Mit Europa assoziieren viele Deutsche die bespöttelten Normierungsversuche einer undurchschaubaren Bürokratie (die 2008 abgeschaffte Vorschrift zur „Gurkenkrümmung“), vermeintliche Geschenke an unsolide wirtschaftende Nachbarsstaaten („Euro-Rettungspakete“) und die Bereitstellung von Versorgungsposten für zu Fall gekommene nationale Politik-Größen (den baden-württembergischen Ex-Ministerpräsidenten Günther Oettinger). Doch bei allen Ressentiments, die auch gerne von deutschen Politikern gehegt werden, ist das gemeinsame Europa auf gutem Weg, sein ökonomisches und politisches Gewicht zu bündeln und die Interessen seiner 28 Mitgliedsstaaten und seiner gut 500 Millionen Einwohner effizient nach außen zu vertreten. Auch nach innen zeigt Europa beträchtliche Wirkmacht: Die Aufhebung der Zollgrenzen, die Niederlassungs- und Arbeitsfreiheit der EU-Bewohner, das Angleichen von Umweltstandards, das Ausgleichen wirtschaftlicher Benachteiligungen von Regionen und ein wachsendes Selbstverständnis als wirtschaftliche Solidargemeinschaft sind mittlerweile europäischer „Arbeitsalltag“. Es gibt aber auch Wirtschafts- und Politikbereiche, die – noch und aus guten Gründen – außerhalb normierender EU-Einflussnahmen stehen und deren nationale Standards von den betreffenden Mitgliedsstaaten mitunter engagiert verteidigt werden. Die Wohnungspolitik und die Wohnungsbauförderung gehören dazu. Zwar kennen viele EU-Staaten Formen sozial- und wirtschaftspolitischer Eingriffe in die Wohnungsversorgung ihrer Bürger, aber was unter dem Begriff des „social housing“ gemeinhin zusammengefasst wird, ist in den einzelnen Ländern programmatisch und materiell genauso unterschiedlich ausgestaltet wie das jeweilige nationale Verhältnis zum Mieten oder Besitzen einer Wohnung. Wie man wo in Europa wohnt und welchen Einfluss Europa auf das Wohnen nimmt, zeigt der folgende Streifzug durch das europäische Haus.
Der Vorgang ist unter dem nüchternen Aktenzeichen E 2/2005 abgelegt: „The Dutch Case“ – der Holländische Fall. Er birgt ein Urteil mit Sprengkraft, denn mit ihrer Entscheidung im Jahr 2009 hat die europäische Wettbewerbskommission in die soziale Wohnungspolitik der Niederlande auf dramatische Weise eingegriffen. Wohnungen mit staatlich geförderter Miete, so die EU-Gesetzgeber, sollten zu 90 Prozent ausschließlich für „benachteiligte Bürger und sozial schwache Gruppen“ bereitgestellt werden. Dafür zog die Kommission eine deutlich engere Grenze als die in den Niederlanden geltende: 33.000 Euro Brutto-Haushalts-Jahreseinkommen – statt 38.000 Euro. Das schloss mit einem Schlag 650.000 Haushalte von diesem wichtigen Teil des nationalen Wohnungsmarktes aus. Bei rund 16,7 Millionen Einwohnern in den Niederlanden dürfte das viele hart getroffen haben – „Volkshuisvesting“ bietet breiten Schichten der Bevölkerung schließlich seit mehr als 100 Jahren bezahlbaren Wohnraum.
„Es war das Schlimmste, was uns passieren konnte“, erklärt Barbara Steenbergen, die Brüsseler Büroleiterin des weltweiten Mieterverbands International Union of Tenants (IUT). Der vertritt insgesamt 61 nationale und auch regionale Mietervertretungen, die im IUT gemeinsam agieren und ihre Interessen gegenüber einer rein markt- und gewinnorientierten Mieten- und Wohnungspolitik vertreten. „Der Kommissionsentscheidung lag das europäische Wettbewerbsrecht zugrunde“, erklärt Barbara Steenbergen. In die Wohnungspolitik ihrer Mitgliedsstaaten greift die EU nämlich nicht direkt ein. Hier gilt das Subsidiaritätsprinzip: keine Rechtsvorschriften aus Brüssel, keine europäische Finanzierung von nationalen Wohnungsbauvorhaben. All dies ist Sache der Mitgliedsländer.
Dass der niederländische Sozialwohnungsmarkt dennoch ins Visier der Kommission geriet, hat zum einen mit der Klage eines institutionellen Anlegers zu tun, zum anderen mit einer sehr unterschiedlichen Politik der Daseinsfürsorge in den EU-Staaten. Prinzipiell ist nach europäischer Ansicht der Soziale Wohnungsbau zwar zulässig, aber – nachdem der Klage im „Holländischen Fall“ stattgegeben wurde – mit der Maßgabe, dass dieser auf Benachteiligte und sozial Schwachgestellte beschränkt werden muss. Sonst sei er nicht mit EU-Wettbewerbsregeln vereinbar, öffentlichen Wohnungsunternehmen verschaffe staatliche Subventionierung einen klaren Vorteil gegenüber privaten Vermietern.
„Es gibt keine einheitliche Definition, was Sozialer Wohnungsbau ist, obwohl sich doch in allen Mitgliedsstaaten mehr oder weniger Elemente davon finden“, sagt Michaela Kauer. Als Leiterin des Verbindungsbüros der Stadt Wien zur EU verfolgt sie die Entwicklung der europäischen Wohnlandschaft seit vielen Jahren. Und die ist alles andere als homogen. „Nehmen Sie beispielsweise Wien“, so Michaela Kauer. „Das ist ein Flaggschiff des kommunalen Wohnungsbaus.“ Schon vor über 90 Jahren nahm es Fahrt auf: In der Ersten Republik, dem „Roten Wien“, beschlossen die regierenden Sozialdemokraten, neue große Wohnanlagen für Arbeiter zu bauen. Es entstanden die ersten 65.000 Gemeindewohnungen, die die Stadt nach einem Punktesystem vergab. Das bevorzugte erst einmal einkommensschwache Familien. Heute gibt es circa 220.000 solcher Gemeindewohnungen in Wien, hinzu kommen etwa noch einmal so viele Wohnungen gemeinnütziger Träger. Insgesamt leben 60 Prozent der Wiener in diesen beiden geförderten Wohnformen. Die Netto-Mietpreise in den Gemeindewohnungen betragen 2,97 Euro pro Quadratmeter im Bestand. Neu vermietet wird für 5,39 Euro. „… egal, wo Sie wohnen – ob nun weiter draußen oder in der Innenstadt“, so Michaela Kauer.
Flaggschiffe und Rostkähne
Wenn Sybille Münch, Politikwissenschaftlerin an der TU in Darmstadt, an Ungarn denkt, fällt ihr in Sachen Wohnen eher kein Flaggschiff, sondern ein rostiger Kahn ein. Vor ihrem inneren Auge taucht da ein gewaltiger Plattenbau inmitten einer Großsiedlung auf – die Umgebung vernachlässigt, die Fassade sanierungsbedürftig, Treppen und Dach in verheerendem Zustand. Aber die Fenster! Nicht nur die Rahmen sind sauber und ordentlich, ringsherum ist auch die Außenwand gestrichen – mit unterschiedlichen Farben und immer in dem Radius, den ein ausgestreckter Arm mit dem Pinsel erreichen kann.
„Nach dem Untergang des Kommunismus gab es in vielen osteuropäischen Staaten Mieterprivatisierungen“, erklärt Münch. Wohnungen wurden zu günstigen Preisen an die Mieter verkauft, teilweise fast verschenkt. Das hatte vor allem symbolischen Wert. Man wollte den Übergang in die Marktwirtschaft rasch und deutlich vollziehen und die Botschaft vermitteln: Wir geben Euch hier ein Stück Sicherheit mit auf den Weg in ein neues wirtschaftliches System. Das alte galt als ineffizient. Weltbank und nicht zuletzt auch die EU hatten auf eine Stärkung des Wohneigentums gedrängt. Und ganz nebenbei konnten die Staaten sich ihrer maroden Bausubstanz auf elegante Art entledigen. Um die Bestände heute zu sanieren oder auch nur die nötigsten Reparaturen auszuführen, gibt es in aller Regel weder Strukturen – wie etwa eine Eigentümergemeinschaft – noch das notwendige Geld bei den neuen Besitzern. „Für viele sind sogar die Energierechnungen zu hoch“, so die Darmstädter Politikwissenschaftlerin. Poor Ownership (arme Eigentümerschaft) bezeichnet dieses Phänomen: Ein hoher Anteil an Wohneigentum in einem Land muss eben nicht Reichtum bedeuten, sondern kann durchaus mit prekären Lebensverhältnissen einhergehen.
Gleichwohl steht Immobilienbesitz europaweit hoch im Kurs: Gut 70 Prozent der Bevölkerung in den Mitgliedsstaaten, so verzeichnet das Statistische Amt der Europäischen Union („Eurostat“) für 2010, lebt in selbstgenutztem Wohneigentum, nur knapp 18 Prozent wohnen in zu Marktpreisen angemieteten Wohnungen und kaum 12 Prozent zahlen ermäßigte Mieten oder wohnen ganz unentgeltlich.
Erstaunlich, zumindest auf den ersten Blick: Es sind gerade die reicheren Länder in Europa, die über ein großes Segment an Mietwohnungen verfügen, allen voran die Schweiz und Deutschland. Hier leben nach Eurostat 55,6 Prozent beziehungsweise 53,2 Prozent aller Bewohner zur Miete. Im armen Rumänien sind es nicht einmal drei Prozent. Wie es um den Mietwohnungsmarkt in Griechenland bestellt ist, verrät nicht nur der Umstand, dass das EU-Land keinerlei organisierte Mietervertretung im IUT hat. Wenn in Griechenland jemand sein Haus verliert, etwa weil er keine Arbeit mehr hat und die Hypothek nicht mehr bedienen kann, dann rücken meist andere Familienangehörige oder Freunde zusammen.
Die Schatten der Privatisierung werden länger
Was sich in dem Krisenstaat gerade vom Problem für Einzelne zur Katastrophe für Viele auswächst, hat Spanien längst im Würgegriff: Eine gigantische Welle von Zwangsräumungen ist über das Land hinweggerollt. 500.000 Wohnungen mussten in den zurückliegenden fünf Jahren an die Banken zurückgegeben werden, weiß Barbara Steenbergen von der IUT zu berichten. Dies verschärft die Überbelegung von Wohnraum, die in Spanien wie im gesamten südeuropäischen Raum ohnehin schon groß ist, noch deutlich.
Spitzenwerte in puncto Überbelegung weisen aber die auch sonst nicht gerade privilegierten neuen EU-Mitglieder auf: allen voran Lettland, gefolgt von Rumänien, Polen, Bulgarien, Ungarn und Litauen. Am anderen Ende der Skala, dort, wo es sich wesentlich geräumiger und großzügiger lebt, rangieren die Niederlande.
„Es regt sich Widerstand, gerade bei den sozialen Bewegungen“, urteilt der Berliner Sozialwissenschaftler Andrej Holm. Beispielsweise in England, wo in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr der kleinen vermieteten Reihenhäuser, „Council Houses“ genannt, an solventere Bewohner verkauft worden sind. Die Regierung unter der früheren konservativen Regierungs-Chefin Margaret Thatcher hatte diese Entwicklung seinerzeit angestoßen und mit dem Argument befördert, dass Privatbesitzer verantwortungsbewusster seien und sich mehr kümmern würden: um die Pflege ihrer Häuschen, um bessere Nachbarschaft, das Image der Quartiere. Schmuckstücke sollten die grauen Siedlungen werden – eingetreten ist das Gegenteil. Der Verkauf einzelner Immobilien entwertete den verbleibenden Bestand an kommunalen Mietwohnungen und -häusern enorm. Holm: „Privatisiert werden konnten natürlich nur die besten Bestände, geblieben sind Schrottimmobilien und Straßenzüge, in denen jetzt nur noch die Ärmsten der Armen wohnen.“ Und da zieht jetzt niemand mehr hin.
Aufruhr gab und gibt es auch in Frankreich, wo schon die Wohnadresse über die Zukunft eines jungen Menschen entscheiden kann. Wer etwa eine Straße in den Banlieues, den heruntergekommenen Sozialsiedlungen in den Vororten der großen Städte in den Bewerbungsbögen angibt, muss damit rechnen, weniger Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu haben.
Proteste allerorten haben nun Bewegung in die Politik gebracht. In Spanien gibt es Überlegungen, zwangsgeräumte Immobilien in Mietwohnungen umzuwidmen und sie zu erschwinglichen Preisen an den Markt zu bringen. Auch ein Umdenken bei den Banken ist mittlerweile zu beobachten, weil diese inzwischen auf einer zu großen Zahl zwangsgeräumter und unverkäuflicher Immobilien sitzen. Auch in Irland (circa 75 Prozent Wohneigentum) hat die prekäre Lage neue Ideen produziert: „Mortgage to rent scheme“ – „von der Hypothek zur Miete“ ist eine staatliche Initiative, um jenen zu helfen, die ihre Baukreditlasten nicht mehr tragen können und vor dem Rauswurf stehen.
„In Deutschland scheint man sich der Gefahr, die mit einem Trend zu immer mehr Wohneigentum verbunden ist, bisher kaum bewusst zu sein“, gibt Andrej Holm zu bedenken. Er hat den Berliner Wohnungsmarkt seit dem Fall der Mauer beobachtet und analysiert. Der Verkauf von Wohnungen in der Innenstadt hat den Markt enorm verändert. „Seit 2011 gibt es im Prenzlauer Berg mehr Eigentums- als Mietwohnungen“, so Holm. „Das ist der Punkt, wo sich die Mieterstadt Berlin aufzulösen beginnt – und mit ihr die soziale Mischung der Bevölkerung.“ Die Folge: Segregation.
Für eine Großstadt kann es fatale Folgen haben, wenn Gering- und schließlich auch Durchschnittsverdiener mehr und mehr nach draußen gedrängt werden. Sybille Münch hat im Rahmen einer Analyse des Frankfurter Wohnungsmarktgeschehens festgestellt: „Städtische Dienstleister wie zum Beispiel Kinder- und Alteneinrichtungen haben in der Main-Metropole immer größere Probleme, Personal zu finden.“ Der Arbeitsweg ist vielen außerhalb Wohnenden einfach zu weit.
Diese bittere Erkenntnis hat London schon lange gemacht. Weil bei Weitem nicht mehr nur die City, sondern weite Teile der Mega-Stadt selbst für mittlere und sogar gute Einkommensschichten unbezahlbar geworden sind, sind diese abgewandert. Und statt nun stundenlange Fahrtwege zur Arbeit in Kauf zu nehmen, sucht man außerhalb nach einem neuen Job. Der Stadt gehen dadurch die sogenannten Keyworker verloren – jene Menschen, die mit ihrer Arbeit London am Laufen halten: Sanitär- und Reinigungskräfte, Polizisten, Verkäuferinnen, Kindergärtnerinnen, Busfahrer und Hausmeister. Barbara Steenbergen: „In London ist man jetzt dabei, über das Thema Stadtumbau nachzudenken“ – und die Strukturhilfefonds abzurufen, die die EU dafür anbietet.
„Auch wenn die EU keinen direkten Einfluss auf die Wohnungspolitik ihrer Mitglieder nehmen darf, gibt es doch Gesetze und Entscheidungen, die den Immobilienmarkt und damit sowohl Mieter als auch Eigentümer nicht unberührt lassen“, erklärt Özgür Öner vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW). Da wären Energie- und Umweltpolitik, Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge und auch Brüsseler Finanzbeschlüsse.
Über Wirtschafts- und Umwelt- in die Immobilienpolitik
„Es gibt in der EU viele Möglichkeiten, Entwicklungen von Stadtstrukturen zu beeinflussen.“ Der Leiter des Brüsseler Büros des GdW spricht über die mit Milliarden Euro gefüllten Fördertöpfe, die bereitstehen und von jedem Land abgerufen werden können – der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) etwa oder der Europäische Sozialfonds (ESF). Das große Ziel heißt „Kohäsionspolitik“ – ein Begriff, der bereits Mitte der 1980er Jahre in Brüssel geprägt wurde und ein wichtiges Element europäischen Agierens benennt: Kohäsionspolitik soll zum Zusammenhalt in der Gemeinschaft führen, indem zwischen reicheren und ärmeren Regionen umverteilt und Folgen ungleicher wirtschaftlicher Entwicklung in der EU verringert beziehungsweise ausgeglichen werden.
Die Wohnungsfrage wird dabei auch in der EU immer größere Bedeutung gewinnen. Und das nicht nur um des sozialen Friedens Willen. Denn wo ein Zugang zu erschwinglichen Mietwohnungen fehlt, schadet dies der Wirtschaft. Die verlangt Mobilität am Arbeitsmarkt.
Barbara Steenbergen: „Erschwingliche Mietwohnungen für alle Gruppen der Bevölkerung ist die Voraussetzung von Mobilität und damit Wachstum.“ Am Beispiel Italiens zeigt sich, was es bedeutet, wenn ein ganzes Land hauptsächlich auf eine Wertvorstellung setzt, nämlich auf die vom Wohneigentum. Nicht in den eigenen vier Wänden zu wohnen gelte als gesellschaftliches Manko, so die IUT-Vertreterin. Vor allem für junge Leute wird das zur Falle.
Italien ist das Land der „Nesthocker“: Rund 70 Prozent aller unverheirateten Männer über 30 wohnen hier noch bei ihren Eltern. Und es ist ein Land mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 40 Prozent. „Die würden ja ausziehen, woanders nach einer Arbeit suchen und sich dort eine Wohnung mieten“, so Barbara Steenbergen, „aber die finden einfach nichts, weil es erschwingliche Mietwohnungen kaum gibt.“ Sie müssen also außer Landes, etwa nach Österreich oder Deutschland, um dort, wo sie Arbeit finden, auch wohnen zu können.
Wien hat sich längst auf Zuwanderer eingestellt – und bereitet sich vor. Mit dem neuen Stadtteil Aspern soll ein Quartier entstehen, das von vornherein viel Mischung zulässt: „Für junge Leute werden in den Wohnhäusern sogenannte Smart-Wohnungen geplant“, berichtet Michaela Kauer. Klein, ohne überflüssigen Luxus wie etwa einen angeschlossenen Parkplatz oder eine Einbauküche, sind sie preiswert und ideal für eine erste eigene Wohnung. Auch dass Aspern zentrumsfern auf einem ehemaligen Flugfeld errichtet wird, ist kein Problem. Michaela Kauer: „Das erste, was Wien für das neue Quartier gebaut hat, ist eine superschnelle U-Bahnverbindung.“ Mit der ist man in einer Viertelstunde am Stephansdom.
Die Städte pochen auf Eigenständigkeit
Er wolle sich wirklich nicht als „EU-Feind“ verstanden wissen, hatte der Wiener Bürgermeister Michael Häupl im November letzten Jahres immer wieder betont. Aber den „Anschlag auf den Sozialen Wohnungsbau“ aus Brüssel, den konnte seine Stadt nicht einfach so hinnehmen. Wien legt großen Wert auf Selbstbestimmung. Und nachdem die Europäische Kommission nicht nur in den niederländischen Sozialen Wohnungsbau eingegriffen hatte, sondern auch ein Urteil gegen Schweden auf dem Tisch liegt und eine Klage gegen Frankreich wegen Wettbewerbsverzerrung derzeit verhandelt wird, haben Häupl und sein Wohnbaustadtrat Michael Ludwig eine Resolution aufgesetzt, die das österreichische und vor allem das traditionelle Wiener System des Sozialen Wohnungsbaus verteidigt. Und sie haben es nicht im nationalen Rahmen belassen, sondern bei ihren Amtskollegen angeklopft. 30 europäische Stadtoberhäupter haben seitdem ihre Unterschrift unter das Dokument gesetzt – Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit ist einer von ihnen. Sie pochen darauf: Wohnungspolitik sei Sache der Länder.
Sollte sozialer und damit geförderter Wohnungsbau per Dekret aus Brüssel künftig nur noch einer definierten kleinen Gruppe von besonders sozial Benachteiligten und Einkommensschwachen vorbehalten bleiben, wäre das ein ungeheuerlicher Eingriff in die Mietwohnungsmärkte, so Barbara Steenbergen. Sowohl für die IUT-Vertreterin wie für die Wienerin Michaela Kauer und den Vertreter der Immobilienbranche Özgür Öner ist solch eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips nicht hinnehmbar. Sozialer Wohnungsbau, gerade mit seinen nationalen Ausprägungen, sei eine wesentliche Voraussetzung für die Herausforderungen, vor denen die europäischen Städte in den kommenden Jahren stehen werden: Wachstum durch immer mehr Zuwanderung, demografischer Wandel und mit ihm die Versorgung jüngerer und älterer Menschen mit adäquatem Wohnraum.
Barbara Steenbergen: „Sozialer Mietwohnungsbau nur für die Ärmsten – das schafft Segregation. Eine gute Durchmischung der Quartiere in unseren Städten lässt sich so nicht erreichen.“
Rosemarie Mieder
Mit dem Positionspapier „Wir dürfen Europa nicht den Finanzmärkten und Wirtschaftsliberalen überlassen“meldet sich der Berliner Sozialgipfel vor der Europawahl zu Wort, auf dem auch der Berliner Mieterverein vertreten ist: Europa müsse unter Beweis stellen, dass es nicht allein um Bankenrettung, sondern um die Arbeits- und Lebensbedingungen für über 500 Millionen Menschen gehe, fordern die Interessenvertreter darin.
„Für ein soziales Europa“, heißt es in dem Papier, „sind die parlamentarischen Entscheidungsstrukturen auf nationaler und europäischer Ebene zu stärken und das Diktat der Entscheidungen weniger Regierungsspitzen zu brechen. Dies erfordert eine Kompetenzerweiterung des europäischen Parlamentes und den Aufbau einer über die Grenzen reichenden Demokratie.“ Das Prinzip der Subsidiarität müsse konstruktiv und mit Augenmaß zu mehr Integration und Solidarität weiterentwickelt werden.
Kernstück eines sozialen Europa, so die Vertreter des Berliner Sozialgipfels, seien geschützte Wohnungsmarktsegmente und Mieterschutz: „Sie sind ein Filter, der verhindert, dass soziale Degradierung, Ausschluss vom Arbeitsmarkt und Armut unmittelbar auf die gesamte Lebenswelt durchschlagen. Wo diese Filter nicht mehr funktionieren, kommt es zur sichtbaren Ausgrenzung im Quartier, die andere Diskriminierungen im Bildungs- und Arbeitsmarktbereich verstärken und festigen.“ Der Abbau sozialer Sicherungen sei auch beim Wohnen durch den Finanzmarkt mitbestimmt worden und begünstige diesen, wie etwa bei Verkäufen öffentlicher Wohnungsbestände durch überschuldete Kommunen.
„Alle EU-Staaten brauchen ein Grundrecht auf Wohnen in ihren Verfassungen und gesetzliche Schutzrechte, die den Zugang zu preiswerten Wohnungen und angemessenem Wohnen absichern.“
rm
Am 25. Mai sind rund 61,4 Millionen Deutsche aufgerufen, ihre 96 Abgeordneten für das Europaparlament zu wählen. 25 Parteien und sonstige politische Vereinigungen sind zur Wahl zugelassen.
Das EU-Parlament ist das einzige direkt zu wählende Organ der Europäischen Union. Es hat keine gesetzgeberische Funktion, sondern darf nur „nichtlegislative Entschließungen“ erlassen. Allerdings wurden seine Kompetenzen mehr und mehr erweitert, so wählt es beispielsweise den Präsidenten der Europäischen Kommission.
Die Europäische Kommission ist die eigentliche „Regierung“ der EU. Ihr gehören 28 Kommissare an. Jeder betreut ein Ressort (zum Beispiel digitale Agenda, Verkehr, Wettbewerb, Klima und Gesundheit). Die Kommission setzt als Exekutive die EU-Verträge um, überwacht ihre Einhaltung und schlägt Gesetze vor, die vom Ministerrat beschlossen werden.
Der Ministerrat ist das De-facto-Machtzentrum der EU – ihm gehören die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten an. Er ist für die Gesetzgebung zuständig, stellt den Haushalt der Union auf und schließt im Namen der Gemeinschaft Verträge mit Staaten und internationalen Organisationen ab.
rm
MieterMagazin 5/14
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21.05.2014