Ein Wohnmodell aus längst vergangenen Tagen erfährt eine Renaissance. Verschiedene Generationen wollen wieder unter einem Dach leben. Die Mitbewohner müssen dabei nicht aus der eigenen Familie stammen. In so genannten Generationenhäusern kann jedermann einfach zur Miete wohnen. Dort wird Gemeinschaft groß geschrieben.
Familienministerin Ursula von der Leyen hat den Trend erkannt. Im Koalitionsvertrag der CDU/SPD-Regierung ließ sie festschreiben, dass der Staat in den kommenden fünf Jahren insgesamt 88 Millionen Euro zum Bau von Mehrgenerationenhäusern bereitstellt. Diese sind als Tagestreffpunkte konzipiert. Familien, Kinder und ältere Menschen sollen dort ihren Alltag miteinander teilen. Gewohnt wird in diesen Mehrgenerationenhäusern allerdings nicht.
„Warum eigentlich nicht?“, werden sich einige Berliner fragen. Sie leben in Generationenhäusern wie zum Beispiel dem „Sonnenhaus“ in Niederschöneweide. Vor drei Jahren gründete sich der gleichnamige Verein, um eine heruntergekommene Eckhausruine an der Flutstraße zu sanieren und in ein Generationenhaus zu verwandeln. Der Verein ist Eigentümer des Hauses, eine gemeinnützige Stiftung hat das 750 Quadratmeter große Grundstück gekauft. Gemeinsam haben die zukünftigen Mieter ihr Haus an vielen Abenden, Wochenenden und im Urlaub aufgebaut – jeder auf seine Weise. „Natürlich konnte unsere 78 Jahre alte Seniorin nicht die schweren handwerklichen Arbeiten erledigen. Dafür kümmerte sie sich ab und zu um die Verpflegung auf der Baustelle, und die Jugend hat eben für sie mitgebaut. So haben wir von Anfang an füreinander Verantwortung übernommen“, sagt Anita Engelmann. Sie hatte die Idee für das Projekt und gründete mit Freunden den Verein. „Ich betrachte mich fast als Erfinderin des Generationenwohnens“, lacht die 49-jährige Architektin.
Eine Mehrheit für die Generationenhäuser
In ihrem Verein hat sie alles so organisiert, damit das 1,7 Millionen teure Projekt „Sonnenhaus“ ein Erfolg wird. Das Konzept basiert auf einem Mix aus Fördergeldern, fünf Prozent Eigenkapital, angerechneter Arbeitsleistung beim Bau und einem Bank-Darlehen. Letzteres stottern die Bewohner über die Miete ab. Sie besitzen alle einen regulären Mietvertrag und zahlen im Schnitt eine Kaltmiete von 4,50 Euro für den Quadratmeter. Trotz der finanziellen und handwerklichen Eigenleistung war es kein Problem, Mieter für das Generationenhaus zu finden. „Wir hatten eine Menge Interessenten. Es konnten längst nicht alle einziehen“, sagt Anita Engelmann.
Nach vollbrachter Sanierung sind die Ein- bis Vierzimmerwohnungen zwischen 50 und 115 Quadratmetern bis Ende Juni dieses Jahres komplett bewohnt. Dann leben hier zwei Jugendwohngemeinschaften, Senioren, Singles, eine allein erziehende Mutter, Pärchen und Familien in zwölf Wohnungen auf vier Etagen. Gemeinschaftlich nutzen sie eine Sonnenterrasse, den 400 Quadratmeter großen Garten, einen multifunktionalen Raum für Veranstaltungen und Treffen sowie eine Teeküche. Im Erdgeschoss soll ein Büro für den Verein eingerichtet werden, außerdem sind ein Café und ein eigener Naturkostladen geplant.
Gerade mit Blick auf den Lebensabend erscheint vielen Menschen ein Generationenhaus als verlockende Alternative zum Altersheim. Im Alter in einer Gemeinschaft mit Menschen verschiedener Generationen zusammenzuleben ist angesagter denn je. Das ergab auch eine Untersuchung, die das Kölner Marktforschungsinstitut „psychonomics“ im Auftrag des Lebensversicherers Allianz angestellt hat. Befragt wurden Deutsche im Alter von 25 Jahren und älter, welche Wohnformen für sie im Alter in Frage kommen. 71 Prozent gaben an, dann gern in Generationenhäusern leben zu wollen. Noch beliebter war nur das betreute Wohnen im eigenen Haushalt. Ganz unten auf der Wunschskala befinden sich dagegen Seniorenresidenzen und Wohngemeinschaften älterer Menschen.
Auch die Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft Berlin-Süd (GeWoSüd) hat sich nach den Wünschen ihrer älteren Mieter erkundigt und ähnliche Bedürfnisse festgestellt. Deshalb entschloss sich die Genossenschaft, an der Tempelhofer Friedrich-Wilhelm-Straße ein Generationenhaus zu errichten. Im Oktober 2002 waren die 56 Wohnungen des Hauses – davon 31 seniorengerecht – bezugsfertig. Heute wohnen hier Mieter jeden Alters, vom Kleinkind bis zum Hochbetagten. „Im Sommer wird gemeinsam gegrillt, in der Weihnachtszeit backen die Omis mit den Kindern Plätzchen, jede Woche gibt es einen Kaffeetisch, wo sich praktisch das ganze Haus trifft. Wir haben einen Gemeinschaftsraum für Feiern, einen Gymnastikraum, ein Spielzimmer, kleinere Räume für Etagentreffen und eine Bibliothek.
… mitunter ein langer Weg
Die Gemeinschaft funktioniert gut, der Kontakt ist eng. Konflikte gibt es keine“, sagt Peter Kustos. Der 64-Jährige ist ein Bewohner der ersten Stunde und wundert sich nicht, warum es für sämtliche Wohnungen des Hauses bereits lange Wartelisten mit Einzugswilligen gibt.
Bereits 1980 wurde das generationenübergreifende Frauenhilfeprojekt „Offensives Altern“ mit der Idee gegründet, ein Generationenwohnhaus für Frauen zu schaffen. Erst 19 Jahre später zogen 26 Frauen in ebenso viele Wohnungen des Buckower Eckhauses Ortolanweg/Wendehalsweg ein. Es war sehr schwierig, einen Bauträger zu finden und vor allem die finanziellen Mittel zu bekommen. „Schlussendlich hat die Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft 1892 das Haus übernommen“, sagt Bewohnerin Jutta Karsten. Bisher wurden die Wohnungen ausschließlich an Frauen vermietet, Männer dürfen sich hier höchstens vorübergehend einquartieren. „Wir sind kein Lesbenprojekt. Vielmehr wollen wir erreichen, dass Frauen ihrem Einzelkämpfer-Dasein in der Gesellschaft generationenübergreifend entgegenwirken. Allein erziehende Mütter sind oft benachteiligt, allein lebende Rentnerinnen fühlen sich meist isoliert. Das muss nicht sein“, sagt die 58-jährige Jutta Karsten. Zweimal wöchentlich kochen einige der Frauen gemeinsam, andere verabreden sich zum Kino. Es gibt feste Treffen im Gemeinschaftsraum. Trotz aller Gemeinsamkeiten leistet sich der Verein alle zwei Monate eine Konfliktberatung. Dafür kommt eine Psychologin ins Haus, die mit den Bewohnerinnen angestauten Frust aufarbeitet. „Der Zusammenhalt in einem Generationenhaus muss sich eben immer wieder neu definieren“, weiß Jutta Karsten aus Erfahrung.
Sandra Klose
MieterMagazin 5/06
„Von Anfang an Verantwortung füreinander übernommen“: „Sonnenhaus“-Bewohner in Niederschöneweide
alle Fotos: Rolf Schulten
„Generationenübergreifend gegen das Einzelkämpfer-Dasein“: Wohnprojekt am Ortolanweg in Buckow
Lange Wartelisten mit Einzugswilligen: Generationenhaus der GeWo-Süd an der Friedrich-Wilhelm-Straße in Tempelhof
Jung und Alt im Dialog
In Berlin engagieren sich Vereine, Arbeitskreise und Initiativen zum Thema Generationen-Projekte. Dazu zählen Wohnprojekte ebenso wie andere Konzepte zum Dialog zwischen Jung und Alt. Für Interessierte stehen unter anderem folgende Ansprechpartner zur Verfügung:
Arbeitskreis Wohnprojekte in Berlin
Der Arbeitskreis ist eine Interessenvertretung Berliner Wohnprojektgruppen mit aktuell 400 Mitgliedern in 17 Gruppen.
Anfragen an
heidemarie.cramer@t-online.de
Initiative generationen-aktiv
Die Initiative ruft Berliner Projekte ins Leben, die einen gemeinsamen Kontext zwischen Menschen unterschiedlichen Alters herstellen.
Forum Gemeinschaftliches Wohnen
Der Verein wurde 1992 gegründet und ist ein bundesweites Netzwerk von Wohnprojektgruppen, in denen neben anderen Wohnformen auch generations-
übergreifendes Wohnen seinen Platz hat.
Weitere Infos unter
https://hilfelotse-berlin.de
san
31.12.2022