Mit seinem betont nüchternen Stil und der Lage an der westlichen Sektorengrenze geriet das Hansaviertel zu Zeiten des beginnenden Kalten Krieges in den 50ern zur propagandistischen Antwort auf die pompösen stalinistischen Bauten entlang der heutigen Frankfurter Allee. Harri Firchau lebte 35 Jahre lang in der „Stadt von morgen“, die im kriegszerstörten, von Wohnungsnot beherrschten Berlin Wahrzeichen einer kollektiven Hoffnung auf den Neubeginn wurde. Er erzählt von einer grünen Idylle im Herzen der Stadt, geprägt von bescheidenem Wohlstand und nachbarlichen Freundschaften.
In Ehren ergraut sind sie heute, die schlanken Betontürme und von Riesen-Kinderhand wie Bauklötzchen in die Landschaft gesetzten Quader, die aus jeder Steinpore den Hauch des alten West-Berlins atmen. Ein bisschen angeschmuddelt wirkt es heute, das Hansaviertel, nach fast 50-jähriger Lebenszeit, dieses Prunkstück in der Bauschatulle der Moderne, doch von Drogenstrich und verwahrlosten Parkanlagen, wie jüngst der „Tagesspiegel“ behauptete, findet sich dort noch längst keine Spur. Wandelt man entlang der verwinkelten Sträßchen durch weite Grünflächen von Türmchen zu Klötzchen, verblasst der Verkehrslärm entlang der Altonaer Straße, die auf den Großen Stern führt, schnell zum konstanten Hintergrundrauschen. Eine Kakophonie unterschiedlichster Vogelstimmen aus dem Tiergarten drängt sich mit Macht ins Bewusstsein und man möchte ganze Nachmittage verlesen im „Café Tiergarten“, in dem sich eine bunte Mischung aus frühstückenden jungen und Kaffee-und-Kuchen-essenden alten Leuten ein tägliches Stelldichein gibt.
Mitten im Tiergarten
Firchau hat zusammen mit seiner Frau Ellinor das Wachsen des Hansaviertels praktisch von Anfang an beobachtet. 1957 zog das Paar in eine Dreieinhalbzimmerwohnung im achten Stock der Händelallee 7 und blieb bis zum Jahr 1991, als der Vermieter Eigenbedarf anmeldete.
„Uns hat das Gropiushaus damals am besten gefallen, weil es ein bisschen geschwungen ist und wir wussten, dass der Blick nicht verbaubar war. Es gab einen kleinen Teich, da quakten morgens immer die Frösche und der Balkon war im Sommer wie ein fünftes Zimmer. Wir hatten einen herrlichen Blick, man konnte bis zum Brandenburger Tor gucken und über den Zoo fast bis zum Olympiastadion.“
Den Zuschlag für die Wohnung zu bekommen, empfanden die Eheleute als großen Glücksfall, denn sie hatten zwar etwas beengt auf zwei Zimmern in der ehemaligen Wohnung von Ellinors Vater in Reinickendorf gelebt und mit dem Gedanken gespielt, in naher Zukunft die Familienplanung anzugehen. Wohnungszuweisungen jenseits der Bezirksgrenzen waren zwar unüblich, dennoch lag am Heiligen Abend 1956 die Zusage für die Wohnung als besonderes Präsent unter dem Weihnachtsbaum.
Wie viele tausend andere Paare wahrscheinlich auch, waren sie gelegentlich über das Gelände der „Interbau“ geschlendert und hatten sich ausgemalt, wie es wäre, dort zu wohnen – mit der Zusage in der Tasche erhielten sie einen Sonderpassierschein und konnten sich auf dem Bau umsehen. Da beide gelernte Fotomeister waren, wurde jeder Bauabschnitt im Bild festgehalten und auch das Richtfest Anfang des Jahres 1957 dokumentiert. „Die bauten dann auch noch das ganze Frühjahr, einziehen konnten wir im Oktober 1957. Es war ein schönes Gefühl, das so wachsen zu sehen“, erinnert sich Firchau.
Nach dem Einzug ging es auch mit der Familienplanung voran, zwei Jahre später wurde Sohn Harald geboren – hinein in eine riesige Gemeinschaft junger Familien mit Kindern im selben Alter, die alle zur gleichen Zeit ins Viertel gezogen waren. Klar, dass man sich schnell über den Nachwuchs austauschte und erste Freundschaften entstanden. „Unser Nachbar hatte zwei Kinder, mit denen spielte unser Junge gelegentlich, und wenn man mal wegging, ins Theater oder so, dann hat man sich da gegenseitig abgewechselt mit dem Aufpassen. Im Hause unten waren auch sehr nette Leute.“ Die Kinder gingen alle zur selben Schule und besuchten sich gegenseitig – und letztlich wuchs alles miteinander: das Viertel, die frischgepflanzten Bäume vor den soeben fertiggestellten Wohnungen und letztlich auch die Kinder von der Krippe bis zum Abitur. „Das war schon in gewisser Weise unser Viertel. Man hat sich beim Einkaufen getroffen und in dem kleinen Restaurant im Pavillon direkt vor dem Haus. Manchmal wurde dort auch Skat gespielt. Und in der ‚Giraffe‘ hat so manche Familienfeier stattgefunden.“
Neben den kleinen Begebenheiten des Alltags waren die Firchaus durch die exponierte Lage des Hansaviertels immer auch ganz nah am Geschehen historisch bedeutsamer Ereignisse. So wurden sie am Sonntag, dem 13. August 1961 plötzlich um 6 Uhr in der Frühe wach, weil die gewohnten Straßen- und S-Bahngeräusche ausblieben. Das Telefon funktionierte auch nicht. Als sie das Radio einschalteten, erfuhren sie, dass das Brandenburger Tor abgesperrt worden war. Mit hunderten anderer West-Berliner zogen sie damals entlang der Strecke ihrer seit langem gewohnten familiären Sonntagsspaziergänge zur Sektorengrenze und mussten zusehen, wie die politische Grenze nach und nach ganz materiell Gestalt annahm.
Auszug nach 35 Jahren
Nach 35 Jahren Wohnzeit zog das Ehepaar Firchau Anfang der 90er, nachdem sie vom Wohnzimmerfenster aus auch noch den Fall der Mauer miterlebt hatten, mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus. Der Sohn war erwachsen und sollte sich eine eigene Wohnung nehmen und der Sohn des ursprünglichen Hauseigentümers, mit dem man sich immer gut verstanden hatte, wollte übereinander gelegene Wohnungen in den drei oberen Etagen des Hauses für seine eigenen Söhne einrichten. „Er bot uns natürlich eine Ersatzwohnung an, aber im Haus wollten wir nicht bleiben, das wäre ja dann wie eine Strafversetzung gewesen. Er war aber sehr großzügig und bot uns an, die Schlussrenovierung zu übernehmen.“ Also suchten sich die beiden auf eigene Faust eine etwas kleinere Wohnung – in Reinickendorf, dem Heimatbezirk ihrer Kindheit, direkt am Schäfersee, wo Harri Firchau sechs Jahre nach dem Tod seiner Frau auch heute noch lebt.
Elke Koepping
Die Interbau 1957
1953 war ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, um das neue Hansaviertel auf dem im Krieg vollständig zerstörten, eng bebauten südlichen Teil des alten Innenstadtviertels wieder aufzubauen. 53 Architekten aus aller Welt wurden eingeladen, um 45 Objekte zu entwerfen, von denen am Ende 36 völlig unterschiedliche Bauten unter dem Vorsitz von Otto Bartning verwirklicht wurden. Die beteiligten Architekten waren ausschließlich Vertreter der „modernistischen“, dem „Neuen Bauen“ verpflichteten Richtung, darunter Alvar Aalto, Walter Gropius, Oscar Niemeyer und Sep Ruf. Das zur Interbau (Internationale Bauausstellung Berlin) im Jahre 1957 entstandene neungeschossige Haus Händelallee 3-9, das so genannte „Gropiushaus“, wurde 1980 unter Denkmalschutz gestellt. Im März 2005 hat sich nun eine Strategiegruppe gegründet, um das Viertel zu seinem 50. Jahrestag im Jahr 2007 in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.
MieterMagazin 6+7/05
Harri Firchau, der heute 81 Jahre alt ist, sucht in der Zeitzeugenbörse den Austausch über gemeinsame Erinnerungen, zum Beispiel an die Vorkriegszeit. Es freut ihn, wenn er aus seinen privaten Erlebnissen heraus der Geschichtsschreibung durch Richtigstellung von Fakten unter die Arme greifen kann.
Harri Firchau, heute vor dem Gropiushaus
Foto: Elke Koepping
Harri Firchau, 1957 vor dem Gropiushaus
Foto: Harri Firchau
Frühstück auf dem Balkon 1958 mit Ehefrau Ellinor
Foto: Harri Firchau
Mit Sohn Harald auf einer Alliiertenparade in den 60er Jahren am Tiergartenrand
Foto: Harri Firchau
Blick vom Brandenburger Tor bis zum Olympiastadion: Richtfest 1957 im Gropiushaus
Foto: Harri Firchau
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21.12.2016