Die seit 1. Mai geltenden neuen Mietrichtwerte für Bezieher von Arbeitslosengeld (ALG) II haben die Situation der Betroffenen kaum verbessert. Auch nach der Erhöhung überschreitet fast ein Viertel der Mieten die vom Jobcenter übernommenen Höchstgrenzen. Das ergibt eine vom Berliner Mieterverein (BMV) vorgelegte Studie. Insgesamt, so heißt es beim BMV, sei das Senatskonzept nicht schlüssig und treibe die Spaltung der Stadt in Arm und Reich weiter voran.
Nachdem der Senat Anfang April die neue Wohnaufwendungsverordnung (WAV) vorgelegt hatte, waren sich Sozialverbände und Mieterorganisationen schnell einig: Die neuen Richtwerte sind unzureichend und hinken der Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt hoffnungslos hinterher.
Beim Berliner Mieterverein (BMV) wollte man es genauer wissen und gab beim Forschungsinstitut „Topos“ eine repräsentative Studie in Auftrag. Auf der Basis von 954 Datensätzen aus den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Mitte, Neukölln und Pankow wurde die Wohn- und Mietsituation von Hartz-IV-Empfängern untersucht. Das Ergebnis: 31 Prozent der Bedarfsgemeinschaften liegen über den geltenden Mittelwerten, 25,8 Prozent sogar über den Höchstwerten. Dazu muss man wissen, dass es nach der neuen Regelung keine einheitlichen Miethöchstwerte mehr gibt, sondern die Werte nach Heizungsart und Gebäudegröße gestaffelt sind.
Hochgerechnet auf die insgesamt rund 320.000 Bedarfsgemeinschaften in Berlin bedeutet dies, dass etwa 95.000 Haushalte über den festgelegten Mittelwerten liegen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass bei bestimmten Härtegründen wie Krankheit, langer Wohndauer oder Schwangerschaft die Richtwerte um 10 Prozent überschritten werden dürfen, zahlen immerhin noch 72.000 oder 23,3 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften zu hohe Mieten. Dazu kommen noch rund 9000 ALG-II-Haushalte, die mit ihrer Miete zwar innerhalb der Angemessenheitsgrenze liegen, die aber überhöhte Quadratmeterpreise zahlen. Auch dazu hat die WAV bestimmte Kappungsgrenzen festgelegt. Somit zahlen in den untersuchten innerstädtischen Quartieren 26,3 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften Mieten, die über den Richtwerten liegen. Unter Berücksichtigung eines Abzugs wegen der überdurchschnittlich hohen Mieten in der Innenstadt ergibt sich nach der Topos-Studie folgendes Ergebnis: etwa 70 000 oder 23,3 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften in Berlin haben eine Miete, die vom Jobcenter nicht akzeptiert wird.
Keine nennenswerte Verbesserung
Gegenüber der alten „Ausführungsvorschrift Wohnen“ ist das nur eine geringfügige Verbesserung. Ende 2011 lagen nach Angaben der Senatsverwaltung für Soziales 32,2 Prozent der Hartz-IV-Haushalte über den damals gültigen Richtwerten. Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie einen Teil der Miete aus eigener Tasche zahlen müssen – und sich dabei nicht selten verschulden – oder vom Amt zum Umzug aufgefordert werden. „Die Sparpolitik des Berliner Senats wird auf dem Rücken der wirtschaftlich Schwächsten ausgetragen“, kommentierte BMV-Geschäftsführer Reiner Wild die neue Rechtsverordnung.
Nun stellt sich die Frage, wie Sozialsenator Mario Czaja (CDU) die neuen Richtwerte ermittelt hat. Beim Berliner Mieterverein hält man die verwendete Datengrundlage aus mehreren Gründen für unzureichend. Zwar sei die Bezugnahme auf den Mietspiegel grundsätzlich korrekt. Dass jedoch weder die Mieten aus dem Sozialen Wohnungsbau noch aktuelle Angebotsmieten oder die Miethöhen nach Modernisierung berücksichtigt wurden, sei nicht nachvollziehbar. Zudem sind die Mietspiegeldaten durch die zeitliche Verzögerung bereits veraltet und geben die explosionsartig angestiegenen Mieten der letzten Jahre nicht wieder. Noch entscheidender aber ist, dass ausschließlich die „einfache Wohnlage“ gemäß Mietspiegel berücksichtigt wurde. Das entspricht nicht der gesetzlichen Vorgabe, die auf „einfachen Standard“ abhebt, kritisiert BMV-Geschäftsführer Wild: „ALG-II-Bezieher wohnen auch in mittlerer und vereinzelt auch in guter Wohnlage, die Wohnsituation wird daher nicht schlüssig abgebildet.“ Dazu kommt, dass gerade in einfacher Wohnlage nicht ausreichend Wohnraum für bedürftige Haushalte zur Verfügung steht, wie es auch in einer gemeinsamen Erklärung vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) und der Landesarmutskonferenz Berlin heißt.
Deutlich höherer Verwaltungsaufwand
Sigmar Gude von Topos hat ausgerechnet, dass nach dieser Logik fast zwei von drei Wohnungen unter 50 Quadratmetern von Hartz-IV-Empfängern belegt sein müssten. Insgesamt gibt es nämlich nur 323.000 solcher Wohnungen in Berlin, aber rund 250.000 Bedarfsgemeinschaften aus ein oder zwei Personen. „Es ist absolut lebensfremd zu glauben, dass die Wohnungen in dieser Größe Hartz-IV-Empfängern in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen“, so Gude. Schließlich gibt es auch noch Studenten, Rentner und andere Einkommensschwache, die in dieses Segment drängen.
Auch die angesetzten Heizkosten hält man beim Mieterverein für wenig realistisch: „Es wurde auf Pauschalwerte abgestellt, die nicht regional erhoben sind und die keinerlei Contracting-Kosten enthalten“, bemängelt Reiner Wild. Sein Fazit: Die neue Verordnung sei nicht rechtssicher und nötige den Jobcentern komplizierte und langwierige Antragsbearbeitungen auf. Das ist besonders absurd, weil die bisherige „AV Wohnen“ auch deshalb durch eine neue Rechtsverordnung abgelöst werden sollte, um die Rechtsicherheit zu erhöhen und die Klageflut beim Sozialgericht einzudämmen.
Beim BMV fordert man daher eine Erhöhung der Richtwerte. Zudem soll es für ALG-II-Bezieher, die – aus welchen Gründen auch immer – umziehen müssen, einen Zuschlag geben. Angesichts dramatisch gestiegener Neuvertragsmieten hätten sie sonst keinerlei Chancen, eine Wohnung zu finden. Nicht zuletzt will der Berliner Mieterverein verhindern, dass Hartz-IV-Haushalte wegen einer energetischen Modernisierung umziehen müssen. Daher soll es außerdem einen Klimabonus geben. Je höher die Energieeinsparung, desto höher der Bonus, der den Betroffenen zugestanden wird. Für ein solches Sofortprogramm wären Mehrkosten in Höhe von schätzungsweise 25 Millionen Euro fällig – es wären aber auch deutlich weniger Kosten für die Unterbringung von Wohnungslosen erforderlich.
Birgit Leiß
Wohnungsversorgung im Vergleich
Hartz IV-Haushalte wohnen schlechter als der Durchschnitt der Bevölkerung, hat die Topos-Studie herausgefunden. Sie haben weniger Fläche zur Verfügung und ihre Wohnungen sind schlechter ausgestattet. „Der Zwang zum Sparen hat dazu geführt, dass deutlich mehr Haushalte als in der übrigen Bevölkerung in überbelegten Wohnungen leben müssen“, bewertet Sigmar Gude von Topos die Ergebnisse.
Gravierend überbelegt wohnen circa 16.000 ALG-II-Haushalte. Das sind fast ausschließlich Familien, in denen dann die Kinder entweder keinen eigenen Raum haben oder sich drei Kinder einen Raum teilen müssen. Die Miete ist bei gleicher Ausstattungsqualität etwas geringer als im Durchschnitt. Gude dazu: „Diese Familien sind offensichtlich bemüht, eine möglichst billige Wohnung anzumieten, wenn es möglich ist.“ Die warmen Betriebskosten sind dagegen etwas höher. Das kann am höheren Verbrauch – Arbeitslose sind häufiger zu Hause – oder am schlechteren Zustand des Hauses liegen.
bl
MieterMagazin 6/12
Protestveranstaltung des Arbeitslosen-
verbandes mit dem Berliner Mieterverein Anfang Mai vor dem Jobcenter
Foto: Christian Muhrbeck
30.03.2013