Als schwer integrierbar erwiesen sich die Menschen, die im 19. und 20. Jahrhundert in den Süden Brasiliens ausgewandert waren. Mehr als 100 Jahre lang verweigerten sie sich einer Anpassung, hielten an der eigenen Sprache fest, bewahrten ihre Traditionen und ihre Kultur. Schließlich wurden ihre Schulen geschlossen, die Zeitungen verboten, die Sprache unterdrückt und eine völlige Anpassung erzwungen. Erst viele Jahre später war eine Rückbesinnung auf die alten Traditionen wieder möglich. Seit 1983 feiern sie jedes Jahr ihr Oktoberfest.
„Herrliche Berge, sonnige Höhen, Bergvagabunden sind wir, ja wir“ schallt es aus den Boxen von der riesigen Bühne auf einem der vier fußballfeldgroßen Festplätze, die in Igrejinha extra für das jährliche Mega-Event Oktoberfest gebaut worden sind. In Blumenau, im Süden Brasiliens, hat man vor 23 Jahren damit angefangen, das Oktoberfest durch intensive touristische Vermarktung wieder salonfähig zu machen. Inzwischen hat fast jede der Städte, die auf die deutsche Einwanderung seit 1824 zurückgehen, ihre eigene „Wies’n“.
Dem Besucher präsentiert sich die 16-köpfige Band im Dirndl und krachledernen Hosen. Ihre Tanzbewegungen sind zweifelsfrei dem Repertoire deutscher Heimatvereine entnommen. Auch die obligatorischen Blasinstrumente und sogar ein Schifferklavier sind dabei. Neu ist allenfalls der an Techno-Musik angelehnte Rhythmus und dass die deutschen Verse in einer ohrenbetäubenden Lautstärke hinausgeschmettert werden. Das Publikum ist begeistert: „Jetzt geht’s lo-hos, jetzt geht’s lo-hos“ wird skandiert, es wird geschunkelt und hektoliterweise Bier aus riesigen Pappbechern getrunken.
Ein schwerer Anfang
Die Deutschen sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Brasilien ausgewandert. Napoleon hatte dort die portugiesische Kolonialmacht geschwächt und in Europa den Menschen das Überleben schwer gemacht.
Als dann der brasilianische König das unterentwickelte Grenzland zu Argentinien wirtschaftlich durch Einwanderung stärken wollte, schickte er zu diesem Zweck einen Anwerber nach Europa. Der versprach fast 70 Hektar Land, eine bezahlte Überfahrt, Verleihung der Bürgerrechte und weitere Starthilfen. Viele, deren Land verwüstet oder durch Erbteilung minimiert worden war, sahen darin ihre Chance. Tausende verkauften ihr letztes Hab und Gut und machten sich auf den 12.000 Kilometer weiten Weg.
Was so vielversprechend geklungen hatte, sollte sich als mörderisch herausstellen. Viele, vor allem Kinder, erkrankten und starben noch bei der Monate dauernden Überfahrt. Aber auch der unwirtliche, über weite Flächen unbesiedelte Urwald ohne Wege und Siedlungen machte es den Neuankommenden nicht leicht. Behausungen, Straßen, Schulen, alles musste von den Siedlern errichtet, das Land gerodet und für die Nahrung sofort selbst gesorgt werden.
Aber es ging voran: Mit der neuen ökonomischen Basis bildeten sich nach und nach neue Gemeinden, Schulen wurden gegründet, Vereine, Gruppen zur gegenseitigen Hilfe, später Krankenhäuser und Sparkassen. Wo früher fast ausschließlich extensive Viehwirtschaft betrieben worden war, entstand die Basis für Handwerk, Handel und Industrie. 1881 fand die erste Deutsch-Brasilianische Ausstellung in Porto Alegre statt. Das war der Höhepunkt der deutschen Immigration, danach ging es nur noch bergab.
Parallel zum Eintritt Brasiliens in den Ersten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten ging eine erste Welle des Nationalismus durch das Land. Es wurde verlangt, die portugiesische Sprache zu erlernen, Druckschriften in deutscher Sprache wurden verboten, deutsche Vereinigungen aufgelöst und deutsche Schulen geschlossen. Nach dem Krieg normalisierte sich die Lage wieder, es musste lediglich in allen Schulen Portugiesisch gelehrt werden. 1924 gab es bereits wieder 14 deutschsprachige Zeitungen.
Ende der 30er Jahre spitzte sich die Lage zu. Nicht nur in Europa war die Zeit der Diktaturen und nationalistischen Bewegungen angebrochen. In Brasilien hatte Präsident Vargas geputscht und sein „Estado Novo“ versuchte, die Macht zu zentralisieren. Befeuert wurde seine Politik der Nationalisierung dadurch, dass viele Deutsche zunehmend Sympathien für die faschistische Bewegung daheim bekundeten: 1937 gehörten schon 3000 Heranwachsende zur Deutschen Jugend, die „Heil Hitler“-skandierend in den Straßen herumpöbelte. Von Deutschland aus verstärkte der Pangermanismus seine Versuche, den Einfluss im Ausland zu erweitern – die Deutschen kamen nicht nur in Südbrasilien in den Ruf einer Fünften Kolonne des Hitlerstaates.
Ab 1938 wurde der Gebrauch der deutschen Sprache verboten, untersagt wurden deutschsprachige Gottesdienste und Zusammenkünfte in Vereinen. Die deutschen Zeitungen konnten nicht mehr erscheinen, alle gesellschaftlichen Aktivitäten waren ausschließlich in Portugiesisch abzuwickeln. Unter Subversions- und Spionageverdacht gestellt, wurden deutsche Lehrer aus dem Schuldienst entlassen und Schulen geschlossen. Mit dem Eintritt Brasiliens in den Zweiten Weltkrieg verstärkte sich die Repression: Wer heimlich Deutsch sprach, wurde denunziert, es wurden Flaggen, Vereinssymbole und Dokumente konfisziert, Bibliotheken geschlossen.
Von dieser Traumatisierung und dem Schock der Konfrontation mit den weltweiten Ergebnissen der faschistischen Herrschaft in Deutschland sollte sich die deutsche Kolonie im Süden Brasiliens drei Jahrzehnte lang nicht erholen. Weder auf brasilianischer noch auf bundesdeutscher Seite hatte man Interesse an einer Wiederbelebung des Deutschtums im Land. Der Militärputsch 1961 war auch nicht dazu angetan, die Pluralität von Lebensstilen zu befördern.
Neue Rückbesinnung
Noch im Jahr 1974 konnte der 150. Jahrestag der deutschen Einwanderung nicht offiziell begangen werden. Man arrangierte sich, die neue Generation bemühte sich darum, öffentlich primär als Brasilianer wahrgenommen zu werden.
Erst als die demokratische Öffnung des Landes einsetzte und sich in allen gesellschaftlichen Bereichen zunehmend vielfältige Stimmen artikulierten, begannen auch die deutschen Immigranten, sich ihrer Identität auf neue Weise zu nähern. Blumenau gab mit seinem Oktoberfest 1983 das Startsignal für die öffentliche Präsentation einer deutschen Kultur, die präsentiert wird, als habe man ein altes Auto in einer Scheune wiederentdeckt und entrostet. Dass sie sich als taugliches Vehikel für kommerzielle Erfolge im Tourismus entpuppte, ließ überall die Oktoberfeste nur so aus dem Boden sprießen. Mit neuem Stolz zelebrieren die Städte eine „deutsche“ Baukultur, meist allerdings nur in Gestalt einer fragwürdigen Mischung aus Beton und südbayrischer Formensprache.
Auch wenn ihr Selbstbewusstsein als ursprünglich Deutsche gewachsen ist, definieren ihre Bewohner sich heute als Deutschbrasilianer und betonen die Integration in die brasilianische Gesellschaft. Damit scheint nach über 180 Jahren das Deutschtum zu einer eher folkloristischen Facette innerhalb der kulturellen Vielfalt Brasiliens geworden zu sein.
Reinhard Aehnelt
MieterMagazin 5/06
Mix aus Beton und südbayrischer Formensprache:
„Stadtmauer“ an einem Ortseingang im brasilianischen Süden
alle Fotos: Reinhard Aehnelt
Deutsche Verse ohrenbetäubend laut: Fast jede deutsche Einwandererstadt hat mittlerweile ihre ‚Wies’n‘
Mit Stolz zelebriert: ‚Deutsche‘ Baukultur – oder was dafür gehalten wird
30.07.2013