Während die Fußballfreunde der Welt vom 9. Juni bis zum 9. Juli ein Fußballfest der Superlative feiern wollen, werden die Berliner – ob Fans oder nicht – in ihrem Alltag allerhand Einschränkungen hinnehmen müssen. Straßen und Parks werden wochenlang abgesperrt, an allen Ecken gibt es Fanfeste, die bis in die Nacht lärmen dürfen. Hunderttausende Touristen werden Berlin bevölkern – ob es 700.000 oder über drei Millionen sein werden, weiß niemand genau. Ob sich darunter auch gewaltbereite Hooligans mischen, die sich die Stadt als Schlachtfeld auserkoren haben, ist kaum vorhersehbar. Die Berliner haben sich auf in mehrfacher Hinsicht spannende vier Wochen einzustellen.
Im Berliner Olympiastadion finden lediglich sechs WM-Spiele statt: vier Gruppenspiele, ein Viertelfinalspiel und das Endspiel. Den Andrang der jeweils rund 66.000 Stadionbesucher würde Berlin logistisch mit links meistern. Was die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzt, sind die vielen Open-Air-Veranstaltungen, in denen die Spiele auf Großbildleinwänden übertragen werden. Neben dem offiziellen Fanfest auf der Straße des 17. Juni gibt es mehrere Großveranstaltungen, bei denen Eintritt verlangt und der Zugang kontrolliert wird wie bei „PopKick 06“ im Treptower Park oder bei der „Adidas World of Football“ vor dem Reichstagsgebäude. Daneben gibt es eine kaum zu überblickende Vielzahl von kleineren Angeboten, die Spiele zu verfolgen. In vielen Baulücken werden Zelte aufgestellt, in denen die Spiele gezeigt und Getränke verkauft werden, und fast jede Kneipe projiziert die Fußballübertragungen auf eine Leinwand oder stellt wenigstens einen großen Fernseher in die Ecke.
Jubel und Trubel bis Mitternacht
Für die Zeit der WM hob die Bundesregierung den Lärmschutz im Bundesimmissionsschutzgesetz weitgehend auf. Nicht nur in direkter Umgebung der Spielstätte, sondern auch bei Großleinwandübertragungen ist die gesetzliche Nachtruhe nach 22 Uhr gestrichen. Weil viele Spiele erst um 21 Uhr beginnen, hätte auf eine Open-Air-Übertragung der zweiten Halbzeit verzichtet werden müssen. Nun darf aber bis tief in die Nacht gejubelt und gebrüllt werden. „Ich finde es gut, dass wir mit öffentlichen TV-Übertragungen ein bisschen Stadionatmosphäre und Fußballbegeisterung in unsere Städte holen können“, erklärte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD). „Wir wären auch schlechte Gastgeber, wenn wir den Fußballfreunden aus aller Welt nicht die Möglichkeit gäben, dieses einmalige Fußballfest unter freiem Himmel zu feiern.“ Wer in der Nähe eines dieser „Public-Viewing“-Bereiche wohnt und am Morgen früh raus muss oder sich einfach nicht für Fußball interessiert, hat einfach Pech gehabt – da helfen nur Ohrenstopfen und geschlossene Fenster. Bis Mitte März waren in Berlin 22 Fanfeste angemeldet.
Das größte ist die Fanmeile auf der Straße des 17. Juni. Zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule wird die Straße gesperrt und der halbe Tiergarten umzäunt. Gleich nach dem viereinhalbwöchigen Fußballfest zieht in diesem Jahr auch wieder die Loveparade durch den Tiergarten – großen Schaden wird sie dann wohl nicht mehr verursachen. Direkt vor dem Reichstagsgebäude baut die Sportartikelfirma Adidas das Olympiastadion verkleinert nach. Für die „World of Football“ wurde der sonst so heilige Rasen asphaltiert und 52 Bäume wurden gefällt. In der 17 Meter hohen Stahlrohrkonstruktion sollen bis zu 9000 Menschen die Spiele auf Großbildleinwand verfolgen. Nach der WM soll alles wieder verschwinden und so aussehen wie vorher. Wie schon bei früheren Welt- und Europameisterschaften wird auch im Sony-Center am Potsdamer Platz, in der Waldbühne und an anderen Veranstaltungsorten das Gekicke übertragen.
Wohngebiete bleiben davon nicht verschont. Anwohner des Treptower Parks wehren sich gegen die zweitgrößte Berliner „Public-Viewing“-Veranstaltung. Unter dem Titel „PopKick 06“ sollen an jedem Spieltag nicht nur die Fußballpartien übertragen werden, es finden davor auch Konzerte mit Musikern aus den jeweiligen Nationen statt. Direkt nach dem Abpfiff soll die Veranstaltung zwar geschlossen werden, das kann sich mit Verlängerung und Elfmeterschießen aber locker bis 24 Uhr hinziehen. Der Soundcheck für die Konzerte kann dabei schon morgens um halb zehn beginnen. Einschließlich Auf- und Abbau wird die vordere Hälfte des Parks sechs Wochen lang abgesperrt. „Ich fühle meine persönliche Freiheit arg eingeschränkt“, sagte ein Anwohner auf einem turbulenten Informationsabend, zu dem der Veranstalter, die Arena, eingeladen hatte. „Hooliganismus, Euphorie und Alkohol ergeben eine Problematik, die nicht einzuschätzen ist“, ergänzt eine Nachbarin. Vor allem, was im Umfeld der Veranstaltung passiere, sei kaum zu kontrollieren. „Das Veranstaltungskonzept ist nicht schlecht“, fügte ein anderer Anwohner hinzu, „nur der Ort ist falsch.“
Die Lärmbelästigungen muss man als Mieter allerdings nicht tatenlos hinnehmen. Wenn es zu laut wird, kann man dem Vermieter dies als Mangel anzeigen und die Miete mindern. Man sollte dazu genau dokumentieren, wann welcher Lärm aufgetreten ist und möglichst Zeugen haben, die die Wohnwertbeeinträchtigung bestätigen (siehe BMV-Infoblatt Nr. 79). Die Höhe der Mietminderung bemisst sich in jedem Einzelfall nach dem Grad der Beeinträchtigung.
Von der Aufweichung des Lärmschutzes nicht erfasst sind Biergärten oder Außenterrassen von Gaststätten. Sie müssen – theoretisch – weiterhin um 22 Uhr schließen. Wie wenig sich viele Gastwirte in der Praxis um die Lärmschutzverordnung und um das Ruhebedürfnis der Anwohner scheren, kann Sommer für Sommer in den einschlägigen Kneipenmeilen beobachtet werden. Vor Mitternacht ist da selten Schluss. Das wird bei der Fußball-WM nicht anders sein. Offenbar möchte niemand mehr zu Hause vor dem Fernseher Fußball gucken.
Die Hooligans mobilisieren
Aber nicht nur die Berliner hält es nicht auf dem Sofa, auch auswärtige Gäste werden in Scharen erwartet. Man glaubt, dass viele Fußballfans aus dem Ausland nach Deutschland kommen, um dem Geschehen möglichst nahe zu sein, auch wenn sie keine Eintrittskarten für die Spiele haben. Bundesweit wird mit drei Millionen WM-Touristen und fünf Millionen WM-bedingten Übernachtungen gerechnet. Die Berliner Tourismus-Marketing-Gesellschaft geht davon aus, dass durch die WM 700.000 Touristen mehr in die Stadt kommen, die den Berliner Hotels 400.000 zusätzliche Übernachtungen bescheren.
Innensenator Ehrhart Körting hat allerdings ganz andere Zahlen: Er rechnet damit, dass zur WM sogar 3,85 Millionen Gäste zusätzlich in die Hauptstadt kommen, davon eine Million aus dem Ausland. Nicht nur friedliche Fans werden anreisen, auch die Hooliganszene mobilisiert für die WM. Besondere Sorgen machen den Berliner Sicherheitskräften die kroatischen und polnischen Hooligans. Zum Spiel Kroatien – Brasilien im Olympiastadion werden 1000 bis 1500 Krawalltouristen erwartet.
Jens Sethmann
MieterMagazin 6/06
Bäume gefällt, Rasen asphaltiert:
Vor dem Reichstag steht ein umstrittener Nachbau des Olympiastadions
alle Fotos: Rolf Schulten
Kick auf Schritt und Tritt: Die Stadt ist vollgestellt mit Fußball-
Symbolik
Zum Thema Mietminderung sind beim Berliner Mieterverein die Infoblätter
Nr. 12 „Wohnungsmängel – Wann darf die Miete gemindert werden?“
und Nr. 79 „Mietminderung gemäß § 536 BGB“ erhältlich.
Kaiser Franz und König Fußball regieren
Zur Fußballweltmeisterschaft herrscht in Deutschland und Berlin eine Art Ausnahmezustand. Die Bundeswehr soll im Inneren eingesetzt werden, NATO-Flugzeuge überwachen den Luftraum, und die Würstchenverkäufer in den Stadien müssen sich einer Verfassungsschutzüberprüfung unterziehen. Wer eine Eintrittskarte ergattern wollte, musste dem Fußball-Weltverband FIFA umfangreiche Angaben zur Person machen, im Stadion selbst wird alles per Video überwacht. Auch der Berliner Senat zieht mit: Weite Teile der Stadt werden wochenlang für Großbildleinwand-Veranstaltungen abgesperrt. Die „Public Viewing“-Bereiche werden ebenfalls per Video überwacht. Der Senat gab die Ladenschlusszeiten weitgehend frei und die Bundesregierung setzte die Lärmschutzverordnung aus. All diese Einschränkungen der Bürgerrechte könnte sich unter normalen Umständen kein Politiker erlauben, ohne sich großer Proteste sicher zu sein. Doch im Vorfeld der WM regte sich gegen das Regiment von König Fußball erstaunlich wenig Widerstand. Als Bedenkenträger wird man schließlich vom Kaiser persönlich als Spielverderber, Spaßbremse oder als Feind der sportlichen Völkerverständigung abgekanzelt.
js
11.06.2018