Das Berlin des 21. Jahrhunderts hat eine Frage. „Wie wollt Ihr hier leben?“ will es wissen. Nur kann es kaum jemand hören. Eine Stadt spricht nicht. Sie braucht Freiwillige, die ihr eine Stimme leihen. Aber davon gibt es nicht viele. Einer der wenigen ist Aljoscha Hofmann, ein Architekt, der mit Cordelia Polinna, Professorin für Architektursoziologie, und zwei weiteren Kolleginnen die Initiative „think Berl!n“ gegründet hat. Als er sich 2011 vor der Senatswahl die Wahlprogramme anschaute, musste er feststellen, dass es dort kaum Ideen zur Stadtentwicklung gab. „Eine gewisse Visionslosigkeit“, sagt er, habe er wahrgenommen. Es entstand die Idee, den Visionen auf die Sprünge zu helfen.
Kürzlich rief „think Berl!n“ eine Veranstaltungsreihe aus, die Wissenschaftler mit Politikern zusammenbringen will, um einen Dialog der Ideen anzustiften. Unter dem Motto „Stadtpolitik trifft Stadtforschung“ versammelten sich Vertreter der Fraktionen aus dem Berliner Abgeordnetenhaus und Wissenschaftler der Technischen Universität (TU) zum Gedankenaustausch. Die erste Erkenntnis des Abends: Das Thema interessiert – der Vorlesungssaal war mit knapp 250 Zuhörern gut besetzt. Die zweite Erkenntnis: Berlin hat keinen Masterplan, wie es ihn etwa in London gibt. Und auch kaum Pläne für einen Plan.
Und deshalb gehen die Wissenschaftler in die Offensive. In kurzen Vorträgen skizzieren sie ein Berlin, das sich seiner Zukunft stellt. Sie sprechen von der Hauptstadt der Energiewende. „Berlin könnte beispielgebend werden“, sagt da etwa Harald Bodenschatz vom Center for Metropolitan Studies der TU. Und sie schwärmen von vernetztem Denken, von einem, das den Stadtumbau als Gesamtentwicklung sieht, nicht als eines, das aus voneinander isolierten Großprojekten besteht. Sie fordern einen neuen Stadtentwicklungsplan, der im öffentlichen Dialog entwickelt werden soll und eine Bauausstellung, die Berlin wieder zur Hauptstadt der Bauausstellungen machen wird.
Dabei haben sie nicht nur Visionen eines modernen Berlin, sie haben auch eine Idee, wie diese umgesetzt werden könnten. Eine „urban task force“ soll her, eine Arbeitsgruppe, die „bezirks- und senatsübergreifend“, wie Cordelia Polinna es beschreibt, „Experten an einen Tisch bringt“ – als Plattform, die es versteht, schwierige Stadtgebiete zukunftsfähig umzubauen. Die Politiker aber, sie wollen an diesem Abend nicht mitgehen.
„Zu ambitioniert“
Als größter Visionär tut sich da noch Ephraim Gothe (SPD) hervor, Staatssekretär in der Stadtentwicklungsverwaltung. Er spricht von einem Gesamtentwicklungskonzept 2030, das bis 2016 vorliegen soll, mit dem Thema Wohnen als „besonderer Priorität“. Ein Konzept. Kein Plan.
Für diesen Blick nach vorn wird er von der wohnungspolitischen Sprecherin der Linken, Katrin Lompscher, gleich gerügt. Berlin sei viel zu arm. Man solle sich auf die wichtigsten Themen konzentrieren: Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt.
Ähnliche Einwände formuliert auch Antje Kapert von den Grünen. Finanziell wie personell habe Schwarz-Rot viel zu wenig Ressourcen für seine Pläne, sagt sie. Sie vertraut eher den Ressourcen der Berliner: Lebendigkeit und Kreativität. „Berliner wollen immer mitreden, wo die Reise hingeht“, meint sie. Mehr Bürgerbeteiligung also. Wie und wobei bleibt offen.
Die Gefahr kommt nicht von der Opposition an diesem Abend, sondern von den Wissenschaftlern. Sie haben Wissen und Visionen und eine Idee, wie Berlin von beidem profitieren kann: die erwähnte“urban task force“.
Doch der Politiker Ephraim Gothe hält eine Absage für die Wissenschaft bereit. „Ein reizvoller Gedanke“, sagt er, „aber nicht zu machen.“ Man habe genügend eigene gute Leute. Das ist zwar noch keine Vision, aber doch eine wichtige Voraussetzung dafür.
Wiebke Schönherr
MieterMagazin 6/12
Wer sitzt am Tisch, wenn über die Berliner Stadtentwicklung der Zukunft entschieden wird? (hier: Flughafen Tegel)
Foto: Paul Glaser
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Das Modell London
In den nächsten 20 Jahren soll London um eine Million Menschen wachsen. Der Stadtumbau hat daher hohe Priorität in Englands Hauptstadt. Seit 2001 werden Stadtentwicklungsprojekte von einem Team aus Fachleuten gesteuert, das der Greater London Authority (GLA), Londons Stadtverwaltung, angehört. Es heißt Design for London und wird von vielen Experten als europaweit vorbildhaft bezeichnet. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Stadtbezirke und lokalen Initiativen bei ihren Ideen zur Stadtentwicklung finanziell und inhaltlich zu unterstützen. Gleichzeitig will Design for London sicherstellen, dass, nach den Vorgaben der GLA, klimaschonend und sozial integrativ gebaut wird.
ws
30.03.2013