Das Schreckgespenst für den kleinkarierten Spießer ist der (oder die) „Asoziale“ – ein beliebtes Schimpfwort der Nachkriegszeit, in der man auf Sauberkeit, Fleiß und normgerechtes Verhalten hielt. „Asoziale“ hingegen verkörpern all das, was Unruhe in diese sittsame Ordnung bringen könnte: Arbeitsscheu, Schmutz, Trunkenheit, Randale. Der Begriff wird auch gerne auf Angehörige anderer Kulturkreise und Menschen anderer Hautfarben angewendet, denn ihre Andersartigkeit ist schon allein Normbruch, selbst wenn ihr Verhalten tadellos ist: „Asoziale Ausländer“ – die Alliteration perlt so schön auf der Zunge mancher Zeitgenossen. Vermieterin Erna Rieger* aus Neukölln entrüstete sich darüber, dass ihr Mieter Cüneyt Cengiz* seine Zigarettenkippen regelmäßig im Treppenhaus und Hinterhof mit dem Absatz ausmachte und liegen ließ. Und dann das ungestüme Türenwerfen seines pubertierenden Sohnes Ahmet – ein ständiges Ärgernis, da fällt ja der Putz von der Wand! Also mahnte sie Familie Cengiz schriftlich ab, sich „einer normalen westeuropäischen Verhaltensweise“ zu befleißigen, berief sich darauf, dass ihr Klagen mehrerer Nachbarn über sein „defektes asoziales“ Verhalten vorlägen und drohte mit Kündigung. Mieter Cengiz sah sich angesichts der Äußerungen im Vermieterschreiben beleidigt und klagte wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts. Wie hätten Sie entschieden?
Der Mieter erhielt vor dem Berliner Landgericht Recht: Er hat Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes wegen Verletzung seiner im Grundgesetz verankerten Menschenwürde. Die Vertragsverletzungen stünden in keinerlei Verhältnis zu den rassistischen und beleidigenden Äußerungen, die seine Herkunft in direkten Zusammenhang zu seinem vertragswidrigen Verhalten setzen.
Elke Koepping
LG Berlin vom 6.10.2009 – 65 S 121/09 –
* Name von der Redaktion geändert
MieterMagazin 6/12
Illustration:
Julia Gandras
19.03.2013