Eine Stadt ist nie fertig. Sie wächst und wandelt sich – das war immer so. Nur dass die Digitalisierung heute alles viel schneller geschehen lässt: Automatisierung der Arbeit, Veränderung der Mobilität, immer größere Informationsströme. Das stellt Anforderungen an die Quartiere – bietet aber auch ungeahnte Möglichkeiten. Ein Gespräch mit dem Stadtentwickler und Resilienzforscher Jochen Rabe.
MieterMagazin: Was versteht man unter „Urbaner Resilienz“?
Rabe: Es ist die Fähigkeit einer Stadt, auf Schocks und Krisen zu reagieren, Wandlungsprozesse zu bewältigen, ohne dabei das zu verlieren, was sie für uns reizvoll und lebenswert macht. Um ein Beispiel zu nennen: Wir wissen, dass die künstliche Intelligenz unsere Gesellschaft verändern wird, und zwar in signifikantem Ausmaß und in einer bislang nicht gekannten Geschwindigkeit. In der Urbanen Resilienzforschung fragen wir uns: Welche Auswirkungen wird dieser Wandel auf unsere Quartiere und Infrastrukturen haben? Wie ist eine Kommune selbst in der Lage, solchen Herausforderungen zu begegnen? Welche Strategien müssen wir entwickeln, damit Veränderungsprozesse bewältigt und als Chance angenommen werden?
MieterMagazin: Städte befinden sich in permanenten Wachstums- und Wandlungsprozessen. Wo genau setzt ihre Forschung da an?
Rabe: Meine Professur ist Teil des „Einstein Center Digital Future“, eine gemeinschaftliche Initiative der Berliner Universitäten auf Anregung der Stadt Berlin. Seit April vergangenen Jahres arbeiten hier verschiedene Wissenschaftler interdisziplinär zusammen: IT-Spezialisten, Wirtschaftsfachleute, Ingenieure, Mediziner, Sozialwissenschaftler und Stadtplaner. Im Zentrum steht eine Herausforderung, der wir alle gegenüberstehen und die auch der Ansatz für meine Forschung in Berlin ist: die Digitalisierung.
MieterMagazin: Welche Rolle spielt die Digitalisierung im Hinblick auf urbane Resilienz?
Rabe: Sie wird die Struktur und den Weiterbau unserer Städte, das Zusammenleben in den Quartieren, die Art unserer Mobilität, Kommunikation und auch demokratische Strukturen entscheidend verändern. Ganz ähnlich wie die Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts – bloß dass diesmal die Transformationsprozesse viel schneller und überall gleichzeitig ablaufen werden.
Die Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey hat beispielsweise in einer Studie prognostiziert, dass über einen Zeitraum von 20 Jahren die Automatisierung von 50 Prozent aller jetzigen Arbeitsplätze denkbar ist. Nach den derzeitigen Vorhersagen wird damit gerechnet, dass nicht alle diese Arbeitsplätze ersetzt werden. Gleichzeitig entstehen mit neuen Produktionsformen dezentrale Arbeitsstrukturen.
Die spannende Frage für uns ist: Was bedeutet es für Quartiere, wenn viele der Bewohner, die bisher jeden Morgen ins Auto, die Bahn, aufs Rad steigen, nun vom PC von zu Hause oder einem lokalen Coworking Space aus arbeiten? Wenn Angestellte nicht mehr acht Stunden weg sind, sondern die Arbeitszeit verkürzt ist und ihnen viel mehr freie Zeit zur Verfügung steht? Wenn sich Verkehrsströme ändern, sich E-Mobilität, autonomes Fahren, Carsharing mehr und mehr durchsetzen? Und sich das alles unter globalen Herausforderungen vollzieht wie dem Klimawandel, Ressourcenknappheit und zunehmenden Wanderungsbewegungen.
MieterMagazin: Gibt es Partner außerhalb der Universität, mit denen sie zusammenarbeiten?
Rabe: Das ist eine ganz wesentliche Basis meiner Professur. Die wird nämlich drei Jahre von zwei großen Berliner Vermietern gestiftet, von den kommunalen Wohnungsunternehmen Gesobau und Howoge. Mit ihnen zusammen führen wir Forschungsprojekte in zwei großen Wohnsiedlungen durch – im Märkischen Viertel und in Neu-Hohenschönhausen. Dort beispielsweise haben Studenten die Aufgabe bekommen, eine „Zeitmaschine Neu-Hohenschönhausen“ zu konzipieren: Auf welche Veränderungen muss sich das Quartier einstellen? Wie wandlungsfähig ist der Kiez? Welche Veränderungen wünscht man sich, etwa um eine „Schlafstadt“ aufzuwecken?
Die Verwaltungen hinken hinterher
MieterMagazin: Demnach ist Ihre Forschungsarbeit nicht nur für die großen Vermieter, sondern auch für die kommunalen Verwaltungen interessant.
Rabe: Die Digitalisierung verändert nicht nur das Leben der einzelnen Bewohner, sie verändert die Bedingungen für die Stadtplanung. Aber Ämter und Verwaltungen hinken – wie viele andere auch – eindeutig hinterher, wenn es um die Einbeziehung digitaler Vorausschau geht. Wer hat denn derzeit die besten aktuellen Daten dazu in der Hand? Beispielsweise über sich ändernde Verkehrsströme in einer Stadt wie Berlin? Das sind Technologieunternehmen wie Google, deren Aufgabe aber nicht die Daseinsfürsorge ist. Übermittelt bekommen sie einen großen Teil der Informationen direkt von der Bevölkerung, über deren Smartphones, die tagtäglich benutzt werden. Es vollziehen sich Machtverschiebungen in der Stadtentwicklung, auf die meiner Meinung nach noch oft die gesellschaftlichen Antworten fehlen.
MieterMagazin: Wie sähen solche Wandlungsprozesse aus?
Rabe: Wenn zentrale Produktionsstätten an Bedeutung verlieren, verändert das die Anforderungen an Quartiere. Bisher sind viele Bewohner am Abend heimgekommen und am Morgen wieder aufgebrochen. Jetzt wird es auch unter der Woche tagsüber lebendiger, da muss ein lebenswertes Umfeld geboten werden. Ich halte in dem Zusammenhang Umwidmungen für unverzichtbar: In den Erdgeschossbereichen der Wohnhäuser gibt es Platz für Gewerbe und vielfältige neue soziale Nutzungen.
Mehr Bürgerbeteiligung durch Digitalisierung
Es sollten auch unbedingt Platzreserven vorgehalten werden – beim derzeitigen Druck auf dem Wohnungsmarkt und den Verdichtungsstrategien ist das nicht ganz einfach. Aber eine Stadt wird nie „fertig“ sein, sie muss beispielsweise auf solche Anforderungen wie die Integration von Geflüchteten reagieren können.
Ebenso wird die Digitalisierung ganz neue Möglichkeiten für eine breite Teilhabe an Planungsprozessen eröffnet. Sie gestattet es, sowohl Daten verfügbar als auch Wünsche von Mietern transparent zu machen, etwa auf einem „interaktiven digitalen schwarzen Brett“. Dabei müssen wir so viele Menschen wie möglich mit auf die digitale Reise nehmen, Weiterbildungsformate entwickeln – und auch an jene denken, die es nicht mehr schaffen, da mitzuhalten.
MieterMagazin: Wir bedanken uns für das Gespräch.
Das Gespräch führte MieterMagazin-Mitarbeiterin Rosemarie Mieder.
Resilienz – in der Stadtentwicklung ein neuer Ansatz
Der Begriff Resilienz (lateinisch resilire – zurückspringen, abprallen) kommt ursprünglich aus der Psychologie und bezeichnet psychische Widerstandsfähigkeit – die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und auch sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. Resilienzforschung in der Stadtentwicklung und -planung wird international seit etwa zehn Jahren betrieben. So fördert die Rockefeller Foundation die Entwicklung von Resilienzstrategien in 100 Städten weltweit, beispielsweise im georgischen Tiflis und im niederländischen Rotterdam. Eine deutsche Stadt ist bisher noch nicht dabei. Hierzulande wird Resilienz in der Stadtentwicklung oftmals noch auf den Kontext des Katastrophenschutzes begrenzt.
rm
07.07.2019