Die meiste Zeit des Jahres verbringen die Schweden in ihren vier Wänden – rein klimatisch eine logische Erscheinung. Die Wohnung als Mittelpunkt sozialen Lebens hat allerdings eine Schattenseite – sie ist seit Jahren Mangelware in dem skandinavischen Land. Die Folge: endlose Wartelisten und absurde Wohnformen. Eine Expertenkommission der Regierung prüft nun das schwedische Mietsystem. Der Trend ist schon jetzt absehbar – weg von den gekappten Mieten hin zum Markt.
„Eine Mischung aus Entsetzen und Bewunderung“, so beschreibt Eva Ström die Reaktion der Leute, denen sie ihre Wohnsituation schildert: eine vierköpfige Familie auf 19 Quadratmetern – für viele unvorstellbar, in Stockholm aber keine Seltenheit. Als die Freiberuflerin vor 20 Jahren aus Nordschweden in die 1,6-Millionenstadt zwischen Ostsee und Mälarsee kam, fand sie eine Wohnung mit Zimmer, Küche und Bad am Mariatorget in Södermalm – perfekt für die damalige Kunststudentin. Die Immobilienpreise im trendigen Stadtviertel sind seitdem allerdings unaufhaltsam im Wert gestiegen. Nur Eva Ströms Miete ist gleich geblieben: 3000 Kronen, etwa 330 Euro, inklusive Betriebskosten – für die Gegend ein Traumpreis. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen Galerien, Boutiquen, Second-Hand-Läden und Cafés, darunter das berühmte Café „Rival“ von Abba-Legende Benny Andersson. Heute ist Eva Ström verheiratet und hat zwei Kinder. Nun wohnen sie zu viert in der kleinen Studentenbude. „Es ist zwar eng, aber gemütlich“, sagt die Fotografin beinahe entschuldigend. Für eine Eigentumswohnung reiche der Verdienst einfach nicht aus. Passable größere Wohnungen zur Miete gibt es erst nach zehn Jahren Wartezeit auf der kommunalen Liste. Oder in Randbezirken wie Kista und Tensta: Dort herrschen Betonburgen vor mit vielen Einwanderern, starkem sozialen Gefälle und schlechtem Ruf – allerdings oft zum gleichen Preis wie in Södermalm.
Zehn Jahre auf der Liste
Neubauten sind nahezu unerschwinglich: 15.000 Kronen Miete, umgerechnet 1600 Euro, sind für eine Dreizimmerwohnung in der Stockholmer City die Regel, Gleiches gilt für nahe Vororte. Da heißt es Prioritäten setzen. In Eva Ströms Fall bedeutet Innenstadt Lebensqualität. Die kann sich die Familie dank der billigen Miete im „Allmännyttan“ leisten.
Das schwedische Mietmodell „Allmännyttan“ bedeutet so viel wie „Alle sollen Nutzen haben“. Ein Modell mit sozialem Charakter also, das ein Recht auf Wohnraum garantiert – vor allem vor dem willkürlichen Zugriff des Vermieters. Das bislang bewährte Modell funktioniert so: Die Kommune lässt staatliche Firmen Wohnungen bauen und vermietet diese dann unbefristet an Wohnungssuchende auf der Warteliste. Die Miete wird mit „Hyresgästföreningen“, dem Schwedische Mieterbund, festgelegt. Grundlage für die Miethöheist das sogenannte „user value system“, eine Art Mietspiegel, den Mieter- und Vermieterseite individuell aushandeln. Dabei existiert eine gesetzlich geregelte Maximalmiete, das sogenannte „Hyrestak“ („Miet-Dach“). Diese will die bürgerliche Regierung nun sukzessive aufweichen. Ziel ist es, Bewegung in den privaten Wohnungsmarkt zu bringen, um die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen.
Staatliche Tendenz zum Eigentum
Ruckartige Mieterhöhungen seien nicht vorgesehen, beschwichtigt Bauminister Mats Odell – maximal fünf Prozent pro Jahr in einem Zeitraum von zehn Jahren. Pikantes Detail: Odell wohnt seit Kurzem in einem Luxusappartment in Södermalm – zur Miete. Dass sein Name nicht auf Stockholms Warteliste stand, empfinden viele Stockholmer Mieter als Hohn. 230.000 Personen haben derzeit ihr Interesse an einer Mietwohnung angemeldet. Aber nur rund 1000 neue Mietwohnungen wurden im letzten Jahr gebaut. Daneben werden jährlich mehr als 2000 Mietwohnungen in Wohneigentum, sogenannte „Bostadsrätter“, umgewandelt. Wenn dieser Trend anhält, werde der Anteil an Mietwohnungen in Zukunft rapide sinken, befürchten viele Mieter. Bauminister Mats Odell argumentiert, das „Allmännyttan“ sei auf Dauer nur dann zu retten, wenn man die Mieten der steigenden Nachfrage anpasse. Terje Gunnarson vom Stockholmer Mieterverein widerspricht: „Es wird lediglich dazu führen, dass eine wohlhabende Minderheit dort wohnen kann, wo sie will. Der Rest der Bevölkerung bleibt außen vor.“
Stockholms konservative Bausenatorin Kristina Alvendal zeigt sich verwundert über diese Einwände. „Wir wollen absolut nicht, dass das Allmännyttan verschwindet. Die Kommune Stockholm will das Nebeneinander von Miete und Eigentum mehr fördern.“ Die Realität sehe anders aus, wehrt Peder Palmstierna von der Hyresgästföreningen ab. Den Kredit für ein „Bostadsrätt“ könne man mit 30 Prozent von der Steuer absetzen. Die Miete nicht. Zudem fallen staatliche Zuschüsse für Mietneubauten seit 2007 weg – was Institutionen in diesem Sektor nicht eben anregt. „Das Wohnen zur Miete soll unattraktiv gemacht werden“, ärgert sich Palmstierna.
Die Offensive der Regierung hat etliche Bürgerinitiativen auf den Plan gerufen. So wie „Nej till ombildning“ („Nein zur Umwandlung“). An der Spitze des Protestnetzwerkes steht Camilla Salomonsson. Dass sich die Mittdreißigerin neben ihrem Beruf als staatliche Entwicklungshelferin auch privat für Wohlfahrtsfragen engagiert, ist für sie selbstverständlich. „Wohnrecht ist Menschenrecht“, findet sie. „Nicht jeder will seine Mietwohnung kaufen. Und erst recht nicht jeder kann es.“ Weder die somalische Flüchtlingsfamilie im Stockholmer Vorort Rinkeby noch die schwedische Rentnerin in Weststockholm, die mit Mühe das Geld für ein Monatsticket der öffentlichen Verkehrsbetriebe zusammenbekommt. Doch was für die einen bewährte Wohnform ohne Alternative ist, sehen andere kritisch als ein verstaubtes Modell ohne Zukunft. So wie Hans Lind, Wirtschaftsprofessor an Stockholms renommierter Königlich-Technischen Hochschule. Als Experte für Wohnungsfragen berät er die Kommission, die das „Allmännyttan“ und seine regulierende Funktion auf den Prüfstand stellen soll. „Das große Problem beim Allmännyttan ist Stockholms Innenstadt“, erklärt der Professor nachdrücklich. Die Wohnungen dort seien aufgrund der Rechtslage häufig wesentlich preiswerter als Wohnungen im randstädtischen Neubau. Man könne das Problem auch nicht einfach „wegbauen“. Die Lösung? Wohngemeinschaften, höhere Mieten und Privatvermietungen. Angst vor Segregationstendenzen lässt er nicht gelten: „Wir haben schon längst eine Zwei-Klassen-Gesellschaft“, meint Lind. Nur höre das in der schwedischen „Wohlfahrtsgesellschaft“ niemand besonders gern.
Peder Palmstierna vom Mieterverband gibt sich indessen siegessicher: „Wir haben die Zeit auf unserer Seite.“ Wie viele aufgebrachte Mieter setzt er auf die kommenden Wahlen. Man werde den Regierungsplänen mit dem Wahlvotum eine deutliche Absage erteilen.
Eva Ström liegt inzwischen ein Angebot vor, ihre Södermalmer Mietwohnung als Eigentumswohnung zu kaufen. Sie wird es annehmen.
Katharina Schmidt-Hirschfelder
Schweden in Zahlen
Fläche: 450.295 Quadratkilometer (zum Vergleich: Deutschland hat 357.144 Quadratkilometer)
Einwohner: rund 9 Millionen
Einwohner Stockholm: 1,6 Millionen
Pro-Kopf-Einkommen brutto: 2500 Euro
Durchschnittsmiete pro Quadratmeter in Stockholm: je nach Wohnlage und Art des Baus (Alt- oder Neubau) zwischen 8 und 15 Euro Durchschnittspreis für Eigentum pro Quadratmeter: zwischen 2000 und 5000 Euro
Quote Mietwohnungen 1970: 90 Prozent
Quote Mietwohnungen 2008: 43 Prozent
ksh
MieterMagazin 6/08
Mit der staatlichen Fürsorge geht es auch im Musterland Schweden bergab (hier: Gamla Stan, die Stockholmer Altstadt)
alle Fotos: Katharina Schmidt-Hirschfelder
Die Immobilienpreise im trendigen Stadtviertel Södermalm steigen, die Mieten nicht – damit will Stockholms Regierung jetzt Schluss machen
Pro Privatisierung: Wirtschaftsexperte Lind
Contra Privatisierung: Bürgerinitiativlerin Salomonsson
Die Miete in Stockholms Randbezirken ist häufig teurer als im Zentrum: Vorort Kista
11.07.2013