Ihre ersten zehn Kindheitsjahre verlebte Sigrid Lange Anfang der 30er fern vom Großstadttrubel in einer kleinen Straße in Tegel. Die Weite und das Grün der nördlichen Randbezirke Berlins haben sie bis heute so stark geprägt, dass eine Innenstadtwohnung für sie nach wie vor unvorstellbar ist.
„Als ich 1927 geboren wurde, da war Groß-Berlin gerade erst sieben Jahre alt. Meine Mutter war eine richtige Berlinerin und weil sie Tegel doof fand, ist sie mit mir in den Wedding gefahren, ins Entbindungsheim der Heilsarmee, damit ich in Berlin zur Welt komme!“ Weit ist sie von Tegel eigentlich bis heute nicht weggekommen: Sigrid Lange lebt jetzt schon ein halbes Jahrhundert in Hermsdorf, wo sie zusammen mit ihrem Mann 1957 ein kleines Einfamilienhaus gekauft hat. Ob die Mutter es ihr nachtragen würde, dass sie immer noch keine „richtige“ Berlinerin geworden ist? „Ich bin sehr gern zu Besuch in der Stadt. Ich fand auch die Wohnungen immer irre schick. Aber das ist mir zu eng, die vielen Menschen dort.“
Die Schlieperstraße in Tegel, in der sie aufgewachsen ist, ist in östlicher Richtung auf dem Teilstück zwischen Berliner Straße und den S-Bahngleisen vom Krieg verschont geblieben. Sigrid Lange erinnert sich nach wie vor gut an ihre Straße: „Bei uns unten im Haus war ein Gebrauchtwarenladen. Da wurde Kleidung verkauft, Betten, Wäsche. Unter anderem hatte meine Mutter da auch einen Satz Federbetten her. Na, im Anschluss hatten wir alle Wanzen … Richtung Bahndamm war Frau Klage mit ihrem Kolonialwarenladen und auf der anderen Hälfte unseres Hauses 79 II war die Bäckerei Fellmann. Vis-a-vis war die Wäscherei von Frau Graff, die betrieb sie mit ihren beiden Töchtern. Das fand ich immer sehr aufregend, denn die hatten vor dem Laden so große Stellagen aus Holz, da wurden die Gardinen drauf getrocknet.“ In westlicher Richtung führt die Straße direkt auf den See zu, dort lag die Schule von Sigrid Lange, in der Treskowstraße. Doch die Verführung, im Sommer heimliche Solo-Ausflüge an den See zu unternehmen, hielt sich in Grenzen. „Für Kinderstreiche hatte ich überhaupt kein Verständnis. Ich war ein sehr ernsthaftes Kind.“
Sonntagsausflug zum See
Der See war aber häufiges Ziel gemeinsamer Sonntagsausflüge mit Bruder Karl-Heinz, Mutter Charlotte und Vater Ewald Näumann. Da gab es eine große Buddelkiste für die kleine Sigrid, in der Nähe des Pavillons am Hafen, wo sich heute noch ein Kinderspielplatz befindet. Nur dass die Backförmchen, Schäufelchen und Eimerchen damals aus Blech waren. Die Restaurants am See, die sich dort befanden, wo heute eine etwas unschöne Wohnbebauung in Beton steht, wie zum Beispiel das „Tusculum“, das auch den Pavillon bewirtschaftete, waren für den Familienausflug jedoch zu teuer, so ging man in die kleineren Ausflugslokale auf der anderen Uferseite, die draußen Schilder hatten: „Hier können Familien Kaffee kochen!“ Man brachte seinen Kaffee mit ebenso wie den selbstgebackenen Kuchen und konnte dann gegen eine geringe Gebühr den Kaffee vor Ort aufbrühen lassen und Geschirr entleihen. Auch in späteren Jahren noch, als Sigrid Lange längst selbst einen kleinen Sohn hatte, ist sie von Hermsdorf immer wieder zum See nach Tegel rübergefahren.
Die alte Eiche hieß „Dicke Marie“
„Ich bin auch immer gerne durch den Schlosspark gegangen, dann hinten rum zur ,Dicken Marie‘, der alten Eiche.“
Die Ehe der Eltern hielt nicht lange, Vater Ewald war bereits der zweite Ehemann von Mutter Charlotte, die äußerst temperamentvoll war, wie sich Sigrid Lange erinnert. „Sie war herzensgut, fleißig und auch sparsam, und sie hat für uns das letzte Hemd ausgezogen, aber wir mussten kuschen!“ Vater Ewald trank, was zu häufigem Streit im Hause Näumann führte, so dass der Vater ging, als Sigrid gerade einmal sechs Jahre alt war. „Das weiß ich noch wie heute, wenn die sich gestritten haben. Mein Vater schrie: ,Ich kämpfe bis aufs Messer um meine Freiheit!‘ und ich dachte mir, jetzt geht er in die Küche und holt das große Messer …“. Die Mutter heiratete insgesamt sechs Mal in ihrem Leben.
Um die Familie Mitte der 30er Jahre über die Runden zu bringen, nahm Mutter Charlotte Pflegejungen im Alter von Bruder Karl-Heinz aus dem „Grünen Haus“ in Tegel auf, einem Kinderheim. „Sie ist nicht arbeiten gegangen, weil ich noch so klein war. Sie bekam ja auch für meinen Bruder aus erster Ehe und mich Unterhalt, davon haben wir dann gelebt. Am Wochenende ging sie ins Tusculum als Klofrau, für 55 Pfennig die Stunde. Da hat sie nicht drüber geredet, denn so was machte man ja nicht.“
Die Wohnung war verhältnismäßig geräumig, wie sich Sigrid Lange erinnert. „Meine Mutter und ich schliefen im Wohnzimmer, mein Bruder in der Mädchenkammer und die anderen beiden im ehemaligen Elternschlafzimmer. Zwischendurch hat sie Schuhe vom Untermieter auch an zwei Herren vermietet – Ingenieure auf Wohnungssuche. Das war die halbe Miete für uns.“ An die beiden Untermieter hat Frau Lange gute Erinnerungen. „Die waren auch so ein bisschen Familie.“ Sigrid Lange wurde zu der Zeit gerade eingeschult. „Es wurde Winter und ich hatte keine Schuhe. Geld gab’s nicht. Da ist der eine der Herren Ingenieure mit mir einkaufen gegangen. Der hat mir ein Paar Stiefel gekauft für zwölf Mark. Dann hab‘ ich ihm erzählt, dass meine Mama bald Geburtstag hat und da sagte er: ,Ach, willste ihr nicht was schenken?‘ Und ich hab‘ ihr eine Sammeltasse gekauft für 1,25. Die habe ich heute noch.“
Auch war es Tradition in der Familie, dass die Mädchen Klavier spielen lernten, Sigrid Lange ging später sogar aufs Konservatorium, aber nicht, um Konzertpianistin zu werden, sondern weil es einfach zum guten Ton gehörte. „Meine Mutter spielte sehr gut Klavier“, erinnert sie sich. Da gab es dann auch das eine oder andere Mal Hausmusik. „Einer von den Pensionsgästen war ein fabelhafter Tenor, da wurde natürlich musiziert auf Teufel-komm-raus.“ Später, als die Untermieter längst ihre eigenen Wohnungen gefunden hatten, hielt man noch Kontakt, „da kamen deren Frauen auch mal zu Besuch.“
Im Jahr 1935 zog die Mutter in eine größere Wohnung, nicht weit entfernt in der Egellsstraße, auch wegen der Pflegekinder. An die Schlieperstraße hat Sigrid Lange allerdings die schönsten Kindheitserinnerungen, auch wenn sie ein Mensch ist, der völlig im Hier und Jetzt lebt. „Das ist eben vorbei, was soll’s! Aber ob das nun gute oder schlechte Sachen waren, ich möchte nichts missen und ich vergesse auch nichts!“
Elke Koepping
MieterMagazin 7+8/06
Sigrid Lange heute – an der Sechserbrücke am Tegeler See
Foto: Elke Koepping
Ausflug an die Sechserbrücke am Tegeler See 1933: hinten Vater Ewald Näumann, vorn Mutter Charlotte, die kleine Sigrid und Bruder Karl-Heinz
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‚Telefonfräulein‘ Sigrid Lange als Model für eine DeTeWe-Werbekampagne im Jahr 1953
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In der Schlieperstraße in Tegel ist Sigrid Lange aufgewachsen
Foto: Elke Koepping
Die heute 79-jährige Sigrid Lange kam durch eine Freundin zur Geschichtswerkstatt des Heimatmuseums Reinickendorf und trug mit ihren Erinnerungen zum Band „Berliner Schnitzel und andere Geschichten zur Geschichte Reinickendorfs 1930-1965“ bei.
Untermieter im Wandel der Zeiten
In den Jahren zwischen den Weltkriegen waren Untervermietungen in Berlin nicht ungewöhnlich. „Untermietverhältnisse sind auch heute zahlreich. Dabei hat sich allerdings das äußere Erscheinungsbild nahezu völlig verändert“, führt Dr. Peter Finger in „Wohnungswirtschaft und Mietrecht“ im Jahr 1985 aus. Die „Fallgestaltung“ des § 549 BGB „allein stehender möblierter Herr mit Zimmerwirtin“ habe sich so weitgehend erledigt (WuM 1985, 71). Heute sind studentische Wohngemeinschaften wohl eher die Regel. Neben dem Heer allein stehender, kleinerer Angestellter, die sich keine eigene Wohnung leisten konnten, waren es Anfang der 30er vor allem auch Arbeitslose, die zur Untermiete wohnten und allein stehende Frauen ohne eigenes Einkommen, die Zimmer ihrer Wohnung vermieteten: 1932 lag die Arbeitslosigkeit bei 44,4 Prozent.
ek
29.07.2013