Das Thema Sicherheit hat im Berliner Wahlkampf eine große Rolle gespielt – nicht nur wegen der Ausschreitungen an Silvester. Mittlerweile werden in der Hauptstadt bundesweit die meisten Straftaten gezählt, noch vor dem langjährigen Spitzenreiter Frankfurt/Main. Der kürzlich präsentierte Koalitionsvertrag von SPD und CDU setzt auf Law and Order, inklusive Videoüberwachung an sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten. Doch bringt mehr Polizei wirklich mehr Sicherheit? Und wie lebt es sich in diesen Vierteln, die für die einen No-Go-Areas und für die anderen liebenswerte Kieze sind?
Das Kottbusser Tor in Kreuzberg gilt seit Jahrzehnten als Kriminalitäts- und Drogen-Hotspot. Für die Menschen, die in den mittlerweile kommunalisierten Neubauten wohnen, gehören Dealer vor dem U-Bahn-Eingang, Junkies im Treppenhaus und „gebunkerter Stoff“ in unauffälligen Verstecken ebenso zum Alltag wie Schlägereien und Polizeieinsätze.
Als Christian Manz 2018 nach Berlin zog, hatte er davon noch nichts gehört. Erst beim Mietvertragsabschluss sprach ihn der Mitarbeiter der Deutsche Wohnen darauf an, dass er ja jetzt direkt am „berühmt-berüchtigten Kotti“ wohne, erzählt der Student im Büro der Initiative „Kotti & Co“. Nur ein paar Meter entfernt, im ersten Stock des Kreuzberger Zentrums – wie der Gebäuderiegel seit dem Jahr 2000 genannt wird –, residiert seit Februar diesen Jahres eine umstrittene Polizeiwache. Fast 3,5 Millionen Euro hat das Prestige-Projekt von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) gekostet. Selbst aus den Reihen der Polizei kam Kritik an der Wache, die weitgehend ohne Einbindung der Gewerbetreibenden und Initiativen vor Ort durchgesetzt und durchgezogen wurde.
Nun wird niemand behaupten wollen, dass es am Kottbusser Tor keine Probleme gebe. Die Polizeistatistik weist hier nicht nur besonders viele Drogendelikte, sondern auch Diebstähle aus. Christian Manz, der sich bei Kotti & Co engagiert, fühlt sich indessen sicher, auch nachts. „Als 1,80 Meter großer Mann habe ich da kein Problem – als Frau oder älterer Mensch mag das anders aussehen“, räumt er ein.
Dass die Sicherheit im Wohnumfeld die Bewohner:innen beschäftigt, belegt eine von Kotti & Co durchgeführte Haustür-Befragung. Viele fühlen sich unbehaglich, und einige schränken sich auch ein, indem sie beispielsweise den U-Bahnhof oder bestimmte Durchgänge bei Dunkelheit meiden. Zwei Mieterinnen berichteten, dass Dealer in ihrem Haus fast jeden Tag die Türen aufbrechen. Die Wohnungsbaugesellschaft Howoge lasse das zwar schnell reparieren, aber am nächsten Tag sei der Schaden erneut da.
Zusammenhalt schaffen durch gemeinsame Aktivitäten
Dass die Polizeiwache etwas an diesen Zuständen ändert, glaubt Christian Manz nicht: Es gab doch auch schon vorher eine enorme Polizeipräsenz am Platz. Das Kottbusser Tor ist bereits seit 1996 als „kriminalitätsbelaster Ort“ (kbO) eingestuft. „Was passiert denn, wenn verdachtsunabhängig kontrolliert wird? Es werden ein paar kleinere Drogendelikte und Aufenthaltsverstöße festgestellt – das ist alles“, meint Manz. Viel sinnvoller wäre es nach seiner Ansicht, den Zusammenhalt in der Nachbarschaft zu stärken, denn je weniger anonym es zugeht und je mehr man aufeinander achtet, desto sicherer fühle man sich. So hat ein Nachbar unlängst eine Fläche im Innenhof des Kreuzberger Zentrums in Beschlag genommen, entmüllt und zusammen mit Kindern bepflanzt. Kotti & Co will in diesem Sommer mit den Kindern und Jugendlichen auf einem Bolzplatz Fußball spielen. So könne eine positive Identifikation mit dem Block geschaffen werden, glaubt Manz. An den großen Stellschrauben wie der Drogenpolitik oder dem Aufenthaltsrecht könne man im Kiez ja nicht drehen.
Menschen fühlen sich wohl und sicher, wenn sie in der Nachbarschaft gut vernetzt sind und die lokale Infrastruktur intensiv nutzen – das ist die Kernaussage einer Studie über das Sicherheitsempfinden am Kottbusser Tor. Die 2021 erschienene Untersuchung mit dem etwas plakativen Titel „Leben zwischen Dreck und Drogen“ wurde vom Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung, einer interdisziplinären Plattform an der Berliner Humboldt-Universität unter Leitung von Professorin Talja Blokland, erstellt. Die insgesamt 323 befragten Haushalte nannten zwar viele „Unsicherheitsorte“, etwa den U-Bahnhof, den viele meiden. Doch je mehr Läden und Cafés sie nutzen und je mehr bekannte Gesichter ihnen tagtäglich begegneten, desto weniger Angst äußerten sie. Die Forschungsgruppe nennt das eine „vertraute Öffentlichkeit“. Dort, wo man sich kennt und aufeinander achtet, steigt das Sicherheitsgefühl, auch weil man weiß: Im Notfall kommt mir jemand zu Hilfe. Von daher trage der Gemüsehändler oder die Späti-Betreiberin mehr zum Sicherheitsempfinden bei als eine Polizeiwache. Die Wissenschaftler:innen nennen neben der Stärkung der nachbarschaftlichen Beziehungen und baulichen Veränderungen weitere Maßnahmen, um die Situation zu verbessern – beispielsweise abschließbare Fahrradgaragen, um den grassierenden Fahrraddiebstahl einzudämmen. Vor allem aber ließe sich durch einen anderen Umgang mit Drogen, etwa der kontrollierten Abgabe von Marihuana, ein großes Alltagsproblem lösen.
Ein Kilometer Luftlinie entfernt vom Kottbusser Tor befindet sich der als „Drogenpark“ weithin bekannte Görlitzer Park. In den letzten Jahren hat sich die Situation verschärft, zum einen durch Angebot und Konsum von harten Drogen wie Crack, aber ironischerweise auch durch die Null-Toleranz-Politik, die der damalige CDU-Innensenator Frank Henkel 2015 eingeführt hat. Eine Unzahl von Polizeieinsätzen war die Strategie dieser Politik – mit dem Ergebnis, dass sich der Drogenhandel, der vorher auf den Park beschränkt war, in den benachbarten Wrangelkiez ausdehnte. Dass ein repressives Vorgehen lediglich zu einer Verdrängung der Drogenszene führt, war eigentlich schon damals hinlänglich bekannt. Dennoch griff die CDU im kürzlichen Wahlkampf wieder tief in die Mottenkiste. Timur Husein, CDU-Abgeordneter mit Wahlkreis in Kreuzberg, forderte auf Twitter „konsequente Abschiebung beziehungsweise harte Strafen für die Drogendealer“, einen Sicherheitsdienst an den Eingängen des Görli, Schließung des Parks bei Dunkelheit und Videoüberwachung. Persönlich wollte er sich dazu nicht äußern, eine Anfrage des MieterMagazins blieb unbeantwortet.
Der Ruf nach Repression stirbt nicht aus
Nun ist der Görlitzer Park entgegen der medialen Wahrnehmung keinesfalls eine No-Go-Area. Es gibt zwar Anwohnerinnen, die ihn meiden, aber von den meisten wird diese einzige Grünfläche weit und breit ausgiebig genutzt. Der offene Drogenhandel ist zwar stets präsent, aber auch picknickende Familien, Yoga-Gruppen, Frisbee-Spieler und Kindergeburtstage geben sich dort ein regelmäßiges Stelldichein. Während die Dealer ihre illegale Ware anbieten – offensiv, aber nicht aggressiv –, werden direkt nebenan auf dem Kinderbauernhof die Esel gestreichelt. „Ich habe mich am Anfang immer gefragt, wo denn diese Gewalt zu finden ist, über die ich so viel in den Medien gelesen habe“, erzählt Katrin, die vor einigen Jahren von Frankfurt/Main in den Wrangelkiez gezogen ist. Ebenso wie Judith und David – ihre Nachnamen wollen sie nicht nennen – engagiert sie sich in der Initiative „Wrangelkiez United“. Sie fordern: soziale Lösungen für soziale Probleme. In einem Offenen Brief haben sie sich Ende 2022 an Bezirk und Senat gewandt und ein grundsätzliches Umdenken gefordert. „Statt 3,5 Millionen Euro in die Polizeiwache am Kotti zu stecken, sollten die Mittel für Drogenkonsumräume, aufsuchende Drogenhilfe und Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose verwendet werden“, erklärt David. Auch die sozial-psychiatrische Versorgung entsprechend Auffälliger sei völlig unzureichend.
Durch massive Polizeipräsenz ließen sich diese Probleme nicht lösen – im Gegenteil, sagen die drei. Die Empörung über rassistische Polizeikontrollen war es, die zur Gründung der Initiative führte. „Im ersten Lockdown, als die Straßen fast menschenleer waren, ist uns aufgefallen, wie unverhältnismäßig häufig ,schwarze Menschen‘ kontrolliert werden und wie menschenverachtend dies abläuft“, sagt Judith. Ihr verschafft die Anwesenheit der Dealer, die von manchen als Bedrohung wahrgenommen werden, eher ein beruhigendes Gefühl. „Früher war mir oft mulmig und ich hab den Park gemieden. Seit da Tag und Nacht Menschen unterwegs sind, fühle ich mich sicher.“ Doch nicht alle sehen das so. Vor allem Eltern mit Kindern fordern ein härteres Durchgreifen gegen die Drogenszene. David bringt dazu auch einen gentrifizierungstypischen Aspekt ins Spiel: „Manche, die hier eine Eigentumswohnung gekauft haben, sind nun ganz verwundert, dass ihnen im ,angesagten Kiez‘ Drogenkonsum, Armut, Kranke und Auffällige begegnen.“ Katrin, Judith und David wünschen sich einen solidarischen Kiez, der mit Konflikten anders umgeht, als nur reflexartig nach der Polizei zu rufen.
Arme und Auffällige im angesagten Kiez?
Kann man das Drogenproblem in einer Großstadt überhaupt lösen? „Nein“, sagt Alexander Bosch von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Man könne nur die Begleiterscheinungen für die Nachbarschaft verringern. Etwa indem man im öffentlichen Raum Entsorgungsboxen für gebrauchte Spritzen aufstellt. Für den Sozialwissenschaftler, der sich schwerpunktmäßig mit Polizeigewalt beschäftigt, sind der Görlitzer Park und das Kottbusser Tor die besten Beispiele dafür, dass eine vermehrte Polizeipräsenz und die Einordnung als kbO nicht dazu beitragen, dass die Straßenkriminalität verschwindet. Er teilt die Auffassung von „Wrangelkiez United“: Die Probleme könne man besser angehen durch eine Mobilisierung und Aktivierung der Zivilgesellschaft statt nach mehr Polizei zu rufen.
Ortswechsel. Der Alexanderplatz. Ebenfalls „kbO“. Laut Polizei sind hier auffällig viele „Rohheitsdelikte durch Gruppengewalt“ zu verzeichnen. Für die Anwohnerschaft sind jedoch weniger die Prügeleien unter Jugendlichen das Problem als vielmehr Obdachlose, die zunehmend in den Hauseingängen oder Treppenhäusern campieren. Natürlich habe sie auch Mitleid mit diesen Menschen, sagt Gabriele Bartholomä, die kurz nach der Wende in einen der Häuserblocks in der Karl-Liebknecht-Straße gezogen ist. Doch viele seien psychisch auffällig, würden aggressiv, wenn sie alkoholisiert sind. Und oft kommt dann herein, wen man eigentlich nicht im Haus haben will. Die Eigentümerin, die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM), hat zeitweise Sicherheitsfirmen eingesetzt. WBM-Sprecher Matthias Borowski sagt dazu, dass sich dadurch die Lage zwar verbessert habe, es aber letztlich nur zu einer Verlagerung der Probleme komme. Man versuche daher eher, das Sicherheitsgefühl durch eine starke Nachbarschaftsvernetzung zu stärken, etwa durch die Unterstützung von Gartengemeinschaften in den Blocks. Auf einem Spielplatz, der häufig als Unterschlupf von Obdachlosen genutzt wurde, gärtnert nun eine Mietergemeinschaft. Nachts wird er vom Wachschutz verschlossen.
Crack hat die Szene verändert
Ein Ort, an dem man schon einiges versucht hat, um die Situation zu verbessern, ist der Leopoldplatz im Wedding. Vor zehn Jahren wurde er umgestaltet – gemeinsam mit der Trinkerclique, die sich dort regelmäßig aufhält. Ein Platz für alle, war das Motto. Niemand sollte verdrängt werden. „Dahinter stehen wir zu 100 Prozent, wir sind keine Spießer“, betont Sven Dittrich von der Initiative „WIR am LEO“. Der Leopoldplatz wäre schließlich schon immer ein eher rauer Ort gewesen, der viele gescheiterte Existenzen angezogen hat. Doch die Situation sei mittlerweile eine ganz andere, sagt Dittrich, der seit 16 Jahren am Platz wohnt und dort auch ein Geschäft betreibt. Im letzten Sommer sei die Lage völlig außer Kontrolle geraten, erzählt er. Bis zu 150 Leute hätten auf dem Platz ganz offen Drogen konsumiert.
Anfang 2023 haben sich Gewerbetreibende und Anwohnende daher zu einer Initiative zusammengeschlossen und eine Demo organisiert. Sven Dittrich berichtet von Junkies, die sich mit heruntergelassenem Hosenbein auf die Stufen der Kirche setzen und ungeniert eine Vene für ihren Drogenschuss suchen. Das habe es früher nicht gegeben. Durch die neuen Suchtmittel, insbesondere Crack, habe sich die Szene völlig gewandelt. Crack verändert die Psyche und führt zu einer verstärkten Aggressivität. Dittrich weiß von zwei Familien, die nach langer Wohndauer am Leopoldplatz jetzt wegziehen wollen, und von älteren Anwohnerinnen, die nochmal um den Block gehen, wenn sich auf ihrem Heimweg vor der Haustür jemand gerade einen Schuss setzt. „Hier wohnen ohnehin Leute, die es nicht so leicht haben. Wieso mutet man diesen Menschen zu, ihre Kinder durch Dreck und Spritzen zur Kita zu bringen?“ Regelmäßig finden nun Clean-Up-Aktionen statt, außerdem bereitet die Initiative ein Sportturnier vor. „Der Platz braucht eine starke Nachbarschaft“, so Dittrich.
Anders als andere Initiativen fordert man am Leo aber auch mehr Polizei – vielleicht einen Kontaktbereichsbeamten, der für die Leute vor Ort ansprechbar ist. „Für viele Menschen ist die Polizei nun mal der erste Ansprechpartner, daher wollen wir sie nicht aus der Verantwortung entlassen.“ Dass die Ängste der Anwohner mitunter als „subjektives Unsicherheitsgefühl“ abgetan und nicht ernst genommen werden, findet Dittrich ärgerlich: „Die Menschen haben nun mal unterschiedliche Toleranzen und Schmerzgrenzen. Wir möchten den Platz einfach wieder für alle nutzbar machen.“
Es gibt also keine Patentrezepte, wohl aber Ideen und Lösungsansätze jenseits polizeilicher Maßnahmen. Letztendlich machen sich in den Wohngebieten mit aller Härte die Folgen einer verfehlten Sozial-, Einwanderungs- und Drogenpolitik bemerkbar. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und diese Armut wird immer sichtbarer. Gleichzeitig werden soziale Einrichtungen und Angebote zusammengestrichen. Das ist vor allem im Bereich der niedrigschwelligen Drogenhilfe fatal. Mehr legale Drogenkonsumräume, Projekte wie „Housing First“ für Wohnungslose, eine Stärkung der nachbarschaftlichen Strukturen vor Ort – all dies schafft mehr Sicherheit als die Abschiebung von Kleindealern oder die Einzäunung und nächtliche Verschließung von Parks. In der Kriminalforschung ist es seit über einem Jahrhundert bekannt: Die beste Kriminalitätsprävention ist eine gute Sozialpolitik.
Birgit Leiß
Geheimsache kbO
Kriminalitätsbelastete Orte (kbO) gibt es in Berlin seit 1994. Die Ausweisung erfolgt auf Grundlage des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) des Landes Berlin. Es sind Orte, an denen Straftaten von erheblicher Bedeutung vorbereitet oder verübt werden, zum Beispiel Raubtaten, Rauschgifthandel, gefährliche Körperverletzungen oder bandenmäßiger Taschendiebstahl. Ein solcher Status erlaubt Kontrollen inklusive Identitätsfeststellung und Durchsuchung, ohne dass irgendein Verdacht auf eine Straftat gegen den Durchsuchten vorliegen muss. Die Einstufung kbO, die das Landeskriminalamt zusammen mit dem Polizeipräsidenten vornimmt, wird regelmäßig überprüft.
Die Liste der kbO wurde lange geheimgehalten, angeblich aus einsatztaktischen Gründen und um eine Stigmatisierung des Gebietes zu vermeiden. Erst 2017 beschloss die rot-rot-grüne Koalition ihre Veröffentlichung. Im Zuge der sich anschließenden Debatte und Hinterfragung der Kriterien wurden zehn kbO gestrichen, darunter auch der Leopoldplatz und Schöneberg-Nord. Nach wie vor werden die genauen Gebietsgrenzen nicht bekannt gegeben, angeblich um zu verhindern, dass Straftäter die Straßenseite wechseln, um einer Kontrolle zu entgehen.
Derzeit gibt es sieben kbO: Alexanderplatz, Görlitzer Park/Wrangelkiez, Hermannplatz/Donaukiez, Hermannstraße/Bahnhof Neukölln, Kottbusser Tor, Rigaer Straße und Warschauer Brücke.
Grundsätzliche Kritik an den kbO gilt neben der fehlenden Transparenz auch dem sogenannten Racial Profiling. Zwar bestreitet die Polizei, Kontrollen allein wegen der Hautfarbe oder anderer äußerlich erkennbarer Merkmale durchzuführen. Aber die Orientierung an statistischen Wahrscheinlichkeiten sei zulässig. Sprich: Der Schwarze Student oder Künstler muss bei einem Besuch im Görlitzer Park eben damit rechnen, kontrolliert zu werden. Für die Betroffenen ist in diesem Fall die Polizei nicht Schutz, sondern Belästigung und Bedrohung.
bl
Politik muss aufhören, zu stigmatisieren
Ulrike Hamann, seit neun Monaten Geschäftsführerin des Berliner Mietervereins, hat 14 Jahre lang am Kottbusser Tor gewohnt und die Initiative Kotti & Co mitgegründet.
Wie sind ihre Erfahrungen?
MieterMagazin: Hast Du die Situation am Kotti als Beeinträchtigung erlebt?
Ulrike Hamann: Nein. Am Kotti gibt es eine tolle Nachbarschaft, und viele lieben ihren Kotti. Sicher, der Drogenkonsum und die Hinterlassenschaften in den Treppenaufgängen sind ein Problem. Für Eltern sind herumliegende Spritzen sehr belastend. Um so wichtiger, dass die Hauswarte da hinterher sind. Schon 2008, als ich hingezogen bin, war klar: es muss endlich einen Druckraum direkt am Kotti geben. Aber ansonsten war das größte Problem nicht die Kriminalität, sondern die steigenden Mieten. Was mich wirklich gestört hat als Anwohnerin, war das Negativ-Image, diese Labelung als kbO und die damit einhergehenden Kontrollen. Es ist schon sehr belastend zu sehen, in welcher Art und Weise hier Menschen, vorwiegend nicht-weiße, behandelt werden.
MieterMagazin: Was würdest Du Dir wünschen für den Kotti und ähnliche Orte?
Ulrike Hamann: Neben der Stärkung der Nachbarschaft braucht es vor allem andere Perspektiven für die Menschen, die Drogen verkaufen. Die meisten würden nämlich sehr gerne einer legalen Arbeit nachgehen. Aber welche Möglichkeiten haben sie denn ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis? Zweitens muss die Politik endlich damit aufhören, solche Orte zu stigmatisieren, wie es nun auch in gewisser Weise mit der Polizeiwache gemacht wurde. Man kann so etwas doch nicht gegen alle Wünsche der Anwohnenden und ohne Einbeziehung der Initiativen vor Ort den Menschen von oben aufoktroyieren!
Interview: Birgit Leiß
Studie zum Sicherheitsempfinden am Kottbusser Tor:
https://d-nb.info/1236228014/34?bezuggrd=LEU&utm _ source=leute-friedrichshain-kreuzberg
Homepage von Wrangelkiez United:
https://wrangelkiezunited.noblogs.org
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Buchtipp:
Benjamin Derin, Tobias Singelnstein: Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Econ-Verlag 2022
26.04.2023