In Berlin lohnt sich der genauere Blick nach unten. Statt auf eintönig verlegten quadratischen Kunststeinplatten läuft man auf den Bürgersteigen in den alten Quartieren meist auf 600 Millionen Jahre alten Granitplatten, liebevoll unter Kennern auch als „Schweinebäuche“ bezeichnet. Keine Platte gleicht der anderen, alle zusammen formen das charakteristische Steinband in der Mitte der Gehwege, links und rechts flankiert von einem lebendigen Patchwork unterschiedlicher Pflastersteine.
Sind die Augen einmal nicht auf den Weg geheftet, nur um den Hundetretminen auszuweichen, erzählen die Bürgersteige in den Altbauquartieren dem Kundigen stets eine ganz eigene Geschichte von Naturgestein, Handwerkskunst und Straßenraumgestaltung. Als der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. den ab 1835 einsetzenden Gehwegbau in Berlin bezeichnenderweise mittels der Hundesteuer finanzierte, hatte er allerdings vor allem im Sinn, dass man gerade nicht mehr mit den Augen zu Boden seine Schritte durch die Stadt lenken musste.
Das prägende Vorbild für den allgemein einsetzenden Gehwegbau hatte die Weinstube Lutter & Wegner ein paar Jahre zuvor am Gendarmenmarkt geliefert: Vor ihrem Lokal ließen die Inhaber in Privatinitiative schon 1824 große, ebene Platten aus Granit verlegen, damit die Kundschaft sicheren und sauberen Fußes die Lokalität betreten konnte – eine Idee, die den Preußenkönig überzeugte. Als dann im Lauf des Jahrhunderts Straßenpflasterung und Schwemmkanalisation den stinkenden Unrat auf den Straßen beseitigten, entstanden überall komfortable Laufwege, auf denen sich gefahrlos promenieren und flanieren ließ.
Das Herzstück auf den Berliner Trottoirs bilden seitdem die üblicherweise einen Meter breiten Granitplatten, „Schweinebäuche“ genannt. Oben auf der Trittfläche glatt geschnitten, ist die Unterseite rund belassen und nur grob behauen. Das Ganze ähnelt auf dieser Seite der Wampe eines Hängebauchschweins, wobei man den eigentlichen Bauch im Normalfall nicht sieht. Die zentnerschwere Platte bohrt sich damit in den sandigen Berliner Untergrund und fixiert sich mit ihrem stattlichen Gewicht selbst. Verlegt wurden die Platten in Einzel- oder Doppelbahnen, zum Teil auch gleich dreifach nebeneinander, je nach Breite des Bürgersteigs.
Doch auch unter den schon imposanten Schweinebäuchen gibt es noch eine Größensteigerung: das wahre Prunkstück stellt das Modell Charlottenburg dar. Gleich doppeltes Format hat dieser Stein, er ist zwei Meter breit und wurde unter anderem auf der Hardenbergstraße verlegt.
Den Größenrekord hält das „Modell Chalottenburg“
Während die Plattenbreite standardisiert ist, variiert die Länge der Platten und kann mitunter weit mehr als einen Meter betragen, so dass sich nahezu quadratische Formate, schmale Streifen oder große Rechtecke abwechseln. Jede Platte ist einzigartig, auch ihre Oberflächen weichen voneinander ab, viele sind matt grau, manche schimmern rötlich. Jede verwittert im Laufe der Zeit anders. Ihre abgestumpfte Oberfläche bietet sicheren Tritt auch bei Nässe, während man auf vielen neu verlegten Steinplatten leicht ins Rutschen kommen kann, sobald es nur etwas feucht ist.
Die Sicherheitsvorschriften für Pflaster auf öffentlichem Straßenland sind ansonsten heutzutage rigoros. So darf zum Beispiel der Höhenunterschied zwischen einzelnen Gehwegplatten nur 1,5 Zentimeter betragen. Viele Schweinebäuche haben ihre Position im Laufe der Jahrzehnte auf dem sandigen Untergrund inzwischen doch so weit verschoben, dass Stolpergefahr droht. Die alten Platten neu zu schleifen, die Kanten zu begradigen, ist heute viel zu teuer. Stattdessen gießt das Tiefbauamt behelfsmäßig etwas Asphalt zum Höhenausgleich an diese aufragenden Stellen, oder aber die Platten werden ausgemustert und in Grünanlagen weiterverwendet, wo die Vorschriften lockerer sind.
Werden ausnahmsweise doch wieder Granitplatten in Berlin verlegt, um das historische Stadtbild zu erhalten, sind diese Steine neu aus China importiert. Die schwere Fracht dient während der langen Reise auf den Containerschiffen mit den hochaufgestapelten Ladungen als notwendiger Ballast im Schiffsrumpf. Die großen Steinquader zum Beispiel im Lustgarten glänzen wie frisch poliert und sind scharfkantig. Ihnen fehlt die Patina, genauso wie jenen im Regierungsviertel.
Das Mosaikpflaster, das sich links und rechts der Granitbahnen entlang zieht – fachmännisch auch als Ober- und Unterstreifen des Trottoirs bezeichnet, kam erst ab etwa 1880 auf den Gehwegen hinzu. Hier findet sich traditionell vor allem Bernburger Rogenkalk, ein hell- bis mittelgrauer Kalkstein, der strapazierbar und abriebfest ist und eine abwechslungsreiche Oberfläche ergibt. Im 19. Jahrhundert, als Pflastern noch die einzige Möglichkeit war, ebene Flächen zu gestalten, wurde eine Vielzahl von bewährten Verlegemustern entwickelt. In Berlin wurde meist das sogenannte Passeepflaster verlegt, das eine lebendige, endlose Fläche ermöglicht und kein spezielles grafisches Muster wie zum Beispiel Bögen ausformt. Trotzdem folgt die Passeepflasterung genauen Regeln, um im Ergebnis zufällig und gleichzeitig harmonisch zu wirken. Hierbei müssen die Steine nicht nach Größen vorsortiert werden, sondern der Pflasterstein wird vielmehr – unter Vermeidung von Kreuzfugen – möglichst passgenau eingesetzt, wobei sich ständig die Richtung der Fugen ändert. Diese Kunstfertigkeit erfordert einige Erfahrung.
Die Zufälligkeit folgt genauen Regeln
Die kleinteilige Pflasterung im Ober- und Unterstreifen ist vor allem aber auch praktisch, denn sie kann Leuchten, Verkehrszeichen, Baumscheiben und andere Straßenelemente mühelos umkleiden, wie sie auch Unregelmäßigkeiten an Fassadenvorsprüngen, Eingangstreppen, Kellerlichtschächten und Fallrohren passgenau in die Fläche einbindet.
Aus heutiger Sicht ist es zudem ausgesprochen ökologisch, dass die Steine ohne Zementmörtel direkt in den sandigen Untergrund verlegt wurden, so dass in den gepflasterten Zonen das Regenwasser direkt versickern kann, wie auch nach allen Reparaturarbeiten die ursprünglichen Steine wieder verwendet werden können. Nicht immer allerdings wurden im Laufe der Zeit die originalen Steine aufbewahrt, so dass man auf größeren Pflasterflächen bei genauerem Hinsehen auch die Spuren von Leitungsverlegungen zu den Häusern sehen kann. Meist wurde das ganz kleine Pflaster mit einer Kantenlänge von 2 Zentimetern durch größere Steine ersetzt.
Dass lose verlegtes Pflaster empfindlich ist, zeigt sich immer dort, wo Autos unerlaubt über den Gehweg fahren und alleine schon durch ihr Gewicht die Steine verschieben. Sind die Steine erst einmal aus ihrem Verbund gerissen, lockert sich bald eine größere Fläche und muss neu verlegt werden.
Der Künstler Gunter Demnig lässt dem Berliner Pflaster noch eine ganz andere Aufmerksamkeit zukommen. Seit 1995 lenkt er den Blick mit seinen sogenannten „Stolpersteinen“ auf den Boden, um an Menschen zu erinnern, die vom Naziregime ermordet wurden. Es handelt sich bei den Stolpersteinen um von Hand gegossene Betonsteine mit einer Messingplatte, in die Namen und Lebensdaten eingraviert sind. Die Steine werden vor dem letzten Wohnhaus der Deportierten niveaugleich in den Gehweg eingefügt.
Jens Sethmann
MieterMagazin 5/13
Fotos: Sabine Münch
Das Herzstück des Berliner Trottoirs ist der breite „Schweinebauch“
Vorlagen und Gestaltungsmuster gibt es in großer Zahl
Die Kunstfertigkeit des Pflasterns verlangt einige Erfahrung
„Stolpersteine“ erinnern an die Opfer von Nazi-Verbrechen
Zum Thema
Zwei Feldsteine für Berlin
Gleich hunderttausendfach wurden die „Schweinebäuche“, die aus „Granodiorit“ bestehen, im 19. Jahrhundert aus der Lausitz und aus Schlesien nach Berlin transportiert. Da Granodiorit sehr hart und verwitterungsbeständig ist, war er das ideale Material für die schnell wachsende Metropole Berlin. Die großen Steinplatten lösten die bis dahin üblichen Pflasterungen mit den runden Feldsteinen, den sogenannten Katzenköpfen, ab. Diese Steine waren Findlinge gewesen, die auf Geheiß des Königs bis dato nach Berlin importiert worden waren. Jeder preußische Bauer hatte zwei Feldsteine mitzubringen, wenn er nach Berlin kam, und diese am Stadttor abzuwerfen.
js
04.02.2019