Berlin braucht möglichst schnell neue Wohnungen. Doch gegen viele Wohnungsbauvorhaben regt sich in der Nachbarschaft Widerstand – mal mit guten, mal mit weniger stichhaltigen Argumenten. Der Senat hat sich nach seiner Niederlage im Tempelhof-Volksentscheid zerknirscht gezeigt: Man habe die Lektion gelernt. Doch statt sich nun um eine frühzeitige und umfassende Bürgerbeteiligung zu bemühen, gehen die Politiker dazu über, die Einmischung der Bürger abzublocken.
Als am 25. Mai 2014 die Mehrheit der Berliner Bürger in einem Volksentscheid die Bebauung des Tempelhofer Feldes ablehnte, war allen klar, dass dies auch ein Misstrauensvotum gegen die Bau- und Wohnungspolitik des Senats war. Die Botschaft lautete: Planung von oben ist passé, Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg darf es nicht mehr geben.
Die Beteuerungen, die Bürgerbeteiligung künftig ernster zu nehmen, erscheinen angesichts des weiteren Vorgehens allerdings nicht sehr glaubwürdig. So zog die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Dezember 2014 das Bebauungsplanverfahren für die Buckower Felder, auf denen 400 Wohnungen entstehen sollen, an sich – gerade als sich unter den Anwohnern Widerstand formierte. Möglichen Bürgerbegehren oder Bürgeranträgen auf Bezirksebene entzog der Senat damit die Grundlage. Das eigentlich zuständige Bezirksamt Neukölln gab die Zuständigkeit nicht ungern ab.
„Es ist ein Armutszeugnis, dass Bezirk und Senat die Auseinandersetzung mit den Bürgerprotesten scheuen und stattdessen mit Hilfe von Tricksereien die Bürger mundtot machen wollen“, erklärt der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild. Begründet wurde der Vorgang, mit dem der Senat dem Bezirk das Verfahren aus der Hand genommen hat, mit der „besonderen stadtpolitischen Bedeutung“ der Buckower Felder. „Das ist ein Witz“, so Wild: „Mit diesem Argument könnte der Senat gleich alle Planungsverfahren an sich ziehen, bei denen Wohnungsneubau entsteht.“
„… kann nicht von der Nachbarschaft entschieden werden“
Tatsächlich geht die Praxis der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung genau in diese Richtung. Bei der Bebauungsplanung für einen Teil des Mauerparks wiederholte sich im März das Szenario: Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel entzog dem Bezirk Mitte das Verfahren, als das Anwohnerbündnis „Mauerpark-Allianz“ ein Bürgerbegehren ankündigte.
Die Unternehmensgruppe Groth will auf dem nördlichen Teil der geplanten Parkerweiterung 700 Wohnungen bauen. „Diese Dimension ist angesichts der steigenden Bevölkerungszahlen in Berlin von stadtweiter Bedeutung und kann nicht mehr nur von den unmittelbar angrenzenden Nachbarschaften entschieden werden“, so Geisel. Die nicht unbegründeten Einwände von Anwohnern und Parknutzern werden ignoriert. Es entsteht sogar der Eindruck, große Investoren bekämen eine Vorzugsbehandlung, indem ihnen von höchster Stelle der Weg für ihre Vorhaben freigeräumt wird.
Im März hat Andreas Geisel auch die Eingriffsschwelle seiner Verwaltung herabgesetzt: Er will das Ausführungsgesetz zum Baugesetzbuch so ändern, dass künftig schon Bebauungspläne für 200 Wohnungen von „gesamtstädtischer Bedeutung“ seien und somit den Bezirken entzogen werden könnten. Bisher liegt dieser Grenzwert bei 500 Wohneinheiten. Wenn die Senatsverwaltung dies rigoros durchzieht, haben die Bezirke höchstens noch bei größeren Baulückenschließungen etwas zu sagen, bei denen meistens ohnehin kein amtlicher Bebauungsplan aufgestellt wird. Für die lokale Demokratie ist das eine Bankrotterklärung.
Nach dem Tempelhof-Volksentscheid sucht der Senat nun händeringend nach schnell bebaubaren Grundstücken. Dadurch kam die landeseigene Elisabethaue, eine rund 80 Hektar große, landwirtschaftlich genutzte Fläche zwischen den Pankower Ortsteilen Buchholz und Blankenfelde, ins Visier. Im Stadtentwicklungsplan (StEP) Wohnen ist sie noch als „nachrangige“ Wohnbaufläche verzeichnet, die nach 2025 bebaut werden soll. Doch plötzlich drückt der Senat auf die Tube: In drei Jahren sollen hier rund 3000 Wohnungen gebaut werden. Dazu wird die Fläche den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Gesobau und Howoge übertragen.
Gegen die Baupläne hat sich eine Bürgerinitiative gebildet. Eine Bebauung der Elisabethaue würde eine Kaltluftschneise aus dem Norden in die Berliner Innenstadt abschneiden und die Existenz der Landwirte bedrohen. Zudem wäre das neue Viertel schlecht ans öffentliche Verkehrsnetz angeschlossen – eigentlich ein Verstoß gegen die Prämissen des StEP Wohnen. Der Bezirk stellt sich deshalb gegen die Bebauungspläne und hat stattdessen eine Reihe von besser erschlossenen Bauflächen vorgeschlagen. Die Bezirksverordneten streiten nun, wie sich der Bezirk zur vom Senat forcierten Bebauung der Elisabethaue verhalten soll: kooperieren und versuchen, das bestmögliche Ergebnis herauszuholen – oder sich verweigern? So oder so schwebt das Damokles-Schwert des Senats darüber, der jederzeit das Verfahren an sich ziehen kann.
Eine der vom Bezirk Pankow vorgeschlagenen Alternativbauflächen liegt in der Michelangelostraße im Bezirk Prenzlauer Berg. Auch hier gibt es Ärger. Im Herbst 2014 führte der Senat zusammen mit dem Bezirk und den örtlichen Wohnungsunternehmen einen städtebaulichen Ideenwettbewerb für eine 31 Hektar große Fläche beiderseits der Straße durch. Hier sollen rund 1500 Wohnungen entstehen, indem Parkplätze und ungenutzte Rasenflächen bebaut und die vorhandene Siedlung aus den 50er bis 70er Jahren nachverdichtet werden. Das Wettbewerbsverfahren ist auf der Internetseite der Senatsverwaltung veröffentlicht worden, mitbekommen haben es die Anwohner aber erst im Januar, als der Gewinnerentwurf präsentiert wurde. Dass sich die Nachbarn vor vollendete Tatsachen gestellt fühlen und nun besonders misstrauisch sind, darf in der Verwaltung niemanden erstaunen.
Aussicht auf eine Hinterhofexistenz
Das Wettbewerbsergebnis erweckt zudem den Eindruck, als habe man den Konflikt geradezu gesucht. Der Siegerentwurf will aus der offenen Zeilenbebauung eine zur Straße geschlossene Blockrandbebauung machen. Mehrere freistehende Gebäude bekommen dadurch an der Südseite Querriegel vorgesetzt, so dass dort etliche Bewohner keine Sonne mehr sehen. Die Aussicht auf eine solche Hinterhofexistenz bringt die Anlieger selbstverständlich auf die Barrikaden. Hätte man hingegen das Bauvolumen etwas reduziert und nur eine Bebauung der im Überfluss vorhandenen Parkplätze und des Abstandsgrüns an der überbreiten Michelangelostraße vorgesehen, könnte man immer noch gut und gerne 1000 Wohnungen bauen, ohne die Anwohner gegen sich aufzubringen.
Wer sich darüber beschwert, dass es bei jedem Bauvorhaben Anwohnerproteste gibt, hat ein gestörtes Verhältnis zur Bürgerbeteiligung. Jeder Einwand, den die Bürger vorbringen, ist legitim, selbst wenn es nur die Sorge ist, künftig nicht mehr direkt vor der Haustür einen Parkplatz zu finden. Damit muss die Politik umgehen. Sie muss versuchen, mit guten Argumenten die Bürger davon zu überzeugen, dass in diesem Falle an jenem konkreten Ort Wohnungsbau wichtiger ist. So lange der Senat aber auf taktische Winkelzüge und Pro-forma-Beteiligungen mit vorgefertigten Ergebnissen setzt, braucht er sich nicht zu wundern, wenn die Berliner in Fundamentalopposition treten.
Jens Sethmann
Die Neubaulast ist ungleich verteilt
Die geplanten Wohnungsbauflächen sind sehr ungleich über Berlin verteilt. Der Stadtentwicklungsplan Wohnen verzeichnet berlinweit ein Potenzial von 96.200 neuen Wohnungen auf Flächen über einem Hektar – also ohne kleinere Nachverdichtungen. Davon entfallen allein 22.800 auf den Bezirk Pankow. Neben den ebenfalls großflächigen Bezirken Treptow-Köpenick (15.100 Wohnungen) und Lichtenberg (10.100) tragen die schon sehr dicht bebauten Bezirke Mitte (11.600) und Friedrichshain-Kreuzberg (7300) die größte Neubauverantwortung. Trotz teils größerer Flächen sollen vor allem in den West-Bezirken deutlich weniger Wohnungen entstehen. In Tempelhof-Schöneberg und Charlottenburg-Wilmersdorf sowie in Marzahn-Hellersdorf stehen jeweils unter 4000 Wohnungen auf dem Programm, in Reinickendorf sogar nur 2400.
js
Wettbewerbsdokumentation „Wohnen an der Michelangelostraße“:
www.stadtentwicklung.berlin.de/aktuell/wettbewerbe/ergebnisse/2014/michelangelostr/
04.11.2022