Rund 20.000 Sehbehinderte und 6000 Blinde leben in Berlin. Wie kommen sie mit dieser Einschränkung in Haus und Wohnung zurecht? Welche Möglichkeiten und Hilfsmittel gibt es, die die Orientierung im heimischen Alltag erleichtern?
„Ich hab mich abends ins Bett gelegt und als ich morgens aufgestanden bin, konnte ich nichts mehr sehen“, so Frau Lückermann*. Sie ist 86 und leidet unter der weitverbreiteten, altersbedingt auftretenden Makula-Degeneration, die zwar zunächst langsam voranschreitet, von vielen Betroffenen jedoch am Ende als plötzlicher Sehverlust empfunden wird. Auf dem einen Auge ist sie ganz erblindet, das andere kann noch Hell-Dunkel-Kontraste erkennen. Sie und ihr Mann haben früher in Hohenschönhausen in einer Mietwohnung gelebt. „Solange mein Mann mithelfen konnte, ging es, aber nachdem er einen Herzinfarkt hatte, war es vorbei mit dem selbstständigen Leben“, erzählt sie. Sie entschieden sich 2009 für den Umzug in die Blindenwohnstätte Weißensee, die eine breite Palette von Pflegeangeboten für hochbetagte Blinde und Sehbehinderte bereithält.
Wenn das Wetter es erlaubt, sitzt das Ehepaar Lückermann draußen auf der Terrasse. Der Verkehrslärm von der Berliner Allee stört sie nicht, im Gegenteil. Hartmut Weber, der Leiter der Blindenwohnstätte, erzählt, dass viele Bewohner gerade die Lage ihres Zimmers zur Straße hin besonders schätzen: „Da kommt ein bisschen Leben herein.“
Ein fester Platz für alle Dinge
Die überwiegende Mehrzahl vor allem jüngerer Blinder und Sehbehinderter kommt im Alltag gut zurecht. „In den heimischen vier Wänden spielt natürlich die Gewohnheit eine große Rolle: Wenn alle Dinge ihren Platz haben, kann sich jeder gut orientieren“, erklärt Peter Woltersdorf. Er ist Architekt und Sachverständiger für barrierefreie Stadt- und Gebäudeplanung beim „Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin“ (ABSV). Er berät bei Bauvorhaben im öffentlichen Bereich, hilft aber auch bei Fragen rund um die Wohnungseinrichtung. „Man muss im Grunde erst einmal lernen, die Kleinigkeiten des Alltags zu bewältigen, bevor man sich damit beschäftigt, die Einrichtung zu verbessern“, sagt er. Alltagshürden liegen im Grunde schon darin, sich eine Tasse Kaffee einzuschenken oder beim Waschen die Weiß- von der Buntwäsche zu unterscheiden. Der ABSV bietet entsprechende Mobilitätsschulungen, die Blinden und Sehbehinderten helfen, sich im Haushalt zurechtzufinden.
„Blinde behelfen sich mit kleinen Tricks: Sie markieren ihre CD-Sammlung oder Gewürzdosen in der Küche mit Braille-Schrift“, erzählt Paloma Rändel, die die Öffentlichkeitsarbeit des ABSV betreut. Spezielle Klebenoppen helfen, die Stellung der Ein- und Austaster von Küchengeräten zu markieren, die Hitzezufuhr am Herd, Gradzahlen an der Heizung oder auch Waschgänge an der Waschmaschine. Es gibt sprechende Uhren und Küchenwaagen sowie Farbmessgeräte für die Kleidung, um die Zusammenstellung der Garderobe zu prüfen.
Christine Krause ist Sozialarbeiterin beim ABSV und berät Menschen, bei denen sich eine Sehbehinderung stark verschlechtert hat oder neu eingetreten ist. Sie selbst hat auf dem rechten Auge noch ein Sehvermögen von unter 2 Prozent, links sieht sie nichts mehr. Krause sagt, die größte Tücke sei für sie die Ordnung innerhalb der Wohnung gewesen: „Als sehender Mensch hat man ein anderes Ordnungssystem, da musste ich mich völlig umstellen – Dinge haben jetzt ihren festen Platz in meiner Wohnung.“ Dazu zählt zum Beispiel die Anordnung der Möbel im Raum: Eine streng symmetrische Ausrichtung mit viel Platz zwischen den einzelnen Stücken erlaubt eine gute Orientierung. Beim Neukauf achte sie auf abgerundete Ecken, um blaue Flecken zu vermeiden.
Gefahrenquellen stellen auch in den Raum ragende Heizungsventile dar oder Schranktüren in der Küche. „Für Küchenoberschränke gibt es Klapptüren, die nach oben aufgehen oder Rolltüren“, erklärt Peter Woltersdorf und weist auch darauf hin, dass Ceran-Kochfelder in einem Sehbehindertenhaushalt nichts zu suchen haben: „Man kann einfach nicht unterscheiden, wo die heiße Fläche beginnt“. Eine leicht herzustellende bauliche Veränderung ist das Anbringen von Lichtschaltern, deren Stellung gut erfühlbar ist und die sich kontrastreich von der Wand abheben. „Kontraste und Beleuchtung sind ohnehin ein wichtiges Thema für Sehbehinderte, soweit noch ein kleines Restsehvermögen vorhanden ist“, sagt er. Wichtig ist eine blendfreie Beleuchtung. Gut geeignet sind Wandleuchten, die indirektes Licht nach oben abgeben. „Die Decke muss hell sein, damit das Licht nach unten reflektiert wird.“ Lichtinseln können auch Orientierungspunkte innerhalb der Wohnung bilden, zum Beispiel im Bereich des Esstisches. Ausgeprägte architektonische Raffinessen wie Säulen oder frei stehende Holzbalkenkonstruktionen sollten verkleidet oder kontrastreich markiert werden. Für Blinde kann eine Veränderung der Bodenstruktur im Bereich der Säule, etwa durch PVC-Noppenbelag, die Gefahrenquelle taktil anzeigen. Gleiches gilt im Übrigen für den Treppenhausbereich.
Im Einzelfall kann man versuchen, dem Vermieter kleine bauliche Veränderungen schmackhaft zu machen: die Nachrüstung des Aufzuges mit Sprachelementen, die Anbringung von zusätzlichen Handläufen im Wandbereich der Treppen oder die Markierung von Treppenstufen. Oft sind es auch leicht auszuführende Kleinigkeiten, die eine große Hilfe bedeuten: die Ausstattung des Hauses mit tastbaren Etagenkennzeichnungen, das Anbringen sehbehindertengerechter Notausgangsschilder oder von Informationen der Hausverwaltung in gut lesbarer Schriftgröße. Leben viele ältere Menschen in einer Wohnanlage, hat der Vermieter eventuell ein eigenes Interesse an solchen Nachrüstungen, um seine Mieter zu halten oder mit einem barrierefreien Umfeld werben zu können. Ein Umzug in eine Pflegeeinrichtung ist nämlich für die meisten Betroffenen immer erst das letzte Mittel der Wahl.
Elke Koepping
* Name von der Redaktion geändert
Rat & Tat
Der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV) bietet Erstberatungen für Betroffene und Angehörige auch ohne Vereinsmitgliedschaft an, betreibt einen Hilfsmittel-Laden, führt Mobilitäts- und Orientierungsschulungen und Schulungen in Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) durch, hilft bei der Antragstellung des Landesblindengeldes bei den Bezirksämtern, bei Anträgen für den Schwerbehindertenausweis, Pflegeversicherung, Wohngeld und Kostenübernahme für Hilfsmittel.
ABSV, Auerbacher Straße 7, 14193 Berlin
Tel. 895 88-0
www.absv.de
Kirchliche Einrichtungen
Evangelischer Blindendienst
Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte,
Holwedestraße 11, 13507 Berlin
www.blindendienst-berlin.de/
Katholischer Blindenverein für die Erzdiözese Berlin,
Misdroyer Straße 21, 14199 Berlin
www.blindenwerk.de
Wohnen und Pflege im Alter
Möglichkeit zum „Probewohnen“ in den Blindenwohnstätten des ABSV in Weißensee und Spandau, nähere Informationen über den ABSV
Tel. 895 88-0.
www.blindenwohnstaetten.de
Privatstiftung
Blindenwohnstätte Kniesehaus,
Stindestraße 25, 12167 Berlin-Steglitz,
Tel. 72 01 15-0
www.kniesehaus.de
Umzugsservice
Eine Spezialisierung auf die Bedürfnisse Blinder und Sehbehinderter beim Umzug bietet die Firma: SUS Berlin, Kottbusser Damm 79 A, 10967 Berlin,
Tel. 61 20 96 16
www.senioren-umzugs-service.de
Zuschüsse bei Umbauten/Wohnförderprogramm
KfW-Bankengruppe
Charlottenstraße 33/33 a, 10117 Berlin
Tel. 202 640
www.kfw.de, Suchwort „Altersgerecht Umbauen“
MieterMagazin 6/10
Eine klare Möbelanordnung …
… und spezielle Leitsysteme schaffen für Sehbehinderte Orientierung
Fotos: DBSV/Spiker
Kleine Hilfsmittel erleichtern alltägliche Verrichtungen: Uhr und Telefon mit tastbaren Markierungen
Fotos: DBSV/Spiker
Den Umgang mit Verletzungsgefahren kann man üben – wo Übung nichts nützt, gibt es Hilfsmittel (oben: Farblesegerät für Garderobe)
Fotos: DBSV/Andreas Friese
24.01.2023