Sobald ein wenig Stuck die Außenfassaden, Treppenhäuser und Wohnungen ziert, wird in den Wohnungsanzeigen das schmückende Beiwerk deutlich hervorgehoben, um das Objekt an Mann oder Frau zu bringen. Die Stuckausstattung verheißt dem Mieter gediegene Wohnatmosphäre, liebevolle Sanierung und ein allgemeines Wohlfühlambiente. Die Renaissance des Stucks in den letzten 30 Jahren ist die Folge einer gewandelten Wertschätzung: Inzwischen wird er ganz unvoreingenommen als schönes Dekor, als Garant handwerklicher Detailkunst und nicht zuletzt als Zeugnis einer historischen Authentizität wahrgenommen.
„Stuckoase“, „traumhafter Stuckaltbau“, „Vollstuck“, „für Stuckliebhaber“ – die Makler kommen ins poetische Schwärmen, wenn sie blumig ihre Gründerzeitaltbauten beschreiben. Noch im letzten Jahrhundert wurde der Stuck dagegen aus verschiedenen Gründen als überflüssiges und verfälschendes Beiwerk gebrandmarkt. Im Zuge der Moderne galt eine Mietshausfassade des 19. Jahrhunderts, die mit Gesimsen, Putten, Friesen und Konsolen verziert und gegliedert war und sich somit an herrschaftlichen Gebäuden orientierte, als „unehrlich“. Man warf der Architektur unter anderem vor, sie täusche mit solch einer prunkvollen Fassade über die wahren sozialen Verhältnisse hinweg. In den Wohnungen dahinter lebten schließlich keine begüterten Herrschaften, sondern zum großen Teil einfache Leute auf niedrigem Einkommensniveau. Man forderte, dass die gesellschaftliche Realität sich ehrlicherweise und vor allem auch selbstbewusst nach außen im Straßenbild widerspiegeln sollte, wofür eine eigene Formensprache zu entwickeln sei.
Vorwurf: Der Stuck trügt
Schon 1908 hatte der Wiener Architekt Adolf Loos mit seiner Streitschrift, die den vielsagenden Titel „Ornament und Verbrechen“ trug, den Weg für ein schmuckloses Äußeres und Inneres der Häuser bereitet. Vehement trat er für eine ornamentlose Fassade ein. In diesem Pamphlet, das mittlerweile als eines der Gründungsdokumente der Moderne gilt, heißt es unter anderem, dass man Schmuckformen jeder Art unbedingt verbieten müsse. Leute, die sich selbst, ihre Kleider, ihre Wohnungen oder ihre Häuser und Vorgärten schmückten, seien „Verbrecher“, „Degenerierte“ beziehungsweise „Hanswurste“. Loos argumentierte, dass Funktionalität und Abwesenheit von Ornamenten im Sinne menschlicher Kraftersparnis ein Zeichen hoher Kulturentwicklung seien. Es würden noch ganze Volkswirtschaften zugrunde gehen, wenn die Welt nicht bald damit aufhöre, ihre ganze Kraft an Nippes und Tinnef zu verschwenden.
Konsequenterweise stattete Loos 1910 sein erstes größeres Bauwerk mit einer radikal ornamentlosen Fassade aus – für die damalige Zeit schlichtweg ein Unding -, obwohl er im Inneren edelste Baumaterialien verwendete. Das sogenannte Looshaus steht in Wien am Michaelerplatz gegenüber der Hofburg und wurde aufgrund seiner fehlenden Fenstergesimse auch „Haus ohne Augenbraue“ genannt. Die ungewohnte Architektur führte erwartungsgemäß zu heftigen Auseinandersetzungen unter den Zeitgenossen. Angeblich weigerte sich Kaiser Franz Joseph den Rest seines Lebens, einen Blick von der Hofburg zum Michaelerplatz zu werfen.
Die ideologische Verurteilung des Stucks hatte zur Folge, dass er als nicht unbedingt erhaltenswertes Gestaltungselement eingeschätzt und seine Rekonstruktion vernachlässigt wurde. Waren die typischen Berliner Altbauten im Laufe der Zeit heruntergekommen beziehungsweise durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen, wurde der Fassadenstuck der Einfachheit halber und um Kosten zu sparen umstandslos abgeschlagen.
Wenig bekannt ist, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg, also 20 bis 30 Jahre nach seiner Herstellung, der ursprüngliche Gründerzeitstuck oft ziemlich mitgenommen aussah. Fassadenschmuck wurde in Deutschland – im Gegensatz zu Frankreich oder Italien – vorrangig aus Mörtel und später aus Gips auf Drahtgeflecht gefertigt. Das lag zum einen an mangelnden Natursteinvorkommen und zum anderen an den Kosten. Aus Musterkatalogen konnten die Bauherren die vorgefertigten gängigen Stuckformen bestellen und anschließend mehr oder weniger nach „Schema F“ an die Fassaden der ziemlich gleichförmigen Gebäude kleben.
Viele Bauherren setzten mit ihrer überbordenden ornamentalen Ausstattung zudem mehr auf Schein als auf Sein, um an weiteres Geld zu kommen. So weist der Berliner Architekt Theodor Goecke 1896 auf einen ganz profanen Hintergrund für die Dekorsucht der Bauherren hin: „Die überreiche Gestaltung der Schauseiten, der Treppenhäuser und Zimmerdecken entspringt oft nur dem Triebe, eine möglichst hohe Einschätzung zur Feuerkasse und damit die Hinaufschiebung der Beleihungsgrenze zu erzielen.“
Schon die erste Entstuckungswelle, die bereits in den 20er Jahren einsetzte und in der Nazi-Zeit noch einmal einen Höhepunkt erreichte, zielte sowohl auf die Beseitigung dieses „überflüssigen Tands“ wie auch der Gefahren für die Passanten ab. Auch die in den 60er Jahren für das Abschlagen des Stucks ausgelobten Prämien waren dazu gedacht, den Hausbesitzern finanziell unter die Arme zu greifen, um die Gefahren zu beseitigen, die von herabfallenden Fassadenteilen ausgingen.
Vom Naturstein zum Plastikstuck
Heute stehen genügend technische Möglichkeiten und finanzielle Mittel zur Verfügung, auch alten und schlecht gearbeiteten Fassadenschmuck dauerhaft zu konservieren. Außerdem gibt es zahlreiche Spezialanbieter, die inzwischen witterungsbeständigen, preiswerten Kunststoffstuck auf Lager haben. So mancher Hausbesitzer hat in den letzten Jahren seinen bislang kahlen Altbau mit neuem Plastikstuck aufgewertet. Wo früher grauer Kratzputz düsteren Nachkriegs-Charme verströmte, signalisiert heute ein zartes Rosa mit weißen Gesimsen, dass man wieder „was auf sich hält“.
Auch in den Innenräumen wurde im 21. Jahrhundert manch alte Stuckrosette in mühseliger Kleinarbeit von unzähligen Farbschichten freigekratzt – die Mieter haben es bei der Auszugsrenovierung meistens eilig gehabt -, so dass man die ursprüngliche detailreiche Ausarbeitung der Ornamente wieder erkennen kann. Und wo kein Originalstuck mehr vorhanden ist, behilft man sich mit einer Polystyrol-Rosette aus dem Baumarkt, die so federleicht ist, dass man sie problemlos an die Decke kleben kann. Mancher Zierrat und Tinnef lässt sich nicht unterkriegen, sondern erscheint einfach in einem modernen Material wieder auf der Bildfläche.
Jens Sethmann
MieterMagazin 6/09
Stuck gilt wieder als chic – doch die Geschichte sparte auch nicht mit Kritik andem Zierrat
alle Fotos: Sabine Münch
Früher achtlos überstrichen, werden Stuck-Artefakte heute wieder in mühevoller Kleinarbeit von Bewohnern freigelegt
Im Heimatmuseum Pankow, Heynstraße 8, lässt sich die originalgetreu wiederhergestellte Stuckdecke einer bürgerlichen Wohnung besichtigen.
Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag, Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Mittwoch von10 bis 16 Uhr, Eintritt frei.
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Bröckelnde Neubauten anno 1868
Das Problem des zerbröselnden Stucks beschrieb der Kunstkritiker Max Schasler schon 1868: „Niemandem, der einen prüfenden Blick auf den Zustand der Gebäude, welche beispielsweise in Berlin, in den letzten vier bis fünf Jahren, ja zum Theil erst seit zwei Jahren errichtet sind, wirft, kann das deplorable, ruinenhafte Aussehen der meisten dieser modernen ‚Paläste’ entgehen. Die Ursachen bestehen theils darin, dass die Friese, Balconverkleidungen, Kranzleisten, Säulenkapitäle, ja ganze Säulen aus Nichts als angeklebtem Gyps bestehen, welcher, mit Ölfarbe angestrichen, einige Zeit – zuweilen kaum einen Winter – vorhält, dann aber, da er leicht Feuchtigkeit anzieht und mürbe wird, stückweise abfällt.“
07.06.2013