Vor 50 Jahren, im Sommer 1957, wurde West-Berlin zum Brennpunkt der modernen Architektur. In einer internationalen Bauausstellung („Interbau“) sollte der Welt am Beispiel des Hansaviertels gezeigt werden, wie der Wiederaufbau der zerstörten Stadt erfolgt. Dazu wurden über 50 Architekten eingeladen – und weder Kosten noch Mühen gescheut. Das Experiment ist gelungen, auch heute noch ist das Hansaviertel ein beliebter Wohnort.
Eigentlich sollte die Ausstellung schon 1956 stattfinden. Aber auch als Bundespräsident Theodor Heuss am 6. Juli 1957 die Interbau eröffnete, war im Hansaviertel erst ein Drittel der Häuser fertiggestellt und das Ausstellungsgelände noch weitgehend eine Baustelle. Im Südteil des Areals waren erst wenige Häuser bezugsfertig, in einigen waren Musterwohnungen eingerichtet. Nördlich der Altonaer Straße waren sogar nur vier Häuser im Bau, von den übrigen war noch nichts zu sehen. Die letzten Interbau-Häuser wurden erst 1960 fertig. Dennoch kamen vom 6. Juli bis zum 29. September 1957 fast eine Million Besucher zur Interbau – und ihnen wurde einiges geboten: Zwischen Großem Stern und Spree waren 14 provisorische Ausstellungshallen aufgebaut, in denen „Die Stadt von morgen“ gezeigt wurde und verschiedene Länder und Wohnungsbauverbände ihre architektonischen Errungenschaften präsentierten. Vom Bahnhof Zoo wurde eine Seilbahn bis zum Ausstellungsgelände geführt, Sonderzüge fuhren im noch nicht fertiggestellten U-Bahntunnel zum Hansaplatz. Auf dem Gelände konnten die Besucher eine Rundfahrt mit einer Kleinbahn unternehmen und auf dem Hansaplatz das gesamte Gelände von einem Kran aus überblicken.
Im Hansaviertel entstanden im Rahmen der Interbau 36 Gebäude. Geprägt wird das Areal durch eine Reihe von Punkthochhäusern entlang der S-Bahn und die gestaffelten Scheibenhochhäuser. Dazwischen stehen niedrigere Zeilenbauten und der „Einfamilienhausteppich“ an der Händelallee. Neben den Wohngebäuden gibt es ein Ladenzentrum mit einem Kino, eine Bibliothek und einen U-Bahnhof am Hansaplatz, zwei Kirchen, eine Kindertagesstätte sowie die Akademie der Künste. Der heutige Berlin-Pavillon am S-Bahnhof Tiergarten sollte eigentlich nur für die Dauer der Ausstellung als Besucherzentrum dienen und danach wieder abgerissen werden. Drei Interbau-Gebäude liegen außerhalb des Geländes: die Hansaschule an der Lessingstraße, die Kongresshalle an der John-Foster-Dulles-Allee (heute: Haus der Kulturen der Welt) und schließlich das Corbusierhaus an der Flatowallee in Charlottenburg. Für dieses bei weitem größte Haus der Interbau gab es im Hansaviertel keinen Platz, daher bekam der Architekt Le Corbusier für seine „Unité d’habitation“ einen Bauplatz auf einem Hügel in der Nähe des Olympiastadions, wo das 17-geschossige, 135 Meter lange Haus seine Wirkung voll entfalten kann.
Gegenentwurf zur Stalinallee
Der 1953 gefasste Beschluss, in West-Berlin eine internationale Bauausstellung zu veranstalten, war zunächst einmal eine Reaktion auf den propagandistischen Erfolg, den die DDR mit dem 1952 begonnenen Bau der Stalinallee in Ost-Berlin für sich verbuchen konnte. Dem Aufbau der Stalinallee, der dem Leitbild der „Nationalen Tradition“ folgte, wollte West-Berlin ein betont internationales und modernes Stadtbild entgegensetzen. Die Ausstellung solle „ein klares Bekenntnis zur Architektur der westlichen Welt“ ausdrücken, wie Bausenator Karl Mahler (FDP) 1953 sagte. Und: „Sie soll zeigen, was wir unter modernem Städtebau und anständigem Wohnungsbau verstehen im Gegenstück zu dem falschen Prunk der Stalinallee.“ Die Interbau ist aber nicht nur als städtebauliches Gegenbild im Kalten Krieg zwischen Ost und West zu sehen. Sie wurde auch als programmatische Absage an die Herrschaftsarchitektur des Nationalsozialismus verstanden. Die Einladung von Architekten aus Ländern, die wenige Jahre zuvor noch Kriegsgegner gewesen sind, war auch eine Geste der Versöhnung.
Die Interbau steht in der Tradition einer ganzen Reihe von Bauausstellungen wie der „Deutschen Bauausstellung“ von 1931 auf dem Berliner Messegelände oder der Ausstellung „Die Wohnung“ des Deutschen Werkbundes in Stuttgart von 1927, bei der die Weißenhofsiedlung entstanden ist. Drei der damals Beteiligten nahmen 30 Jahre später auch an der Interbau teil: Le Corbusier, Walter Gropius und Max Taut. Dazu kamen weitere namhafte Architekten der Zeit, unter anderem Oscar Niemeyer, Alvar Aalto, Pierre Vago, Egon Eiermann, Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Berend Bakema. 54 Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner aus 13 Ländern gestalteten die Interbau gemeinsam. Mies van der Rohe sagte allerdings ab.
Raum für Individualität
Der „Leitende Ausschuss“ unter dem Vorsitz von Otto Bartning legte den Rahmenplan für das Hansaviertel 1955 so fest, dass die „Individualitäten namhafter Architekten des In- und Auslandes“ gebührend zur Geltung kommen konnten. Es gab eine lockere Ordnung, die sowohl für einzeln stehende Hochhäuser als auch für niedrige Einfamilienhäuser Platz ließ. „Jedes Haus eine Diva“, hieß es launig in einer vom Senat herausgegebenen Berlin-Broschüre von 1957.
Das alte Hansaviertel am Rande des Tiergartens war zu fast 90 Prozent im Krieg zerstört worden. Der städtebauliche Grundentwurf ging von einer „tabula rasa“ aus. Die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden wurden völlig neu geordnet. Eine eigens gegründete Hansa AG erwarb 131 Grundstücke – wobei Enteignungen aus politischen Gründen vermieden werden sollten -, teilte die Fläche neu ein und verkaufte die neuen Baugrundstücke wieder an Investoren. Auch die immerhin noch 20 erhaltenen Gebäude mit 283 Wohnungen wurden dabei restlos beseitigt. Die 741 Bewohner wurden kurzerhand umgesetzt. Weil die vorhandene Stadtstruktur weitgehend außer Acht gelassen wurde, waren schon die Bauvorbereitungen sehr teuer. Die Kellerfundamente des alten Hansaviertels, die größtenteils noch vorhanden waren, mussten ausgebaggert werden. Die noch weitgehend intakten unterirdischen Versorgungsleitungen für Gas, Strom, Wasser und Abwasser wurden zum großen Teil herausgerissen und neu verlegt. Dazu kamen noch die Kosten für die neuen Fernheizleitungen, für den Ankauf von 21 Grundstücken für öffentliche Zwecke und für den Neubau aller Straßen. Wegen der vielen Hochhäuser waren auch die Baukosten für die Wohngebäude im Durchschnitt 35 Prozent höher als üblich. Abgesehen von den Einfamilienhäusern wurden alle Wohnungen mit Förderungen durch Bund und Land im Sozialen Wohnungsbau errichtet. Die Grundmieten kosteten durchschnittlich 1,43 DM pro Quadratmeter, was deutlich über dem damaligen Berliner Niveau von etwa 1,10 DM lag. Dafür boten die Wohnungen aber auch allen zeitgemäßen Komfort: Fernwärme, Balkon, Aufzug, Müllschlucker.
Heute sind weite Teile des Wohnungsbestands in Eigentum umgewandelt. Durch seine einzigartige Lage am Tiergarten und in unmittelbarer Nähe zur City West sind die Wohnungen im Hansaviertel bis heute sehr beliebt. Die Prinzipien der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ wurden an nur wenigen Orten so beispielhaft umgesetzt wie im Hansaviertel. Daher hat das Landesdenkmalamt das Hansaviertel mit all seinen Bauten und Gartenanlagen 1995 unter Denkmalschutz gestellt.
Jens Sethmann
Mieterkritik am modernen Wohnen
Knapp ein Jahr nach dem Einzug wurden die Mieter dreier Häuser im Hansaviertel zu ihren Wohnerfahrungen befragt. Mit den neuzeitlichen Wohnungsgrundrissen im Aalto-Haus konnten sich die Mieter nicht gleich anfreunden. Dass es dort keinen Flur gibt und Besucher gleich im „Allraum“ genannten Wohnzimmer stehen, gefiel vielen Bewohnern nicht. Oft passten auch die Möbel nicht in die Zimmer. Am häufigsten wurden die Küchen als zu klein und unzweckmäßig kritisiert. Die Spülen wurden zwischen Herd und Wand eingeklemmt, es fehlten Abstellmöglichkeiten. Im Gropius-Haus führt gar ein Heizungsrohr durch den Speisenschrank. Wie die Fenster zu putzen wären, stellte die Mieter im Vago-Haus mit seinen eineinhalb Geschosse hohen Wohnräumen vor ein Rätsel. Die Müllschlucker wurden bisweilen als „fürchterliches Krachinstrument“ bezeichnet. Teppichklopfstangen wurden von vielen Bewohnern vermisst, über undichte Fenster und die Hellhörigkeit der Wohnungen wurde oft geklagt. Dennoch war die Mehrzahl der Mieter mit ihrer Wohnung sehr zufrieden.
js
MieterMagazin 5/07
Steinernes Bekenntnis zur westlichen Welt:
die Häuser der Interbau 1957
Foto: Christian Muhrbeck
Ausstellungspavillion am S-Bahnhof Tiergarten und Seilbahn
Foto: Landesbildstelle Berlin
Gewöhnungsbedürftig war die kleine Funktionsküche
Foto aus: Das Hansaviertel, Berlin 2007
Eröffnungsfeier mit Berlins Bausenator Rolf Schwedler und Bundespräsident Theodor Heuss
Foto: Landesbildstelle Berlin
Zum Weiterlesen:
Gabi Dolff-Bonekämper/Franziska Schmidt:
Das Hansaviertel, Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin,
Verlag Bauwesen, Berlin 1999, 208 Seiten, 45 Euro
Neuerscheinung:
Stefanie Schulz/Carl-Georg Schulz:
Das Hansaviertel – Ikone der Moderne,
Verlagshaus Braun, Berlin 2007, 144 Seiten, 19,90 Euro
16.11.2018