem der Großstadt, mit ihren „Gelegenheitsdirnen“, „schuldhaft Verwahrlosten“, „Unterstützungsschnorrern“ „Schwachsinnigen“, „Trinkern“. Alle diese Nicht-Normalen bedurften der Besserungsanstalten wie der Jugendwerkhöfe, mit entwürdigenden Repressalien – nicht nur im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Das Ziel: die Herausbildung und Festigung einer sozialistischen Persönlichkeit. Die Realität: Haft, Folter, Brechen des Willens. Der „Asozialenparagraph“ 249 des Strafgesetzbuches der DDR brummte Arbeitsverweigerern ab 1968 zwei Jahre Arbeitserziehung und Rückfälligen gleich fünf Jahre auf. Im „Roten Ochsen“, dem berüchtigten Gefängnis in Halle, fertigten die Insassen im Akkord Ikea-Regale namens „Billy“, die heute in den Wohnungen von halb Europa stehen.
Die Wende brachte für den Osten wie im Zeitraffer das Phänomen der sozialen Risiken, die Obdachlosen wurden sichtbar, die Überzähligen, die Modernisierungsverlierer. Wie der Sozialstaat der Armut begegnen will, wird immer wieder neu verhandelt werden müssen. Armut passt eben nirgendwohin.
Silke Kettelhake
„Franz Biberkopf streift durch Berlin, ist in den Herbergen der Heilsarmee […], in den Männerheimen, in der Augustherberge. Franz geht nach der Fröbelstraße ins Asyl. In die Palme […].
(Alfred Döblin in „Berlin Alexanderplatz“ über seine gerade aus der Haft entlassene Hauptfigur)
Jesus zu einem Schriftgelehrten:
„Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege!“ (Matthäus 8, 20)
Zahlen und Fakten
Fast 60 Prozent mehr als im Vorjahr: 607 000 Menschen waren 2022 in Deutschland wohnungslos, dazu zählen auch viele Geflüchtete aus der Ukraine. Besonders gefährdet sind Alleinerziehende und kinderreiche Paare. Weibliche Wohnungslosigkeit bleibt oft verdeckt, denn deutlich öfter als Männer bemühen sie sich, bei Verwandten, Freundinnen und Bekannten unterzukommen, wenn sie die Wohnung verlieren. Obdachlosigkeit entsteht bei Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft zu 57 Prozent aufgrund einer Kündigung durch den Vermieter oder die Vermieterin. Den Kündigungsgrund lieferten zu 21 Prozent Miet- und Energieschulden. 20 Prozent machen Konflikte im Wohnumfeld und 16 Prozent Trennung oder Scheidung aus.
sk
Buchtipps:
Ernst Haffner: Blutsbrüder, Berlin, 1932
Haffner schildert das Überleben einer Clique obdachloser Jugendlicher im Moloch Berlin der 1920er Jahre
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, Berlin 1929
Franz Biberkopf geht in der Monstrosität Berlins unter
03.04.2024