In vielen Familien Deutschlands ist Gewalt an der Tagesordnung: Von Beleidigungen, Demütigungen, sexueller Misshandlung und Prügel bis zu Mord und Totschlag reicht das Spektrum. Die Opfer sind insbesondere Frauen und Kinder. Um diese vor Übergriffen zu schützen, wurde vor drei Jahren das Gewaltschutzgesetz von der Bundesregierung verabschiedet. Damit werden die „zivilrechtlichen Möglichkeiten der Opfer gegen Gewalttaten“ verbessert. Tätliche Übergriffe werden als Gewalt benannt – und nicht weiter als eheliche Auseinandersetzung beschönigt. Polizisten können jetzt ohne richterliche Anordnung den Täter der Wohnung verweisen und die Opfer kommen mit diesem Gesetz schneller und einfacher zu ihrem Recht.
In der sonst so ruhigen Wohnung im dritten Stock Vorderhaus wird es laut. Schmerzensschreie bis ins Treppenhaus. Ilse Schulz* wird von ihrem Ehemann angebrüllt. Geschlagen. Gewürgt. Es gelingt ihr, aus der Wohnung zu laufen und in die Wohnung ihres Sohnes zu flüchten. Dort fühlt sie sich sicher, ruft die Polizei an, berichtet von den Misshandlungen. Eine viertel Stunde später kommen Polizeibeamte und begleiten sie zurück in ihre Wohnung, in die sie sich alleine nicht mehr traut. Frau und Herr Schulz werden getrennt von den Polizisten zum Vorgefallenen befragt. Danach nehmen die Beamten Herrn Schulz die Wohnungsschlüssel ab und sprechen ihm ein Verbot aus, die Wohnung zu betreten. Zunächst für acht Tage. Ilse Schulz stellt eine Strafanzeige gegen ihren Mann und lässt sich die Verletzungen vom Amt attestieren.
Sonderdezernat für häusliche Gewalt
Eine Wegweisung nach dem Gewaltschutzgesetz: Das Opfer bleibt – der Täter geht. Dies regelt das Gesetz, dessen Umsetzung die Bundesländer individuell gestalten. Nach dem Berliner Aktionsplan 2002 bis 2006 soll das „Berliner Interventionszentrum gegen häusliche Gewalt“ (BIG) als Koordinierungsstelle für alle beteiligten Einrichtungen und Institutionen „die Hilfeangebote für die betroffenen Frauen und Kinder effektiver gestalten“. Nach den bisherigen Erfahrungen sieht eine BIG-Mitarbeiterin in der „verbesserten Kooperation zwischen Jugendamt, Beratungsstellen und der Polizei einen ganz entscheidenden Fortschritt“. Allerdings gebe es „noch strukturelle Schwachstellen, besonders im Ärztebereich“. Die Mitarbeiterinnen von BIG führen Fortbildungen für alle Interventionsbereiche durch und loben, dass die meisten Polizisten sich inzwischen deutlich sensibler am Tatort verhalten würden. Innerhalb der Amtsanwaltschaft werden häusliche Gewaltdelikte bei einem Sonderdezernat gebündelt. Eine Familienrichterin steht als Ansprechpartnerin stets zur Verfügung.
Die Anzahl der angezeigten physischen, sexuellen und psychischen Übergriffe steigt. Waren es 2002 noch 7552, so stieg diese Zahl auf 12.814 im Jahr 2004 polizeilich gemeldeter Fälle. „Dieser Anstieg zeigt, dass es durch Beratungs- und Hilfeangebote sowie Öffentlichkeitskampagnen zunehmend gelingt, das Dunkelfeld in diesem Bereich aufzuhellen“ – so deutet die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen die horrende Zahl der Anzeigen, die aus „allen Stadtteilen, Schichten und Kulturen“ kommen. Eine 2004 erschienene Bundesstudie kommt zu dem Schluss, dass 25 Prozent der befragten Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr zu Hause körperliche Gewalt erfahren haben.
Zurück in ihrer Wohnung geht es Frau Schulz schlecht. Am nächsten Tag sucht sie eine Frauenberatungsstelle auf, deren Anschrift sie von der BIG-Hotline bekommen hat. Die Beraterin „führte ein Gespräch mit mir, das zur Folge hatte, dass ich mich nicht mehr so schämte“.
Die Beteiligten leugnen die Realität
Gewalt zu erleben im eigenen Zuhause, in dem Schutz, Geborgenheit und Vertrauen gegeben sein sollten, führt neben körperlichen Verletzungen zu Scham, Verunsicherung und Krankheit. Die Wohnung wird zum bedrohten und bedrohlichen Lebensraum. Und: Alle Beteiligten tun lange viel dafür, die Gewalt zu leugnen, um den Anschein einer glücklichen Familie aufrecht zu erhalten.
Manche Frau fühlt sich vor dem gewalttätigen Ehemann oder Lebenspartner nur in einem der sechs Frauenhäuser oder einer der 40 Zufluchtswohnungen sicher. Denn selbst wenn die Polizei einen Platzverweis für die Kita, für die Schule der Kinder oder die Arbeitsstelle der Frau erteilt hat, ist nicht sicher gestellt, dass die Bedrohung ein Ende hat. Zwar müssen die Beamten bei einem Verstoß gegen einen verhängten Platzverweis von Gesetzes wegen ermitteln. Die angedrohte einjährige Freiheitsstrafe soll den Täter von einer Wiederholung abschrecken – die Frauen wirklich schützen kann dies nicht. Auch Belästigungen und Nachstellungen („Stalking„) wie penetrante Telefonanrufe, nervende SMS, tägliche E-Mails sind strafbar. Hier wurde ebenfalls der Rechtsweg für die Opfer verkürzt.
Vereinzelte Mütter flüchten sich mit ihren Kindern in den Kindernotdienst, ab und an auch Väter. Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren suchen in Zufluchtswohnungen des Mädchennotdienstes Schutz vor Schlägen von Vätern, älteren Brüdern und Müttern. Die gesellschaftliche Ächtung der Gewalt ist ein großes Anliegen des Gewaltschutzgesetzes. Mit großen Plakatkampagnen wird es in die Öffentlichkeit getragen: Kommissare der Reihe „Tatort“ raten zum Hinschauen.
Ilse Schulz erhielt bei der Beratung auch die Information, dass sie sich gerichtlich die Wohnung zuweisen lassen kann. Das Familiengericht sprach ihr die Wohnung zur alleinigen Nutzung für die nächsten vier Monate zu. Ihr gewalttätiger Mann ist solange der Wohnung verwiesen. Dem Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung wurde stattgegeben, wonach er sich ihr auch nicht anderswo nähern darf. Seinen Anteil Miete muss er dennoch weiterhin aufbringen.
Diese neue Regelung ist im Konfliktfall sehr wichtig, weil meist beide Partner gemeinsam den Mietvertrag abgeschlossen haben. In der Regel entlässt der Vermieter nicht einen Hauptmieter aus dem Mietvertrag. Die befristete Zuweisung des Gerichts muss er anerkennen. Wer Arbeitslosengeld bezieht, braucht für den Leistungsbezug nicht mehr die Angaben des Partners einzuholen.
In der Regel suchen sich viele Frauen aber doch eine neue Wohnung. „… zu viel erlebt in der alten Wohnung, als das es dort noch positiv werden kann“, meint Karin Wieners vom Frauenhaus. Falls die Frauen doch in der Wohnung bleiben wollen, schaffen Sozialamt oder Jobagentur oft unüberwindbare Hürden. „Die Ämter weigern sich, die Miete zu übernehmen, wenn die Wohnung nach den Richtlinien zu groß ist“, berichtet Rechtsanwältin Christina Clemm aus ihrer Praxis.
Nach „sanftem Druck“ in die Beratung
Ilse Schulz bekam bei dem nächsten Termin von der Familienrichterin die Wohnung für weitere sechs Monate zugewiesen, da ihr Mann „keine professionelle Hilfe aufgesucht hatte, um seine Aggressionen in den Griff zu bekommen“.
Der Berliner Aktionsplan regt an, dass gewalttätige Männer sich in eine Beratungsstelle gegen Gewalt begeben. „Die meisten kommen durch sanften Druck zu uns“, so der Psychologe Gerd Hafner von der „Mannsarde“, einer Beratungsstelle für Männer. Kommt eine Beratung zu Stande, geht es fast immer darum, dass „die Männer erst mal lernen, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen“.
Es gibt noch viel zu tun. Verschiedene psychologische und pädagogische Untersuchungen zur häuslichen Gewalt kommen zum gleichen Schluss: Wer mit Gewalt aufwächst, der gibt sie oft weiter an die nächste Generation.
Clara Luckmann
*Name geändert
MieterMagazin 6+7/05
Gewalt in der Familie: Über 12.000 Anzeigen meldete die Polizei im Jahr 2004
Fotos: Kerstin Zillmer
Platzverweis, Annäherungsverbot, Wohnungszuweisung: Trotz einiger polizeilicher Handhaben gibt es keinen wirklichen Schutz vor Übergriffen
Foto: Kerstin Zillmer
Ansprechpartner:
BIG-Hotline,
telefonische Beratung und Vermittlung an Beratungsstellen, Frauenhäuser, Tel. 6110300, täglich 9 bis 24 Uhr
Kindernotdienst,
Tel. 610061, täglich 24 Stunden
Mädchennotdienst Wildwasser,
Tel. 21003999, täglich 24 Stunden
Beratung für Männer – gegen Gewalt,
Tel. 7859825, Montag bis Freitag, 8 bis 20 Uhr
Polizei-Notruf,
Tel. 110, täglich 24 Stunden
Jugendämter in den Bezirken
09.05.2018