Wer wissen will, wie hoch die Zahl der Obdachlosen in Berlin ist, muss sich mit diversen Schätzungen zufrieden geben. Der Arbeitskreis Wohnungsnot, die Landesarmutskonferenz und andere Institutionen und Verbände fordern seit Jahren eine entsprechende Statistik – bisher erfolglos.
Verlässliche Zahlen sind die Grundlage jeder sinnvollen Planung. Der Berliner Senat operiert seit über zehn Jahren mit einer Zahl von 2000 bis 4000 Obdachlosen in Berlin – ohne sagen zu können, wie er auf diese Zahl kommt. Einige Hilfsverbände, die tagtäglich mit der Problematik konfrontiert sind, gehen von rund 8000 Obdachlosen aus. Fachleute erwarten bis 2015 einen Anstieg der Obdachlosigkeit um bis zu 15 Prozent. Ursachen sind steigende Mietpreise und zunehmende Armut.
Thomas Specht von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist sich sicher, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung keine Zahlen haben will, damit sie das Problem leichter unter den Teppich kehren kann. Dabei könnte man den Einsatz der ohnehin immer knapper werdenden Mittel mit Hilfe verlässlicher Daten genauer steuern und den Betroffenen besser helfen, zumal es für die Träger der Obdachlosenunterkünfte zunehmend schwieriger wird, zusätzliche Wohnungen zu akquirieren.
Die Bundesregierung und auch die Berliner Landesregierung verschanzen sich hinter dem „erheblichen finanziellen und bürokratischen Aufwand“ der Datenerfassung. In der Tat sind noch nicht einmal die Begrifflichkeiten eindeutig definiert. Nach wie vor wird unterschieden zwischen Obdachlosen und Wohnungslosen. Erstere sind gezwungen, ohne feste Unterkunft auf der Straße zu überleben. Sie beantragen oftmals keine Unterstützung – bedingt durch Unkenntnis, schlechte Erfahrungen mit den Ämtern, Schulden oder Angst vor drohender Strafverfolgung. Wohnungslose wiederum werden im Rahmen der Möglichkeiten von den zuständigen Ämtern vorübergehend mit Wohnraum versorgt, nachdem sie diesen durch Räumung wegen Mietschulden verloren haben.
Die Zahl der gemeldeten Wohnungslosen wird von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales auf der Basis der Meldungen der Bezirksämter erfasst. An Spekulationen zur Zahl der Obdachlosen will sich Regina Kneiding, stellvertretende Pressesprecherin der Senatsverwaltung, aber nicht beteiligen. Möglichkeiten einer zahlenmäßigen Erfassung sieht sie für die Obdachlosen nicht.
Antje Gühne, Sprecherin der „Gebewo Soziale Dienste“, die die Kältehilfe der freien Träger in Berlin koordiniert, verlangt Zahlen und Informationen: „Eine Wohnungsnotfallstatistik könnte auch Zwangsräumungen, prekäre Wohnverhältnisse, Überbelegungen und ähnliches erfassen.“ Eine solche Statistik gibt es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen. Warum also nicht in Berlin?
Rainer Bratfisch
MieterMagazin 6/13
Wohnungslose werden erfasst, Obdachlose nicht
Foto: Daniel Schaub
30.06.2013