In Berlin gibt es geschätzte 10.000 Menschen, die keine Wohnung haben. Genaue Zahlen existieren nicht – was die Aufgabe erschwert, präzise Hilfen anzubieten. Beim Weg zurück zum eigenen Zuhause müssen oft bürokratische Hürden genommen werden.
Rainer Wendt war immer ein umtriebiger Mensch: Der gelernte Koch hat zum Beispiel gemeinsam mit seiner Frau auf der Kanaren-Insel Lanzarote eine Tierschutzstation aufgebaut. Doch dann wurde er krank. Nach vielen Jahren im Ausland kehrte er zurück – und fand in seiner alten Heimat keinen Anschluss mehr. Schneller, als er sich das je ausgemalt hätte, war er wohnungslos. Ein Dach über dem Kopf hat er glücklicherweise dennoch gefunden: Wendt ist in der Teupitzer Straße in Neukölln untergekommen. Dort befindet sich das sogenannte Erstaufnahmeheim „Die Teupe“. Dessen zentrale Aufgabe: die zügige Beseitigung akuter Obdachlosigkeit. Wendt schätzt sich glücklich, dass er in der Not hier untergekommen ist. Nicht zuletzt deshalb backt er für die anderen Bewohner und die Mitarbeiter in der Etagenküche auch gerne mal einen Kuchen.
In Einrichtungen wie diesem Erstaufnahmeheim werden Schritte eingeleitet, um den Betroffenen Perspektiven aufzuzeigen: Beratungsgespräche führen zu Vereinbarungen, am Ende soll die Beseitigung der Notlage stehen.
Wohnungslosigkeit kann fast jeden treffen, wenn entsprechend ungünstige Schicksalsschläge zusammenkommen. Betroffene und Helfer vermeiden deshalb bewusst den Begriff „obdachlos“, denn das Wort stigmatisiert, weil es verwahrloste, trinkende Menschen an öffentlichen Plätzen suggeriert. Als wohnungslos gilt, wer keine eigene Unterkunft durch einen (Unter-)Mietvertrag oder Eigentum vorweisen kann. Allerdings: Die überwiegende Zahl der Wohnungslosen nimmt staatliche Hilfen nicht in Anspruch, etwa weil sie bei Freunden oder Verwandten unterkommen.
2004 waren 30 Prozent aller in den Sozialämtern des Landes Berlin gemeldeten Wohnungslosen unter sechs Monate wohnungslos, zehn Prozent länger als drei Jahre. Wie viele Wohnungslose in Berlin leben, ist jedoch unklar: Die Senatsverwaltung geht von etwa 6500 Personen aus, die Wohlfahrtsverbände schätzen, dass knapp 10.000 Menschen in der Hauptstadt betroffen sind. Die Zahlenangabe der Wohlfahrtsverbände berücksichtigt eine Dunkelziffer von Personen, die nicht bei den Behörden um Hilfen anfragen oder anonym bleiben wollen – etwa wegen Schulden – sowie Personen, die illegal in Berlin leben und solche, die nicht in gesicherten Unterkünften wohnen, wie etwa in besetzten Häusern oder in gekündigtem und anderem illegalem Wohnraum.
Der Senat hat reagiert
Anfang der 90er Jahre gab es laut Senat noch 12500, laut Wohlfahrtsverbänden rund 18.000 Wohnungslose. Das nach der Wende offenere Berlin lockte viele Menschen an. Auf die steigende Zahl Wohnungsloser reagierten Senat und Bezirke, indem sie das heutige Versorgungssystem etablierten. 5160 sogenannte ungebundene Plätze gibt es für Wohnungslose in der Stadt. Hinzu kommen 976 gebundene Plätze für Asylbewerber. Auch eine teilweise Entspannung des Wohnungsmarktes hat die Situation entschärft.
„Die Angebote sind inhaltlich unterschiedlich – letztlich geht es aber immer um Sicherung der Gesundheit, Versorgung und Hilfeangebote“, erklärt Robert Veltmann, Geschäftsführer der „Gebewo – Soziale Dienste“. Die Gebewo ist Träger der eingangs erwähnten „Teupe“. Unterstützung erhält man dort schon, bevor es zum Wohnungsverlust kommt. Wer merkt, dass derartige Probleme auftauchen, kann sich an die Ambulanten Dienste der Gebewo wenden: 18 Sozialarbeiter beschäftigt die Einrichtung, um zu beraten und zu unterstützen – etwa im Falle von Mietschulden und drohendem Wohnungsverlust. Auch Wohnungsunternehmen nehmen die Hilfen für in Not geratene Mieter in Anspruch.
Ein im Winter überlebenswichtiges Angebot ist die Berliner Kältehilfe. Von Anfang November bis Ende März fährt ab 21 Uhr ein Kältebus der Berliner Stadtmission durch die Straßen, um Menschen aufzusammeln. Diese werden dann in Notunterkünfte gebracht. Auch medizinische Einrichtungen, Suppenküchen, Wärmestuben und Nachtcafés werden im Rahmen der Kältehilfe betrieben. Von dort führt der Weg jene, die bedürftig und willens sind, in ein Erstaufnahmeheim wie „Die Teupe“. Wer dann mit Unterstützung der Sozialarbeiter noch keine eigene Wohnung findet, hat die Möglichkeit, in ein Übergangswohnheim zu ziehen.
Die Probleme hinter der Wohnungslosigkeit
Eine solche Adresse ist das „Haus Grabbeallee“. Es bietet 24 wohnungslosen Männern eine vorübergehende Unterkunft. Die Bewohner nutzen das Hilfeangebot im Durchschnitt über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten. In dieser Zeit wird an der Beseitigung der individuellen Ursachen, die zur Wohnungslosigkeit führten – wie etwa Suchtkrankheiten, Schulden und psychischen Beeinträchtigungen – gearbeitet. Voraussetzung für eine Aufnahme ist die Kostenübernahme durch das zu-ständige Sozialamt, ein Vorstellungsgespräch und der Wille, seine Lebenssituation zu verändern.
Wer nicht mehr in der Lage ist, selbstständig zu leben, kann andernorts eine Bleibe auf Dauer finden. Nico Hermann etwa wohnt seit acht Jahren im „Haus Schöneweide“. Er hat dort für sich und seine 530 Stoffenten ein Heim gefunden. Einigen seiner Tiere hat er Namen von Menschen gegeben, die ihm hier nahe stehen – etwa den einer Kioskverkäuferin und einer Betreuerin. Im „Haus Schöneweide“ leben 30 mehrfach geschädigte, nicht abstinenzfähige, alkoholkranke Männer, die aufgrund ihres psychischen wie auch körperlichen Gesundheitszustandes nicht mehr alleine wohnen können.
Im vergangenen Jahr hat das Heim für Aufsehen gesorgt. Unter dem Titel „Reichtum 2“ hat die Künstlerin Miriam Kilali das „Haus Schöneweide“ zum „schönsten Obdachlosenheim der Welt“ gemacht: mit bunten Tapeten, roten Sofas, glitzernden Kronleuchtern und anderen Einrichtungsgegenständen. 130.000 Euro Spenden hat die Konzeptkünstlerin dafür gesammelt. „Das Projekt hat viel gebracht“, betont Veltmann. „Wohnungslosigkeit wurde stärker wahrgenommen.“ Auch die Bewohner haben profitiert. Sie wüssten nicht nur die schönen Räumlichkeiten zu schätzen, so Veltmann: „Dass Außenstehende sich für die Lebenssituation der Menschen hier interessieren, hat ihr Selbstwertgefühl gestärkt.“
Lars Klaaßen
„Die Hilfen greifen nicht ineinander“
Susanne Gerull ist Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin.
MieterMagazin: Hat sich das Phänomen der Wohnungslosigkeit in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Gerull: Heute fallen mehr junge Erwachsene ins Auge. Auch psychisch kranke Menschen und Frauen sind stärker in den Fokus gerückt. Das kann aber schlicht daran liegen, dass etwa die Betreuung psychisch Kranker oder Leistungen der Jugendhilfe zu kostspielig erscheinen und deshalb mehr Menschen an die Wohnungshilfe verwiesen werden. Dort kann psychisch Kranken aber nicht immer adäquat geholfen werden.
MieterMagazin: Ist das eine Frage des Geldes?
Gerull: Ja, aber das Problem liegt auch noch woanders: Die Schnittstellen greifen nicht ineinander. So sind Soziales und Gesundheit in getrennten Senatsverwaltungen un-tergebracht. Die Hilfeangebote sind nicht immer an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Aber was, wenn die Schubladen im Einzelfall nicht 100-prozentig passen? Die Träger müssen heutzutage die Leute auch oft zu den Ämtern, vor allem dem JobCenter, begleiten, damit diese dort nicht abgewimmelt werden.
Das Interview führte Lars Klaaßen.
MieterMagazin 5/09
Rainer Wendt backt in der „Teupe“ auch schon mal einen Kuchen für seine Mitbewohner
alle Fotos: Christian Muhrbeck
Intensive sozialpädagogische Betreuung bei zeitlicher Befristung des Aufenthalts: das „HausGrabbeallee“
Nico Hermann hat mit seinen Stofftieren im „Haus Schöneweide“eine Heimstatt gefunden
Gemeinschaftsraum im „Haus Schöneweide“
Weitere Informationen zu Hilfsangeboten findet man im Internet unter
www.kaeltehilfe-berlin.de und
www.gebewo.de
Susanne Gerull
Foto: Christian Kielmann
23.03.2020